Doggerland. Elisabeth Filhol

Doggerland - Elisabeth Filhol


Скачать книгу
allen Szenarien, über die man sich bei den verschiedenen Diensten, von kleinen Abweichungen abgesehen, einig ist, wird das Worst-Case-Szenario in nicht mal einer Stunde das Rennen machen, das imponierendste von allen, wegen der maximalen Energieübertragung durch den über Xaver hinwegziehenden Jetstream, der die Konvektion zusätzlich verstärkt, seine Rotationsgeschwindigkeit um ein Vielfaches beschleunigt und das Sturmtief im Handumdrehen in eine meteorologische Bombe verwandelt. Überall bei den staatlichen Wetterdiensten in Nord- und Westeuropa werden Meteorologen und IT-Experten an ihre Arbeitsplätze beordert. Sie stehen untereinander in engem Kontakt, haben einen direkten Draht zu den Behörden und zum Katastrophenschutz, denn was sich da aufbaut, ist gigantisch, das wissen sie. Der Sturm wird in seiner wahren Dimension erfasst, er wird in die ihm angemessene Kategorie eingeordnet. Auf Basis dieser Einstufung werden, untereinander abgestimmt und in sämtlichen Landessprachen, Unwetterwarnungen herausgegeben.

      Am Sitz des Met Office in Exeter eilt Ted Hamilton in den Gängen des weitläufigen Open-Space-Büros von einem zum anderen, kommentiert, unterbricht sich, geht zum nächsten, beobachtet die Gesichter hinter den Bildschirmen, die eher gebannt als verängstigt wirken. Er ist gerade erst zu seinem Team gestoßen und richtet sich darauf ein, die ganze Nacht hier zu verbringen. Er hält diese Hochspannung für wünschenswert und notwendig, solange es keine fruchtlose Nervosität ist, oder, noch schlimmer, eine stressbedingte Überforderung, sondern ein Bereitschaftszustand, in dem alle Sinne geschärft sind, eine angespannte Aufmerksamkeit, die über einen längeren Zeitraum hinweg produktiv ist, den Dimensionen des Phänomens angemessen. Seine Mitarbeiter sind dafür ausgebildet, sind genau darauf geeicht. Auch Offiziere, Chirurgen oder Piloten sind schließlich dafür trainiert, mit außergewöhnlichen Situationen umzugehen, die dafür nötigen Kompetenzen gehören zwar nicht zum eigentlichen Kernbereich ihrer Tätigkeit, sind aber dennoch unabdingbar für die Ausübung ihres Berufes. So sieht Ted Hamilton das jedenfalls, als sturmerprobter Schotte. Er lebt hier in der Grafschaft Devon gewissermaßen im Exil, seitdem ihn ein allerletzter Karrierekick vom Wettervorhersagezentrum in Aberdeen, das er sieben Jahre geleitet hat, hierher verschlagen hat. Er ist der Auffassung, dass die Routine, die ihren Arbeitsalltag prägt, die dreimal täglich herausgegebene Vorhersage, nicht das Wesentliche überlagern darf, ihre eigentliche Aufgabe, nämlich, sich mit Katastrophenszenarien zu befassen, jene Fähigkeiten zu mobilisieren, die durch die tägliche Routine eingeschläfert werden, und das Unvorhersehbare zu managen. An diesem Abend also tritt das Unvorhersehbare in Gestalt von Xaver auf, der selbst in Ted Hamiltons Augen ziemlich dick aufträgt, hier gleitet eine bereits außergewöhnliche Lage in einen Zustand ab, der präzedenzlos ist, in ein meteorologisches Extrem, dazu angelegt, sie mindestens fünf Tage Vollzeit zu beschäftigen, angefangen von seinem Auftreffen auf die Westküste dieses Landes in dieser Nacht bis hin zu seiner vollen Entfaltung über Mitteleuropa im Laufe des Sonntags oder Montags.

      Die Stadt Exeter wurde 2003 als Standort für das Met Office ausgewählt. Breitet man eine Karte Südenglands vor sich aus, dann entdeckt man sie an einer Flussmündung, etwa sechzig Kilometer nordöstlich von Plymouth gelegen. Die Flussmündung gehört zum Fluss Exe, der sich bei Exmouth in die Bucht von Lime ergießt, einem kleinen Badeort, in dem Ted Hamilton ein Haus gemietet hat. Man kann sich ausmalen, was eine Versetzung von Aberdeen nach Exeter für ihn bedeutet hat. Das ist in etwa so, als würde man jemanden von Lille nach Marseille versetzen. Im Bewusstsein, in Schottland fest verankert zu sein, dort seine Wurzeln und all seine Bindungen zu haben, hielt er es für keine gute Idee, dass irgendjemand ihm nach Exeter folgte. Diejenigen, die das hätten tun können, brachte er davon ab, oder zumindest ermunterte er sie nicht dazu. Er wollte sie nicht dazu nötigen, in einen tausend Kilometer weiter südlich gelegenen Ort auszuwandern. Nun nutzt er seinen Urlaub und seine Überstundenausgleichstage, um regelmäßig den Weg in umgekehrter Richtung zurückzulegen, von Süd nach Nord. In der restlichen Zeit vertieft er sich komplett in seine Arbeit. Eine Zeit wie diese, in der die Ereignisse sich überstürzen, sind in seinen Augen ein willkommenes Intermezzo. Draußen der Sturm und er eingeschlossen in seinem Glaskasten. Wenn er wieder auftauchen, seinen Glaskasten verlassen und nach Hause fahren wird, um sich auszuruhen, wird der Wind sich gelegt haben, aber die wilde Brandung vor seiner Villa am Ende des Strandes wird bezeugen, dass all das kein Traum gewesen ist, dass er nicht aus einem Paralleluniversum wieder aufgetaucht ist, dass in seiner Abwesenheit tatsächlich etwas passiert ist. In einigen Stunden ist es so weit. Jedes Mal erlebt er das abgekapselt vom Rest der Welt, über den Umweg von Bildschirmen. Er analysiert, stellt Prognosen auf, beaufsichtigt die Reaktionen, alles mittels ein paar Mausklicks – in Ermangelung von Joysticks, wie sie in der modernen Kriegsführung verwendet werden. Aber es findet statt. Zuerst trifft es immer die Westküsten, während die Sturmflut die Britischen Inseln umrundet, sich auf beiden Seiten der Shetlandinseln ihren Weg über die Nordsee bahnt und im gesamten Nordseebecken ausbreitet. Der Wind hingegen geht direkt über das Gebiet von Irland und Großbritannien hinweg. Einmal entfesselt, ist er dem Meer eine Länge voraus. Am Anfang haben die Wellen Mühe, sich zu bilden, als würden sie von einer unsichtbaren Hand immer wieder umgeschlagen, als würde man ihnen die Basis entziehen oder ihre Köpfe herunterdrücken, bevor sie die Chance hätten, sich weiter auszubreiten, um die von der Beaufortskala geforderte Wellenlänge und -höhe zu erreichen und das erwartete Schauspiel zu liefern. Für den Morgen des fünften Dezember, einen Donnerstag, werden für die Seegebiete Forties, Dogger und Fisher Windstärken von elf bis zwölf vorausgesagt und Wellenhöhen von über dreizehn Metern, wenn die Sturmflut vom Atlantik angerast kommt, vor sich das hastig zu Wellenbergen aufgetürmte Oberflächenwasser herschiebend, ein Phänomen, das man Windsee nennt, eine See, die noch beängstigender ist als der Wind selbst, den man darüber fast vergisst. Am Anfang lässt der Wind ihr überhaupt keinen Spielraum, lässt dem in seinem Becken gefangenen Meer keinen Platz, um sich zu erheben und seine Kraft zu entfalten und auf die Gewalt des Sturmtiefs mit Gegengewalt zu reagieren, so als wäre es auf dem falschen Fuß erwischt worden. Es kann keinen Schwung holen, ihm nichts entgegensetzen, steht unter seinem Joch, aber dann dehnt es sich doch unter seinem Oberflächenwasser aus und wird größer. Die von drei Seiten, im Westen, im Osten und im Süden, von Land begrenzte Nordsee schwillt unter der Wirkung des niedrigen Luftdrucks an. Und die Kraft des Windes, die sie an der Oberfläche in Schach hält, sie daran hindert, sich zu einer Sturmsee zu erheben so wie eine Armee sich erhebt, die ihre Versuche immer wieder zunichte macht und sie über einige Stunden in einem widernatürlichen Zustand hält, mit kurzen Wellen, weißen Schaumkronen, Wasser und Gischt, Wasser und Gischt …, diese Kraft des Windes kann letztendlich nichts ausrichten gegen seine Ausdehnung, seine Verformung, nichts gegen eine ansteigende See, die bereit ist, ihr Bett zu verlassen. In der Zeit, in der ihr die Energie gegeben wird, den Kopf zu heben – was im Süden des Beckens, wo die Küsten flach sind und es Polder gibt, sehr viel beunruhigender ist als im Norden des betroffenen Bereichs –, breitet die Flutwelle sich aus und bedroht die Küste. Einige Lokalpolitiker haben diese Bedrohung bereits in ihren Planungen berücksichtigt, haben dem Risiko in ihren Küstenschutzmaßnahmen Rechnung getragen. Andere hingegen können sich nicht vorstellen, dass für sie vom Meer eine echte Gefahr ausgeht.

      Es ist zwanzig Uhr an diesem Mittwoch, dem vierten Dezember 2013, im Hauptquartier des Met Office, alle blicken auf und wenden sich dem Riesenbildschirm am Ende des Raumes zu, auf dem gerade Xavers Weg angezeigt wird. Ted Hamilton muss einräumen, das Bild ist beeindruckend. Aber in den verschiedenen Szenarien, die er in Vorbereitung auf den Orkan durchspielt, ist die Windgeschwindigkeit nicht seine größte Sorge. Er geht von einem der hintereinander oder zu Tischgruppen angeordneten Arbeitsplätze zum anderen und stellt auf seine typische Art, kurz und bündig, die auf jene, die ihn nicht gut kennen, manchmal etwas schroff wirkt, seine eigenen Synthesen und Projektionen auf. Eigentlich müsste die Anspannung jetzt spürbar steigen, der auf den Teams lastende Druck greifbar sein, aber dem ist nicht so. Wenn Ted Hamilton Dienst hat, herrscht eher gespannte Erwartung vor als Nervosität. In der in dieser Häufigkeit und Intensität bereits jetzt ungewöhnlichen Folge von Winterstürmen in diesem Jahr ist Xaver zunächst eine Art Wunderkind, bevor er zur angekündigten Katastrophe wird, ein meteorologisches Meisterwerk, es überrascht, beeindruckt und fesselt die Mitarbeiter, die Bereitschaft haben, und jene, die man zur Verstärkung hinzugerufen hat. Sie sind weniger verängstigt als gebannt, als sie die Fotos des Ungeheuers und sein Blutbild sehen, und die Tatsache, dass es ihm gelungen ist, sein Nest im Unsicherheitsbereich der Vorhersagemodelle zu bauen, fasziniert viele. Wenn die Natur sämtliche Grenzen


Скачать книгу