Doggerland. Elisabeth Filhol

Doggerland - Elisabeth Filhol


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Mineralölkonzerne. Die Stadt von damals, die ihnen streng, feucht und kalt erschien und die sich von heute auf morgen zur Hauptstadt der europäischen Offshore-Ölindustrie ernannte, veränderte sich.

      Ab Mitte der siebziger Jahre erleben sie, die Kinder und Jugendlichen aus Aberdeen, diese Verwandlung hautnah mit. Man beginnt damit, die Docks und das frühere Fischer-Viertel dem Erdboden gleichzumachen, um Logistikbasen zu errichten. An die Stelle der Fischkutter treten riesige Versorgungsschiffe, die ebenso gigantische Ausmaße haben wie die Bohrrohre, und die den Auftrag haben, die Bohrinseln mit Lebensmitteln und Ausrüstung zu versorgen. In den Vororten schießen Bürogebäude, Firmensitze, Wohnanlagen und Vertragshändler teurer Automarken aus dem Boden. Man vergrößert den Flughafen und baut den größten Hubschrauberlandeplatz Europas. Nach und nach verschwinden die hübschen kleinen Geschäfte aus der Union Street zugunsten luxuriöser Malls, die man im Stadtzentrum errichtet. Die Immobilienpreise schießen in die Höhe. Die Gemeinde muss sich verschulden, um Infrastruktur und öffentliche Einrichtungen in einem schon im Voraus verlorenen Wettlauf gegen die Zeit anzupassen. Es herrscht Goldgräberstimmung. Alkohol und Geld fließen in Strömen, ersterer wird dabei gerechter verteilt als letzteres. Die Erwachsenen werden von diesem Strudel mitgerissen und versuchen, möglichst heile aus der Sache rauszukommen. Manche werden dabei härter durchgerüttelt als andere, angefangen bei den Beschäftigten der amerikanischen Firmen. Sie stehen von nun an unter der Kuratel von Managern, die an eine gefügige Arbeiterschaft gewöhnt sind, die bereit ist, für Dumpinglöhne zu arbeiten. Aber sie, die Kinder von Aberdeen, sehen nur die andere Seite der Medaille. Die kleine Wohnung wird gegen eine größere getauscht, auf dem Schulhof geht es kosmopolitisch zu, und das unaufhörliche Ballett der Helikopter ersetzt den früheren Höhepunkt des Jahres, den jährlichen offiziellen Besuch des Herzogs von Edinburgh. In den Supermärkten tauchen lauter exotische Produkte auf, wie Bourbon und Tequila, Tapas und Barbecuesaucen, und am Samstagabend laufen die Texaner in Cowboystiefeln, Westen und mit dem Stetson auf dem Kopf durch die Straßen des Zentrums. Die Stadt kommt in Bewegung und verändert sich, das erscheint ihnen nur natürlich, sie brauchen also nicht anderswohin auszuwandern, im Gegensatz zu vorherigen Generationen, müssen ihre Wurzeln nicht kappen, die Welt kommt zu ihnen, bietet ihnen sämtliche Versprechen, die mit einem Tapetenwechsel einhergehen: Abenteuer, Reichtum, einen Lebenswandel, den sie nicht kannten und den sie jetzt vor Augen haben.

      3

      Das Haus der Familie Ross liegt am südlichen Rand der Altstadt von St. Andrews, gegenüber der St. Andrews Church. Draußen geht ein böiger Wind, aber das ist für diese Jahreszeit nicht ungewöhnlich. Margaret Ross steht mit der Fernbedienung in der Hand neben der Couch und zappt von einem Nachrichtensender zum nächsten. Letztlich entscheidet sie sich für Sky News, legt die Fernbedienung auf dem Couchtisch ab und setzt sich hin. Momentan füllt die Moderatorin den gesamten Bildschirm aus, bis oben rechts der Kopf ihres Gesprächspartners eingeblendet wird. Innerhalb von Sekunden kehrt sich das um, nun ist sie im Miniaturformat in der oberen Ecke zu sehen und im Großformat sieht man Außenaufnahmen. Als wäre das nicht genug, werden in einem Laufband kontinuierlich Textzeilen eingeblendet, die in keinem direkten Zusammenhang zum Gesagten stehen. Gerade wurden drei Isobarenkarten gleichzeitig gezeigt, die sich auf den Westen Großbritanniens konzentrieren. Wie kommt es nur, fragt Margaret Ross sich, dass die Rotationsgeschwindigkeit des Windes auf dem Bildschirm derart plastisch hervortritt, ohne jede Animation, nur aufgrund der Tatsache, dass die Isobaren von einer Karte zur nächsten immer enger stehen? Zwischen den drei Aufnahmen liegen jeweils vier Stunden, und obwohl nichts in Bewegung gesetzt wird, ist die Dynamik trotzdem da. Es ist ihr Bruder, Ted Hamilton, der die Karten kommentiert. In dem Moment, als Margaret ihn in dem eingeblendeten Kästchen sieht, kündigt die Moderatorin ihn auch schon an, Ted Hamilton, direkt zugeschaltet aus dem Met Office, und mehr noch als auf die Stimme ihres Bruders oder auf sein Gesicht reagiert sie auf seinen Namen, der so irritierend vertraut klingt, außerdem ist es einfach befremdlich, ihn so vor sich zu sehen, einerseits ist er unglaublich nah und andererseits hat er keinerlei Ähnlichkeit mit der Person, die sie kennt. Er hat eine Nacht Krisenmanagement vor sich und bereits zwei Pressekonferenzen hinter sich. Sie hat Mühe, ihn wiederzuerkennen. Er wirkt weniger kurz angebunden, weniger steif, als er in Wirklichkeit ist. Tatsächlich ist es für sie jedes Mal von neuem ein Wunder, ihn dort zu sehen.

      Sie ist allein zu Haus in der Queen’s Terrace, ihr Mann Stephen und ihr Sohn David sind noch nicht da. Sie ist damit beschäftigt, an ihrem Beitrag zu feilen, den sie übermorgen beim Kongress in Esbjerg präsentieren soll. Ihr Laptop steht vor ihr auf dem Esstisch, und nachdem sie das Exposé einmal bis zum Schluss heruntergescrollt hat, überlegt sie, an welchen Stellen sie zwei oder drei Grafiken ihrer Power Point Präsentation streichen könnte, um den ihr zur Verfügung stehenden Zeitrahmen nicht zu überschreiten. Schließlich nehmen fünf Wissenschaftler an dem Runden Tisch teil, jeder soll in einem Eingangsstatement die Möglichkeit bekommen, seine Arbeit und seinen Beitrag zum Thema vorzustellen, und in der sich anschließenden Diskussion wird man dann den einen oder anderen Punkt ergänzen oder vertiefen können. The Storegga Slide tsunami lautet der genaue Titel der Konferenz, die für Freitag elf Uhr angesetzt ist. Vom Norwegischen Storegga, die Große Kante, und vom Englischen slide, im geologischen Sinn des Wortes, also Rutschung.

      Die Queen’s Terrace liegt achthundert Meter hinter der Strandpromenade. Sie markiert die südliche Grenze der mittelalterlichen Stadt, die auf einem Felsvorsprung errichtet wurde und deren moderner Teil nicht übermäßig ausufert. Bei Ebbe tritt eine breite Küstenplattform zu Tage, eine durch die Erosion glattpolierte Brandungsplatte, die, so kann man vermuten, den Fuß des Felsens schützt oder zumindest die erosive Kraft der Wellen an einem Tag wie diesem erheblich vermindert, so dass die an der Strandpromenade aufgereihten alten Häuser bis heute erhalten geblieben sind – wäre der Felsen an dieser Stelle in all den Jahren nur um zehn Zentimeter im Jahr zurückgewichen, wären sie längst fortgespült worden.

      Obschon die Stadt dem Wind ausgesetzt ist, der quer durch sie hindurchfegt, Regen und Schnee auf sie niederpeitschen und sie wie ein Prellbock dem andauernden Ansturm der Nordsee ausgesetzt ist, hat sie in den sechs Jahrhunderten ihres Bestehens keinen Zoll Land preisgegeben, und die von einem Ende der Strandpromenade aus zu erkennenden Ruinen, Burg und Kathedrale, sind allein von Menschenhand zu solchen geworden. Was von den Bränden und der vorsätzlichen Zerstörung verschont geblieben ist, scheint der Zeit zu trotzen: ein Spitzbogengewölbe, eine Aneinanderreihung von Bögen, ein Portal, ein Turm, von dem aus man den Rasen überblickt, auf dem senkrecht ein Grabstein neben dem anderen steht, im Schutze der Umfassungsmauer, die sich oberhalb des Felsens erhebt, aus dem gleichen Stein gehauen ist wie dieser und seine natürliche Verlängerung bildet, indem auch ihre Farben je nach Licht und Jahreszeit changieren. Nach Oxford und Cambridge ist St. Andrews die älteste Universitätsstadt Großbritanniens. Zu den an der Promenade liegenden Häusern gelangt man durch enge Gassen, manche so schmal wie ein Gang, sie vermitteln einen Eindruck davon, wie groß das Bedürfnis war, sich vor den Elementen zu schützen. In zweiter und dritter Reihe und bis hin zur Queen’s Terrace sind die Fassaden der Häuser aus grauem, schmucklosem, feinporigem Sandstein noch aus der Zeit der Gotik erhalten, oder aber sie stammen aus der Zeit der ersten Colleges und sind ebenso schlicht wie diese. Margaret Ross, eingeschrieben unter dem Namen Hamilton, kam mit neunzehn Jahren hierher und hat den Ort seither nicht mehr verlassen. Sie hat diesen Eindruck von Unveränderlichkeit, von der bewahrenden Kraft der alten Gemäuer, der Architektur, der vier Jahrhunderte alten Studentenrituale, nicht einfach über sich ergehen lassen, sondern darin auf Anhieb genau das gefunden, was sie brauchte: einen festen Rahmen, eine gewisse Stabilität, während sie in ihrer Geburtsstadt Aberdeen, die immer in Bewegung war, sich veränderte, seit den sechziger Jahren eine permanente Revolution erlebte, oft das Gefühl hatte, durch eine Kluft von ihrer Umgebung getrennt zu sein. Bevor sie ihren Laptop ausschaltet und sich ans Kofferpacken macht, loggt sie sich auf der Website des Met Office ein. Die letzten online gestellten Informationen, die Karte mit den Warnhinweisen, auf der inzwischen für drei Viertel des Landes eine Unwetterwarnung besteht, bestätigen die SMS, die ihr Bruder Ted ihr zwischendurch geschrieben hat, und das klingt alles in allem ziemlich beunruhigend.

      Xaver ist nicht der erste und sicher nicht der letzte Sturm dieser Saison. Margaret weiß, dass sich in den nächsten Wochen eine fast ununterbrochene Abfolge von Tiefdruckgebieten


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