Doggerland. Elisabeth Filhol

Doggerland - Elisabeth Filhol


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dann neigt man dazu, sie zu respektieren. Die Vorhersagemodelle haben eine gewisse Fehlermarge und sie nimmt sich ihre Freiheit, so dass bei jeder Aktualisierung der Grafikkarten, bei jeder Bildwiederholung, Xavers exzessiver Charakter, sein von Stunde zu Stunde wachsender Umfang immer deutlicher zutage treten, und damit auch die mit seiner Schönheit untrennbar verbundene Macht, das in ihm steckende Potenzial und die von ihm ausgehende Bedrohung.

      In einer Viertelstunde wird Ted Hamilton im Pressesaal erwartet. Er wirft einen Blick auf die Wanduhr, zieht sich dann in einen Winkel des Raumes zurück, in dem auf einem Podest eine ganze Batterie von Druckern steht. Dort oben kann er sich für einen Moment aus dem Geschehen herausziehen und sich zugleich einen Überblick über die Lage verschaffen. Er versucht, sich in regelmäßigen Abständen dem ständigen Fluss an zu bearbeitenden Informationen, den Bergen von dringenden Anfragen, der Notwendigkeit, schnelle Entscheidungen zu treffen, zu entziehen, sich von der allgemeinen Aufregung freizumachen. Dazu fühlt er sich umso mehr verpflichtet, als es beim Dienst nicht viele gibt, die durch ihren Status und ihre Funktion in der Lage sind, das zu tun, Abstand zu gewinnen, eine Standortbestimmung vorzunehmen, die Geschehnisse einzuordnen, den Begriff des größten anzunehmenden Schadensrisikos neu zu bewerten, den er auf ganz pragmatische Art und Weise als Angriff auf die Unversehrtheit von Personen versteht. Den Rest, den materiellen Schaden, den ökonomischen Preis, behandelt er, egal wie groß der Druck von außen ist, immer als zweitrangig. Während Xaver sich auf Europa zubewegt und sich weiter seinen Weg bahnt, macht Ted sich an die schwierige Aufgabe, eine Notfallskala zu erstellen, die dem gesunden Menschenverstand entspricht, und dabei nicht das Wesentliche aus dem Blick zu verlieren, die Belange der Bevölkerung, denn zugleich wetteifern alle darum, seine Schiedssprüche einem vielfältigen Bündel von Interessen zu unterwerfen. Er weiß, dass es so viele sich manchmal widersprechende Partikularinteressen gibt, wie es Kunden gibt, die einen Vertrag mit dem Met Office haben, von den Hochseefischern bis zu den Luftfahrtgesellschaften über die Offshore-Industrien, die Transportunternehmen, die Versicherungsgesellschaften, die Medien und natürlich die Gemeinden. Insgesamt sind es Tausende, aus dem privaten oder öffentlichen Sektor, denen das Institut seine maßgeschneiderten Dienste anbietet, über ein ausgedehntes Netz von Ingenieuren, Key-Account- und After-Sales-Managern. An einem Tag wie diesem und in dem Bewusstsein, dass die Küstenbewohner an vorderster Front sind, zögert Ted Hamilton nicht – mit dem Abstand, den er durch viele Jahre Berufserfahrung und eine gewisse Geisteshaltung gewonnen hat –, in der von einem Mitarbeiter verfassten Pressemitteilung den Ton zu verschärfen, um zu verhindern, dass durch eine stereotype Ausdrucksweise die Gefahr so weit heruntergespielt wird, dass manche Lokalpolitiker, das weiß er, Entwarnung geben und sich ins Bett legen könnten. Denn der für die nächsten Stunden angesagte Höhepunkt von Xaver über Großbritannien ist seiner Ansicht nach nicht zugleich der Moment, von dem die größte Gefahr ausgeht. Was ihm Sorge macht, und zwar noch etwas mehr als der Wind selbst, ist die Tatsache, dass eine Sturmflut, die das Wasser der Nordsee anschwellen lässt und zu einer hohen bis sehr hohen See nahe der Küste führt, zusammenfällt mit einem großen Gezeitenkoeffizienten. An den tiefer gelegenen Küstenabschnitten des Nordseebeckens im Allgemeinen und der Südküste Englands im Besonderen besteht bei extrem hohem Hochwasser auch ein extrem hohes Überschwemmungsrisiko. Die entscheidende Frage – soll man evakuieren oder nicht, den Notfallplan in Kraft setzen oder nicht? – dürften sich die zu einem Krisentreffen zusammengekommenen Bürgermeister der exponiertesten Gemeinden von Norfolk und Yorkshire bereits stellen, während sie, die Augen auf den Bildschirm geheftet, die Entwicklungen vor Ort verfolgen, mit Unterstützung der Fachleute des Met Office, die ihnen in Realzeit Analysen und Lageeinschätzungen zur Verfügung stellen.

      Bevor Ted Hamilton in den Pressesaal geht, zieht er eine Isobarenkarte aus dem Drucker, die dieser in regelmäßigen Abständen ausspuckt, und stellt sich an den Kaffeeautomaten. Gerade will er den Saal betreten, da überlegt er es sich anders und bittet einen Mitarbeiter um Kopien der vor wenigen Minuten herausgegebenen Unwetterwarnungen seiner europäischen Kollegen. Er wartet geduldig, eine Hand auf der Klinke, trinkt derweil seinen Kaffee aus und entsorgt den Becher in den rechts neben der Tür stehenden Edelstahl-Mülleimer. Er denkt an seine Schwester Margaret, mit der er gestern Abend telefoniert hat, an seinen Schwager Stephen, der für das Forewind-Konsortium arbeitet, und an ihren Plan, morgen früh von Aberdeen aus mit einem Direktflug nach Dänemark zu fliegen. Er lässt seinen Blick über den überfüllten Open-Space-Raum schweifen, über die Gesichter, denen die Anspannung angesichts dessen, was auf dem Spiel steht, und der Größe der Aufgabe, die vor ihnen liegt, deutlich anzusehen ist, und in dem Moment denkt er, dass diese Reise vielleicht nicht unerlässlich ist. Kurz spielt er mit dem Gedanken, sie anzurufen und sie zu überreden, ihre Abreise zu verschieben, dann gibt er die Idee mangels Zeit auf, aber nicht nur deshalb. Er ist sich nicht sicher, ob dieser Schritt Sinn macht, denn selbst wenn Margaret sich seinen Bedenken nicht verschließen sollte – und er denkt, dass er sie überzeugen könnte –, so wird Stephen bestimmt nicht von seinem einmal gefassten Entschluss abrücken. Er lebt in einer Welt, in der man die Windkraft als Ressource betrachtet, in der man Klimaereignisse als das letzte Ehrengefecht einer Natur einstuft, die früher, bevor man sie an die Kandare genommen hat, unbegrenzt geherrscht hat, und er, Stephen Ross, gehört seinem Selbstverständnis nach zu jener Kategorie von Männern, die innerhalb weniger Generationen die Tendenz umgekehrt haben, die das Kräfteverhältnis zu unseren Gunsten gekippt haben, und der beste Beweis dafür sind in seinen Augen die Offshore-Windparks, die er baut. Ted Hamilton begnügt sich damit, Margaret eine SMS zu schicken. Und um ganz sicherzugehen, nimmt er sich vor, im Morgengrauen beim Flughafen in Aberdeen anzurufen und sich bestätigen zu lassen, dass alle Flüge gestrichen wurden. Dann betritt er den Presseraum, wo der Kommunikationsdienst bereits an der Arbeit ist. Als er einige Minuten später in einer Doppel-Live-Schaltung auf den Bildschirmen von Sky News und BBC erscheint, wirkt er auf die, die ihn aus der Nähe kennen, größer, als er in Wirklichkeit ist, und zugleich ein wenig schmaler, während er sich redlich Mühe gibt, beim Sprechen den Ansatz eines Lächelns zu zeigen, oder zumindest nicht so streng oder barsch zu wirken wie sonst manchmal.

      Die Unwetterwarnung wurde herausgegeben. Der Sturm nähert sich den europäischen Küsten. Es ist mehr als ein Sturm, es ist ein Orkan, der da über dem Nordatlantik tobt, noch hat man keine Bilder von Meer und Wind, abgesehen von den Satellitenaufnahmen ist er bisher eine rein abstrakte Erscheinung, aber er steuert auf die Küsten zu, macht sich auf den Weg über den Atlantik, kündigt sich bereits auf hoher See vor den Britischen Inseln an, indem er etwas Regen vorausschickt, und noch vor Mitternacht wird er auf Land treffen, das steht fest. Fest steht auch, welchen Weg er nehmen wird, das ist mehr oder minder vorhersehbar, genau wie die Schäden, die er anrichten wird, auch wenn die Bevölkerung sich das derzeit noch nicht vorstellen kann. Er wird erwartet, er wird in die Annalen eingehen, er trägt bereits einen Namen, spricht man ihn deutsch aus, klingt er hart, das passt besser zu ihm, dennoch ist es schwer, an ihn zu glauben, man muss allein auf die Pressemitteilungen vertrauen, die auf Englisch, Deutsch, Niederländisch, Dänisch und Französisch herausgegeben werden. In allen Anrainerstaaten der Nordsee bei allen Wetterdiensten herrscht die gleiche Hektik, alle sind sich bewusst, dass etwas Ungewöhnliches bevorsteht, und sich hinter den Karten und Satellitenanimationen, über die der Durchschnittsbürger nicht verfügt, eine ganz reale Bedrohung verbirgt, und man ihn wachrütteln muss, damit er Vorsichtsmaßnahmen ergreift, seine Fähigkeit zum Selbstschutz wecken muss, die nur noch rudimentär ausgebildet ist, da er keine Angst hat, da die Natur, zu der er auf Distanz gegangen ist, ihm keine Angst macht, außer jenen, die noch in direktem Kontakt zu ihr stehen, den Seeleuten, den Beschäftigten der Offshore-Industrien.

      Nunmehr wird die Meldung in einer Dauerschleife auf allen Kanälen gesendet. Die Wissenschaftler vom Met Office beraten ihre Kunden, die auf der Nordsee arbeiten. Sturm Xaver hat gerade die im Nordwesten von Großbritannien gelegene Inselgruppe der Hebriden erreicht und wird als nächstes Schottland und Norfolk überqueren, bevor er in Richtung Skandinavien weiterzieht. Auf den vor Aberdeen gelegenen Bohrinseln beginnt man, die Plattformen zu sichern und die Arbeiter zu evakuieren. Das sie umgebende Meer wirkt bisher noch glatt. Aber der Wind hat zugelegt. Das Meer wird sich erheben, sich in Stellung bringen, nun seinerseits seine Stärke demonstrieren und darauf reagieren, es wird immer wieder gegen die Pfeiler der in der Dunkelheit hell erleuchteten Bohrinseln schlagen, und die werden weiter oben, in ihren Aufbauten, ins Wanken kommen durch den Windwiderstand, und es wird ihre Sockel erschüttern, ihre Betonverankerung


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