Doggerland. Elisabeth Filhol

Doggerland - Elisabeth Filhol


Скачать книгу
Europas überqueren wird. Aber einen positiven Nebeneffekt hat es auch, denn die so kostspieligen Ausgrabungen, die sie für ihre archäologischen Forschungen benötigen, diese so langwierige und mühsame Arbeit, die erledigt dann das Meer für sie. Jeden Winter wird die Küste von Galizien bis zum Baltikum vom Meer bestürmt. Millionen Tonnen Gestein, Kiesel, Sand werden verschoben. Felsen weichen zurück, Strände senken sich ab, Untiefen werden umgestaltet, das Watt wird stellenweise abgetragen, eine Schicht nach der anderen, bis man Sedimentschichten erreicht, die für diejenigen, die sie zu interpretieren wissen, Videostills ähneln. Der Geologe und Botaniker Clement Reid ist einer von ihnen. Sie weiß noch, wie sich bei der Lektüre von Submerged Forests ein riesiges Forschungsfeld vor ihr auftat. Reid war 1906 der Erste, der nach jedem großen Sturm die englische Küste abschritt, von Yorkshire bis Cornwall, auf der Suche nach Hinweisen, wie Europas Umrisse ausgesehen haben, als es noch größer war, und bevor es dieses Gebiet eingebüßt hat. Wenn der Sturm mit einer Springflut zusammenfällt, legen bei Ebbe freigelegte Gebiete Zeugnis von einer Zeit ab, in welcher der Meeresspiegel im Norden sehr viel niedriger war. Entgegen den weit verbreiteten Auffassungen seiner Epoche schreibt Clement Reid diesen Anstieg des Meeresspiegels der Klimaveränderung zu, überzeugt von den Arbeiten von Penck und Brückner, die in ihrer 1909 aufgestellten Chronologie vier Eiszeiten des Quartärs ausmachen und benennen, Günz, Mindel, Riss und Würm, denen wir die Alpen verdanken. Zum Höhepunkt der Würm-Eiszeit liegt der südliche Teil der heutigen Nordsee trocken. Der nördliche Teil des Nordseebeckens hingegen ist unter der Last des Inlandeises erstarrt, dem Grönländischen Eisschild, der bis nach Yorkshire herunterreicht.

      Noahs Wälder. So nennen Clement Reids Zeitgenossen diese in Bänken aus versteinertem Torf verwurzelten freigelegten Schichten, die am Morgen nach einem großen Sturm zu Tage treten. Bereits aus der Ferne erkennt man am Boden liegende Baumstämme, von denen manche noch einen intakten Querschnitt aufweisen, als hätte die Abholzung gerade erst stattgefunden. Da, wo sonst bei Ebbe nur Sand und Schlick waren, bleibt man von einem Tag auf dem anderen an den Wurzeln junger, zerbrochener Stämme hängen oder an denen ausgewachsener Bäume, die so aussehen, als wären sie maschinell gefällt worden. Ihre glatte Schnittfläche fühlt sich bei Berührung seidenweich an, und unter dem Anthrazitgrau, in das die gesamte Szenerie getaucht ist, sind die Jahresringe gut erkennbar. Da, wo sonst nichts war als Sand, soll der Legende zufolge mal etwas gewesen sein, ein Gebiet oder eine Stadt, die vom Meer verschlungen wurden, so wurde es von einer Generation an die nächste überliefert, so etwas wie das antike Reich von Cantre’r Gwaelod oder das untergegangene Land Lyonnesse. Clement Reid veröffentlicht Submerged Forests 1913. Das Werk, das nur wenigen Spezialisten bekannt ist, ist mittlerweile in einer Neuauflage erhältlich, die den Text und die Ikonografie der Originalausgabe übernimmt, wie der Klappentext erklärt, und um eine biografische Notiz und ein Vorwort von Margaret Ross ergänzt wurde, die als leitende Forscherin am Institut für Geografie und Geowissenschaften der Universität von St. Andrews tätig ist. Da man sich bei dem Foto auf der ersten Seite für eine Farbstatt eine Schwarz-Weiß-Fotografie entschieden hat, sind der rosafarbene Dunst am Ende der Bucht und die stellenweise bernsteinfarbenen Lichtreflexe auf dem Schlick zu erkennen, aber von diesen wenigen Nuancen abgesehen ist alles Grau in Grau. Es hat die ganze Nacht gestürmt. Und dann, bei Tageslicht, tauchen sie langsam aus den Nebelschwaden auf: Alte Baumstümpfe, die mit ihren an den Körper gepressten Armen und krummen Beinen losmarschieren wollen, Baumstämme, die am Boden liegen und sich erheben wollen, eine alterslose Armee, die den Fluten bei Niedrigwasser entkommen ist und, noch feuchtschimmernd, unter wild bewegtem Himmel, so wirkt als wolle sie den Strand im Sturm erobern. Es sind sicher mehrere Dutzend Individuen, auch wenn im Vordergrund nur einige wenige zu erkennen sind. Man meint, bei jeder neuen Ebbe müssten ihnen zig andere folgen, erstarrt in der Haltung, die sie hatten, als die Uhr einige Jahrtausende zuvor auf einen Schlag stehen blieb. Jeder Spaziergänger, jeder Laie hat seine eigene Theorie dazu. Ein halbes Jahrhundert vor Entwicklung der Radiokarbonmethode haben Clement Reids Zeitgenossen keine andere Methode der zeitlichen Einordnung zur Verfügung als die biblische, und während er sich bereits für Stratigrafie interessiert, sind die Zeiten um ihn herum vorsintflutlich. Diese versteinerten Wälder, die innerhalb einer Nacht erscheinen, bevor sie wieder in den Wellen verschwinden, nennen sie Noah’s Woods, Noahs Wälder.

      In seinem Buch stellt Clement Reid zum ersten Mal die Hypothese auf, dass im Osten von Yorkshire, zwischen England und Dänemark, ein Gebiet zum Vorschein kommt, das früher so ausgedehnt war, dass man trockenen Fußes von einer Seite zur anderen gehen konnte. Mit der Klimaerwärmung und dem Schmelzen der Polkappen im Mesolithikum schrumpfte dieses Gebiet immer weiter. Statt der für die Sintflut verbuchten vierzig Tage und vierzig Nächte dauerte es jedoch sechstausend Jahre, bis der Meeresspiegel nach und nach so weit anstieg. Aber das Ergebnis ist das gleiche, und es gab ein Vorher und ein Nachher. Das Vorher einer vorsintflutlichen Welt, und das Nachher einer bis heute andauernden, historischen Epoche, in der man die Stabilisierung des Meeresspiegelniveaus für gegeben nahm. Dazwischen gab es einen Moment, in dem es kippte, in dem das Gleichgewicht verloren ging. An Orten, die von Gebietsverlusten betroffen waren, existieren über diesen Moment viele Mythen. Darin wird das Ganze wie eine Kollision dargestellt, es wird wie im Zeitraffer betrachtet. Das harrt einer Neubewertung, schreibt Clement Reid, der im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen nicht alles wörtlich nimmt und buchstäblich versteht. Auf seinem Nachttisch liegt eine Ausgabe der viktorianischen Bibel, er schlägt sie auf und liest sie anders, als man sie bisher gelesen hat. Da es keinerlei Artefakte aus Metall aus dieser Zeit gibt, datiert er den bei Ebbe in ganzen Bänken freigelegten versteinerten Torf und die in ihm enthaltenen Überbleibsel auf die Steinzeit. Nicht selten findet man zwischen den Bäumen Knochen von großen Säugetieren. Selbst heute noch ist es keine Seltenheit, dass Fischer Knochen in ihren Netzen nach oben ziehen. Seit Jahrhunderten spuckt das Nordseebecken immer wieder Überreste von Landtieren aus, von Arten, die in unseren Breitengraden nicht mehr existieren oder die generell ausgestorben sind.

      Clement Reid stirbt drei Jahre nach Erscheinen seines Buches. Bei seinen Forscherkollegen von der Royal Society genießt er hohe Anerkennung, aber außerhalb dieser Kreise hat er kein großes Publikum und auch die Nachwelt nimmt ihn kaum zur Kenntnis, das hebt Margaret Ross in ihrer biografischen Notiz hervor. In ihr Vorwort flicht sie eine persönliche Anekdote ein und erinnert daran, dass Reid es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, die Fischer am Kai zu erwarten, so wie sie es beim niederländischen Paläontologen Dick Mol am Hafen von Rotterdam beobachtet und ab den neunziger Jahren selber praktiziert hat. Allerdings begann die Quelle langsam zu versiegen, nach einhundertfünfzig Jahren Schleppnetzfischerei auf den Untiefen der Doggerbank, im Zuge derer man inmitten von Fischen und Krebstieren Backenzähne, Stoßzähne, längliche Knochen, flache Knochen, Kiefer und Schädel von etlichen Tieren herausgeholt hatte, von denen sich viele zu Lebzeiten nie begegnet waren: Wolf, Hyäne, Mammut, Bison, Rhinozeros, Rentier, Walross, Elch und viele andere zur Familie der Hirsche zählende Tiere. Ihre jeweiligen Lebensräume haben keinerlei Ähnlichkeit mit unserer heutigen Umgebung, lässt man mal die Nachzügler der Evolution wie Hirsch, Hase, gemeiner Fuchs und Wildschwein außer Acht. Moorlog, so nennen die Fischer dieses Sammelsurium, diesen Mischmasch aus Holzstücken, alten Knochen, Torfblöcken und anderen versteinerten Überresten, die schwer in ihren Netzen liegen und sie beschädigen. Sie mussten erst davon überzeugt werden, im Interesse der Wissenschaft nicht gleich alles wieder über Bord zu werfen, selbst wenn man nur in seltenen Fällen ein handgearbeitetes Objekt darin findet, wie eine Harpune oder ein Steinbeil aus der Jungsteinzeit. Dennoch kommt es vor, dass ein Kapitän – sein Name und der seines Schiffes gehen sicher in die Annalen ein – größeren Forschergeist an den Tag legt, einen Sedimentblock zerbricht und dabei ein Stück von Seltenheitswert findet. Durch die modernen Fangmethoden werden die unterseeischen Ablagerungen verschoben und die Stratigrafie durcheinandergewirbelt. Mit Beginn der Schleppnetzfischerei treffen am Grund der Netze sämtliche Habitate aufeinander, die je existiert haben. Zum Glück kann man durch die Laboranalyse der versteinerten Torfstücke und die Untersuchung der Pollen und Sporen, die sie enthalten, eine Chronologie rekonstruieren und jedes Stück ins richtige Fach einsortieren.

      Auf der Oberfläche der ausgedehnten Schwemmlandebene, welche die Nordsee darstellt, wenn sie trockengefallen ist, bei jedem extremen Temperaturanstieg oder -abfall, bei jeder Bewegung der Gletscher folgt eine spezifische Flora und Fauna auf die nächste. Das geschieht in aufeinander folgenden Wellen, der Kreis schließt sich immer wieder


Скачать книгу