Kopflos am Aasee. Christoph Güsken
wenn du auch nur ein bisschen davon verstehen würdest, dann wäre dir klar, dass ein Profiler nur arbeiten kann, wenn er alles …«
Bühlow hob die Hand, als sein Handy klingelte, was de Jong verstummen ließ. Der Hauptkommissar stellte die Verbindung her. »Ja? – Was? Also gut, na endlich. Wir sind gleich da.«
»Neuigkeiten?«, erkundigte sich de Jong, als das Handy wieder auf dem Tisch lag.
»Allerdings.« Bühlow, auf einmal tatendurstig, schlürfte einen letzten Schluck Kaffee aus seiner Tasse, während er sich schon erhob. »Es hat sich eine Augenzeugin gemeldet.«
Die Dame hieß Irmgard Lohengrin, eine 65-jährige Frau mit sehr dunkel gefärbtem, aufgeföhntem Haar, die mit beiden Händen eine Handtasche aus falschem Krokodilleder umklammert hielt. Hauptkommissar Bühlow, der es leid war, Kompetenzdebatten zu führen, hatte schließlich zähneknirschend akzeptiert, dass de Jong als vertraglich bestellte Honorarkraft an der Ermittlung teilnahm.
Bühlow führte die Zeugin in einen Vernehmungsraum, in dem ein blanker Tisch von mehreren Stühlen umstanden wurde, bot ihr einen davon an und nahm gegenüber Platz. De Jong setzte sich neben ihn.
»Sie haben den Mord an Herrn Nöck beobachtet?«
»Na ja, ich konnte wohl nicht anders. Der Mann stand ja praktisch direkt vor mir.«
»Es war also ein Mann?«
Energisches Nicken. »Ich vermute es.«
Bühlow stutzte. »Sie vermuten es nur?«
»Ganz genau. Weil ich mir nämlich sicher bin, dass es keine Frau war.«
»Aber wenn es keine Frau war, muss es dann nicht ein Mann gewesen sein?«
Frau Lohengrin spitzte die Lippen. »Das sagen Sie.«
»Also gut«, sagte der Hauptkommissar. »Schildern Sie erst mal, was sich zugetragen hat.«
»Ich bin da jeden Abend um dieselbe Zeit. Mitternacht. Weil McCartney dann immer eine Runde drehen muss.«
»McCartney? Paul McCartney?«
»Ach, Quatsch.« Die Dame schnaufte verächtlich. »Mein Hund heißt so.«
»Verstehe.«
»Ein Jack Russel.«
»Also, was jetzt?« Bühlow schüttelte verwirrt und genervt den Kopf. »Sagten Sie nicht gerade eben, der Hund heißt McCartney?«
»Jack Russel«, raunte de Jong seinem Nebenmann zu. »Das ist zwar ein Name, aber auch eine Hunderasse.«
Bühlow holte geräuschvoll Luft und schüttelte den Kopf, als könnte er es nicht leiden, wenn man sich auf seine Kosten amüsierte, was ja gar nicht der Fall war. Offenbar war heute nicht sein Tag. De Jong wollte ihm schon die Hand auf den Arm legen, um ihn zu erden, ließ es aber sein.
Frau Lohengrin legte noch einen drauf. »Ich sage Ihnen gleich, dass das kein Mann war. Im eigentlichen Sinne.«
Bühlow seufzte noch lauter. »Was denn sonst?«
»Ein Teufel, würde ich sagen.«
»Ein Teufel.«
»Ja. Ganz genau.«
Ein angespannter Moment verging, den Bühlow brauchte, um sich im Griff zu haben. »Also gut, was hat denn der Teufel getan?«
»Er kam mit dem Fahrrad. Das hat er an einen Baum gelehnt.« Die Frau schüttelte den Kopf, ihr Blick war in die Ferne gerichtet, auf die Erinnerung, die sie erneut gruseln ließ. »Er hat es sogar abgeschlossen. Mit einem Zahlenschloss, glaube ich. Aber die Kombination konnte ich natürlich nicht sehen, dazu war ich zu weit …«
»Also gut. Was hat er dann gemacht?«
»Er hat sich versteckt. Unter dieser Brücke. Da ist es ja stockfinster. Ich hab ihn dann gar nicht mehr gesehen. Hab mir gedacht, wo ist er wohl hin?«
»Sie haben ihn also aus den Augen verloren?«
»Ja, für eine Weile. Wie gesagt, ich hab mir so in etwa gedacht: ein seltsamer Kerl, aber jetzt ist er weg. Also was soll’s? Hier draußen am See sieht man oft seltsame Typen.« Sie beugte sich vor. »Im Sommer, wissen Sie, als es in der Nacht noch richtig warm war, da hab ich ein Pärchen gesehen, ein Mann und eine Frau, die waren noch nicht mal zwanzig, kamen aus dem See, splitternackt. Und dann …«
»Sehr schön, aber bleiben wir doch bitte bei dem Mann unter der Brücke.« Bühlows genervte Stimme hatte jetzt einen maßregelnden Unterton. »Er stand also unter der Brücke?«
»Hören Sie«, sagte die Frau pikiert, die es offenbar nicht schätzte, wegen ihrer abschweifenden Erzählweise getadelt zu werden. »Ich muss das nicht sagen, oder? Ich habe schließlich nichts verbrochen. Also können Sie mich nicht zwingen. Und wenn Sie sich nicht für das interessieren, was ich zu sagen habe …«
»Trotzdem sind Sie verpflichtet zu antworten«, beharrte Bühlow scharf. »Wenn Sie sich weigern, behindern Sie eine Mordermittlung, und das ist sehr wohl strafbar.«
Er wartete. Aber der juristische Hinweis zur Sache hatte nicht den erhofften Erfolg, im Gegenteil. Frau Lohengrin presste trotzig ihre rot bemalten Lippen zusammen und schwieg.
»Frau Lohengrin …«
De Jong übernahm: »Wissen Sie, was ich mal am Aasee erlebt habe: Da ist direkt vor mir ein U-Boot aufgetaucht. Mitten in der Nacht. Ich habe gedacht, ich sehe nicht richtig. Aber das ist jetzt schon länger her. Ich glaube, das war gerade zur Zeit der Kubakrise. Da konnte man so was wirklich nicht komisch finden.« Er lächelte.
Und sie lächelte zurück. »Sie wollen mich auf den Arm nehmen, Herr Kommissar.«
»Exkommissar«, sagte er. »Ein bisschen vielleicht. Aber wenn Sie uns von dem Kerl erzählen, der vielleicht ein Mann war, wären wir Ihnen sehr dankbar.«
»Er kam unter der Brücke hervor und ist zu einem anderen Mann gegangen. Dass er ein berühmter Autor ist, habe ich nicht gewusst.«
»Herr Nöck. Und weiter?«
»Der andere …«
»Der Teufel.«
»Er zog ein Schwert und hielt es hoch – so.« Frau Lohengrins rechte Hand ließ die Handtasche los. Sie reckte den Arm empor.
»Und was machte Herr Nöck?«
»Er stand einfach da. Ich hab mich gefragt, was läuft denn da ab? Wissen Sie, ich glaube, Herr Nöck hatte keine Ahnung, was der Kerl vorhatte. Oder er hatte Tomaten auf den Augen. Er hätte ja wegrennen können. Stattdessen blieb er seelenruhig stehen und hat irgendwas zu diesem Monster gesagt. Und dann hat ihm das Monster den Kopf abgeschlagen. Einfach so.«
»Können Sie den Mann beschreiben?«, fragte Bühlow. »Den mit dem Schwert.«
»Das Monster«, präzisierte de Jong.
»Ja. Er hatte keinen Kopf.«
»Das ist unmöglich«, korrigierte Bühlow, definitiv am Ende seiner Geduld. »Jeder Mensch hat einen Kopf.«
Was war heute nur mit ihm los?
»Was geschah dann?«, fragte de Jong.
»Also, Sie werden das nicht glauben«, sagte Frau Lohengrin. »Ich hab nachgedacht und dann fiel mir ein, dass bald Halloween ist. Ich konnte das Fest noch nie leiden.«
»Ja, und?«
»Halloween, verstehen Sie? Geister, Totenköpfe, kopflose Leute. Alles Verkleidung. Also falscher Alarm. Aber dann …« Ihr Blick verfinsterte sich erneut.
»Was dann?«
»Dann habe ich von der Brücke aus gesehen, wie der Kopflose zurück zu seinem Fahrrad ging. Und wie er etwas, das in ein Tuch gewickelt war,