Doggerland. Elisabeth Filhol

Doggerland - Elisabeth Filhol


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und den begrünten Mittelstreifen der Straßen sprossen überall Narzissen aus dem Boden, der Campus leerte sich nach und nach, da die Studenten im letzten Studienjahr zu ihren Abschlusspraktika aufbrachen. Margaret stand kurz vor dem Vordiplom, nach einem dreijährigen Grundstudium in Geowissenschaften war sie nun in genau der Situation, die sie möglichst lange vor sich hergeschoben hatte. Sie musste sich entscheiden, wie es weitergehen sollte, sich überlegen, was sie machen wollte, sich auf ein Gebiet spezialisieren. Sie hatte diese für das Leben eines jungen Erwachsenen typische Zielgerade erreicht, wo man sich seinen Weg suchen und eine gewisse Autonomie erlangen musste. Das bedeutete, man musste jetzt aus der Fülle der Möglichkeiten eine auswählen und damit das Risiko eingehen, es später zu bereuen. Ted hatte sie bereits mehrfach darauf angesprochen, das Problem schon öfter aufgeworfen, und wie jedes Mal, wenn ihr eine Idee Angst machte oder die Dinge in ihrem Kopf zu konfus waren, war sie ausgewichen. Er traf sie in ihrer Mittagspause, vorher war er den Pfad am sagenumwobenen Golfplatz Old Course entlang bis zum Strand gelaufen. Sie saß mit dem Rücken zum Wind, einen Stift in der Hand, und las in einem Buch. Erneut hakte er nach.

      »Weißt du inzwischen, was mit nächstem Jahr ist? Was willst du machen?«

      »Die gleiche Laufbahn einschlagen wie die anderen.«

      »Und das heißt?«

      »Dem Gesang der Sirenen folgen, die uns bei ihren Werbeveranstaltungen einen roten Teppich ausrollen.«

      »BP, Shell, ExxonMobil.«

      »Genau.«

      Er zuckte mit den Schultern. Seine rechte Hand zog Linien zwischen den Kieseln.

      »Drei Viertel der Studenten meines Jahrgangs entscheiden sich dafür.« Sie beobachtete ihn. »Du siehst skeptisch aus …«

      »Mehr oder minder.«

      »Du denkst, ich könnte das nicht?«

      »Ich denke, du kannst dich problemlos spezialisieren und deinen Master machen.«

      »Und dann?«

      »Dann wird es womöglich etwas kompliziert. Wenn du in diesem Bereich weiterkommen, deinen Weg gehen und nicht bei der nächsten Wirtschaftskrise rausfliegen willst, dann brauchst du ein Know-how, das über die rein technischen Kompetenzen hinausgeht.«

      »Und das ich nicht habe?«

      »Das du nicht von Natur aus hast, nein.«

      »Danke für diese Ermutigung.«

      »Ich möchte dich überhaupt nicht entmutigen.«

      Sie packte ihr Buch ein und holte Sandwiches aus der Umhängetasche, die sie sich im vorherigen Sommer von einer Südfrankreichreise mitgebracht hatte. Eine Tasche aus Schweinsleder, die man mit einer Klappe verschließen konnte, mit kleinen Fransen. Jedes Mal, wenn er diese Tasche anhob, fragte er sich, wie sie es schaffte, ein solches Gewicht mit sich herumzuschleppen. Sie aßen schweigend ihre Sandwiches und beobachteten dabei zu ihrer Linken die Golfspieler auf dem 18-Loch-Old-Course-Platz, zu dem sie niemals Zutritt haben würden, so exklusiv war er. Und rechts von ihnen das auflaufende Meer. Dann brach Ted Hamilton das Schweigen. In solch einem Schlüsselmoment, da sich entscheidet, welchen Spielraum man später hat, beziehungsweise wie sehr man sich durch eine frühe Festlegung einengt, da sollte man sich auf seine Stärken besinnen, statt sich auf seine Schwächen zu berufen. Er war jedenfalls immer davon überzeugt, dass sie eines Tages ihren Platz finden würde.

      »Ich meine nur, deine Zukunftspläne davon abhängig zu machen, was die anderen um dich herum machen, mit der Begründung, drei Viertel der Geologiestudenten würden sich für einen Job in der Ölindustrie entscheiden, ist keine gute Idee.«

      »Und was wäre deiner Meinung nach dann eine gute Idee?«

      »Dass du dir einen Bereich aussuchst, der dich wirklich interessiert.«

      Natürlich haben nicht alle das Glück, so wie er, sich seit ihrem vierten Lebensjahr für etwas zu begeistern, in seinem Fall Wolken. Aber das kann ja noch kommen. Und niemand zwingt sie, in die Luft zu schauen und zu beobachten, was sich über ihrem Kopf abspielt. Möglicherweise zieht sie es vor, in der Erde zu buddeln, um zu verstehen, was sich unter ihren Füßen abspielt.

      »Wir buddeln nicht alle aus den gleichen Gründen. Wir wollen nicht alle das Gleiche verstehen. Wenn du dich für die ersten Fischfossilien interessierst«, sagte Margaret, »musst du bis in die Schichten des Paläozoikums zurückgehen. Wenn du in der Nordsee nach Erdöl suchst, wirst du die Sedimentschichten des Mesozoikums ausloten. Geht es dir um die Auffaltung der Alpen, konzentrierst du dich auf die Plattentektonik im Tertiär. Und wenn du dich für die moderne Geologie der Geschichte der Menschheit interessierst, den Zeitraum, bevor der Mensch eingegriffen und die Landschaft und das Klima verändert hat, dann widmest du dich dem Quartär. Geologie des Quartärs und der Vorgeschichte ist der Masterstudiengang, der mich interessieren würde, meine Bedenken mal außer Acht gelassen, da du mich schon fragst. Das ist der Studiengang, für den ich mich gerne bewerben würde.«

      »Na, dann mach es doch.«

      »Mache ich.«

      Einige Wochen später brachte er ihr zu ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag ein Geschenk mit.

      »Wo hast du das denn gefunden?«

      »In Edinburgh, in der Victoria Street.«

      Ted Hamilton war nie ein großer Leser gewesen, aber er hatte ein Faible für alte Bücher, und wenn er am Bahnhof von Edinburgh ausstieg, lief er immer bis zum Schloss hoch und genoss es, durch die mittelalterlichen Straßen zu flanieren, die wegen der ungewöhnlich hohen Gebäude aus Stein, oder einfach weil sie so schmal oder verwinkelt waren, so düster waren, dass die kleinen Antiquariate oder Trödlerläden so gut wie kein Licht abbekamen. Er hatte das Buch, das er ihr schenkte, selber nicht gelesen, aber der Titel, Submerged Forests, und die Fotografie des Autors, der Joseph Conrad ähnlich sah, hatten ihn angesprochen.

      »Die Originalausgabe stammt von 1913. Der Text ist eine Auftragsarbeit der Cambridge University Press. Es wurde in einer Lehrbuch-Reihe herausgegeben«, sagte Ted. »Clement Reid lehrte damals in Cambridge Geologie und Botanik. Submerged Forests ist seine letzte Publikation.«

      »Verstehe …«

      Margaret hielt das Buch fest, als wüsste sie nicht, was sie damit anfangen sollte. Sie wog es in ihren Händen, drehte es um, strich mit der Hand über den dicken Kartoneinband, führte es an ihr Gesicht, um daran zu schnuppern, schlug es aber nicht auf. Sie waren in der elterlichen Wohnung in Aberdeen zusammengekommen, die über dem 1950 in der Union Street eröffneten Juweliergeschäft lag. Man feierte nicht nur Margarets zweiundzwanzigsten Geburtstag, sondern auch die Übernahme der Abstandszahlung durch einen Nachmieter und den Umzug des Stammgeschäfts in die neue im Herzen der Stadt errichtete Mall. Die Schaufensterauslage des Geschäfts der Hamiltons hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit der des Großvaters, der durch den Verkauf von Geschenken zur Taufe und zur Verlobung und von Uhren zur Kommunion ein bescheidenes Auskommen gehabt hatte. Im Laufe der letzten Jahre waren einige wertvolle Stücke hinzugekommen, wie man sie auch in London oder Edinburgh fand, damit passte man sich an die Entwicklung des Marktes an, an die steil angestiegene Nachfrage nach Luxusobjekten, seit das Manna Erdöl Aberdeen von einer bescheidenen Provinzhauptstadt zur Stadt mit dem zweithöchsten Anteil an Milliardären im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung gemacht hatte. Mit dieser Entwicklung hatte nun wirklich keiner gerechnet. Zwanzig Jahre zuvor hätte das niemand zu träumen gewagt.

      The Silver City by the Golden Sands. Das war einmal. Das war vor der Entdeckung der ersten Kohlenwasserstoffvorkommen in der Nordsee. Da war Aberdeen ein Fischereihafen, die Werften und Konservenfabriken hielten sich mehr schlecht als recht über Wasser, die britischen Touristen schätzten die langen Sandstrände, die Bauern aus dem Hinterland flanierten die Union Street auf und ab, stolz auf die imposante Architektur der repräsentativen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert aus grauem Granit, die im Stil des schottischen Mittelalters von Türmen und Türmchen flankiert waren. Die Stadt war herausgeputzt und blumengeschmückt, die Haupteinkaufsstraßen waren immer voll, paradoxerweise florierten die Geschäfte damals besser als heute. Und dann kamen


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