Doggerland. Elisabeth Filhol

Doggerland - Elisabeth Filhol


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Nadelwald, Tundra, Eiswüste. Bei jeder Klimaveränderung hebt und senkt sich das Inlandeis wie bei einem Atemzug. Es schiebt sich nach vorn, wird dicker, dehnt sich, breitet sich in alle Richtungen aus, oder zieht sich, wenn sich das Klima wieder erwärmt, zusammen, weicht zurück, zentriert sich, ist nur noch ein dünnes Packeis, kurz davor auseinanderzutreiben. Dann wird es erneut dicker, breitet sich aus, überzieht das gefrorene Wasser der Arktis und lässt sich auf der Landoberfläche nieder, ragt bei jeder neuen Phase der Abkühlung über seine bisherigen Grenzen hinaus, festigt sich, rutscht durch sein Gewicht und dank der unterirdischen Wasserströme weiter, rückt von den hohen Breitengraden in Richtung der gemäßigteren Breitengrade eines Europas vor, das in dem Moment, wo das Inlandeis es erreicht, schon nicht mehr in einer gemäßigten Zone liegt. Nachdem es sich dort niedergelassen hat, drückt es auf die Kontinentalplatten, die dem Druck an dieser Stelle zunächst standhalten, ihn wegstecken. Dann, in dem Maße, wie das Eis über ihnen wächst, senken sie sich schließlich unter der drei Kilometer dicken Eisschicht im Zeitlupentempo, senken sich immer tiefer und tiefer unter dem Gewicht des kalten Gletscherkörpers ab, der alles verwüstet, abkratzt und abschleift, bei jedem Atemzug, den er tut, bei jeder Verlagerung, jedem Vorstoß oder jedem Zusammenziehen. Unter seinem Bauch hobelt und häuft er alles an, was der felsige Sockel ihm an Material liefern kann, zum Ausquetschen, zum Weitertransportieren, zum Zermalmen, zum Zerkleinern zu Schotter, grobem Sand, feinem Sand, und die allergrößten Blöcke nimmt er gleich im Ganzen mit. Wenn er erst einmal auf dem Festland Fuß gefasst hat, dann gibt er es nicht mehr frei. Er streckt seine Gletscherzungen in Richtung Süden aus, immer massiver und mächtiger, er schluckt ganze Landschaften, und wenn er von ihnen ablässt, sind sie nicht mehr wiederzuerkennen.

      Da entscheidet sich die Zukunft des Doggerlands. Auf den sich selbst überlassenen und im Angesicht des Gletschers wiedergewonnenen Flächen. Der Eisschild schiebt zugleich sowohl seine eigene Masse nach vorn als auch das, was er abreißt, was bei seinem Durchzug an der Oberfläche des Sockels friert und aufreißt, er nimmt mit, was über das hinausragt, woran er sich festhält, er nimmt Geröll jeder Art und Größe jedes Ausgangssubstrats und jeder Herkunft mit, das seinen Weg kreuzt, das unter dem Eis hindurch befördert wird, in der Geschwindigkeit, die er vorgibt, manchmal auch schneller. Dieses Geschiebe wird an die Ränder gedrückt und dort zurückgelassen, wenn der Gletscher sich zurückzieht, und sei es nur für den Sommer. Die Moränenfront wird durch das Schmelzwasser ausgewaschen. Dann wird sie erneut verschluckt, manchmal dauerhaft. Und schließlich wird sie endgültig wieder freigegeben, am Tag des Umschwungs, der das Ende der Eiszeiten besiegelt, wenn der Rückzug des Gletschers unumkehrbar wird, und diese Moränenfront, die sein Weggang ohne Wiederkehr vor Ort zurücklässt, anstelle und am Platz der Eisfront, Massive aus Granulat, die aus der größten jemals in Angriff genommenen Zermalmungsarbeit hervorgegangen sind, wird, angeordnet zu Hügeln, zu Bergkuppen, das einzigartige Relief des Doggerlands bilden, von einem Ende der Steppe zum anderen, sie werden die einzigen Hindernisse sein, die einzigen Schutzwälle gegen den Wind.

      Vom Eisschild blasen die katabatischen Winde.

      Permanent, immer in eine Richtung. In der Eiszeit tragen sie in allen europäischen Sprachen einen Namen.

      Sie sind zehn Mal so stark wie ein Mistral und maßlos kalt, ihnen wird in allen Sprachen nachgesagt, dass sie den Menschen das Leben unmöglich machen, und diese sind dann auch Richtung Süden geflohen.

      Die zur gemäßigten Flora gehörenden Arten sind ihnen vorausgegangen, haben hier und da eine windgeschützte Stelle gefunden, überall sonst ist ihr Pollen bei Kernbohrungen nicht nachzuweisen. Ausgehend von diesen Zufluchtsorten werden sie sich nach Beginn der Eisschmelze erneut auf den Weg machen, um Europa zu besiedeln. Ihr Eroberungsdrang wird erst gebremst, als die Klimaerwärmung zum Stillstand kommt; als die Temperaturen dann wieder steigen, versetzt ihnen das einen regelrechten Schub, und als das Phänomen an Fahrt aufnimmt, wird die Landschaft in weniger als einem Jahrtausend grundlegend verwandelt.

      Bei der Vorlesung über Palynologie von Professor McGregor 1987 begegnet Margaret im Hörsaal Marc Berthelot. Die Palynologie, die Pollenanalyse, ist für Archäologen und Paläontologen aufschlussreich, für alle, die versuchen, unsere Lebensbedingungen in der Vergangenheit zu rekonstruieren. Aber auch die Ölindustrie interessiert sich für die Palynologie, sie begleitet die aufwendigen Explorationsbohrungen im Untergrund der Nordsee. Margaret fällt es leicht, ja, es hat für sie fast etwas Spielerisches, sich Woche für Woche Dutzende von mit dem elektronischen Mikroskop gemachten Pollen-Aufnahmen und die dazugehörigen lateinischen Namen einzuprägen, Pinus, Quercus, Betula. Für Marc Berthelot hingegen ist das eine echte Herausforderung, eine Hürde auf dem Weg zu seinem Wunschberuf, Ingenieur für Erdöl- und Erdgastechnik in der Offshore-Industrie, ein Hindernis, das zwischen ihm und einer vielversprechenden Karriere als Prospektor steht, als Goldsucher, und je mehr Wochen vergehen, je mehr Skripte sich ansammeln, desto unüberwindbarer scheint diese Mauer zu werden.

      Er ist Franzose und sie versteht etwas Französisch. Als er auf den Campus kommt, begreift er nicht gleich sämtliche Geheimnisse der studentischen Codes und Rituale, aber er lernt schnell. Sie begibt sich in sein Kielwasser, lässt sich von ihm mitreißen, erlebt durch das Zusammensein mit ihm etwas, das sie vorher nicht hat ausleben können, dieses Jahr 1987, der erste Erasmus-Jahrgang und sein letztes Studienjahr, wird für sie eines der schönsten Jahre überhaupt. Sie feiern den ersten Vertrag, den Marc im folgenden Sommer bei British Petroleum bekommt. Er pendelt zwischen den Bohrarbeiten in der Nordsee und den Analysearbeiten in den Büros von BP in Aberdeen hin und her. Es ist eine Jugend vor Internet und Handy. Er ist unterwegs, ist eine Weile weg, kommt wieder, entscheidet sich, sie anzurufen, den Kontakt wieder aufzunehmen, er hat es in der Hand, aber tut es am Ende immer. Er findet sie so vor, wie er sie verlassen hat, sie freut sich jedes Mal, ihn zu sehen, hat Zeit oder auch nicht, ist ungebunden oder auch nicht, erlaubt sich, was er sich erlaubt. Er geduldet sich, wartet, fährt wieder, sie liebt es, sich bei seiner Rückkehr seine Geschichten anzuhören, sie zieht ihre Schlüsse daraus, füllt die Lücken aus, erfindet für sich einen Text, der zwischen den Zeilen steht, Gesichter, wo vielleicht gar keine sind, stellt ihm nur selten die entsprechende Frage, verlangt aus den gleichen Gründen nichts von ihm, denn ist es einmal ausgesprochen, kommt man nicht mehr daran vorbei. Vier Jahre lang kommt und geht er, taucht auf und verschwindet. In der Zwischenzeit stellt sie sich kaum vor, wie sein Berufsleben aussieht oder sein Leben überhaupt. Sie akzeptiert, dass er die Dinge nimmt wie sie kommen, das Leben nimmt wie es kommt. Er geht, aber er kommt auch wieder zu ihr zurück. Er kennt ihre Schattenseiten, er weiß, dass dieser vorgezeichnete Weg, dem sie folgt, ihr Halt gibt, so dass sie zumindest an dieser Front ihre Ruhe hat, und einen Ankerplatz, er weiß, dass sie an dieser Kontinuität hängt, die ihn mehr als alles andere schreckt, dass ihr das genügt, er zieht sie damit auf. Ihr Verhältnis zu Mobilität, zu Veränderung könnte nicht unterschiedlicher sein, offenbart, wie weit sie auseinanderliegen. Er stellt sich vor, wie ihr Leben in fünf Jahren aussehen wird, in fünfzehn Jahren, erst Studentin, dann Assistentin, eines Tages Forschungsbeauftragte. Er malt ihr ihre Zukunft aus, wie sie sich endgültig in dieser Ecke niederlassen wird, darauf bedacht, ihre Karriere dort zu beenden, wo sie sie begonnen hat, an der Uni, gut integriert, produktiv, genau das wünscht er ihr, ein Leben im Reinen mit sich, im Schutz der Mauern von St. Andrews.

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      So plötzlich, wie er auf den Satellitenbildern aufgetaucht ist, so plötzlich wird Sturm Xaver zur Top-Nachricht befördert, er erobert das Land und sucht die Bildschirme heim. Die ersten gesendeten Bilder sind Nachtaufnahmen, austauschbar, mehrheitlich von Strandpromenaden von Küstenorten, aufgenommen an der Westküste um Mitternacht. Dann folgen, entsprechend dem Heranziehen des Sturmtiefs, Bilder von verschiedenen Punkten an der Küste, dazu eine Fülle von Daten und Luftaufnahmen, die spektakulär genug sind, um die gigantische Maschinerie der Direktübertragung am Laufen zu halten. Die mediale Berichterstattung kommt in Gang, man stellt mögliche Szenarien für besonders exponierte, besonders gefährdete Gebiete auf, jede Redaktion ist darum bemüht, ein Filmteam an die Orte zu entsenden, die im Morgengrauen, also in nur wenigen Stunden, im Visier der Kameras vom Sturmtief erreicht werden. Zur Überbrückung zeigt man für die wenigen Zuschauer, die noch wach sind, Archivbilder der durch die Flutkatastrophe von 1953 ausgelösten Überschwemmungen, so als würde man einen Gedenktag begehen. Man übt


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