Doggerland. Elisabeth Filhol

Doggerland - Elisabeth Filhol


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Maß vorgeben wird wie ein Anemometer. Aber noch ist es nicht so weit, noch ist das Meer auf dem Weg, ist weiß und kaum strukturiert, hatte nicht die Zeit, so wie der Wind, dessen Geschwindigkeit mit dem Heranziehen der Front immer stärker wird, seine Kräfte zu bündeln und sich seinen Weg zu bahnen: Statt zum Sturm auf die Förderanlagen und Windparks anzusetzen, statt sich unter dem Bauch der Bohrinseln rund zu machen und den Zwischenraum in regelmäßigen Intervallen auszufüllen, bereit, sie im Ganzen anzuheben, treibt es nur kurze Wellen zwischen den Pfeilern hindurch und Schaumkronen in einen orangefarbenen Lichtkreis. Währenddessen nimmt die Windgeschwindigkeit zu, 25 Knoten, 30 Knoten werden auf den Anzeigetafeln in den Cockpits der Helikopter angezeigt, die gerade ihre letzte Runde aufnehmen, und an Bord der Transportboote, die sich mit ihrer Besatzung in Richtung Aberdeen aufmachen, während der Wind sich jetzt lautstark zu Wort meldet, von einer Stunde zur nächsten an Sicherheit gewinnt, mit der Faust ausholt und alles zu Boden drückt, was ihm Widerstand leistet.

      2

      Die tausend Kilometer, die Aberdeen von Exeter trennen, ziehen sich fast ausschließlich über die Breitengrade. Während die eine Stadt direkt vom Sturmtief überquert wird, hat die andere die beruhigende Gewissheit, seine Auswirkungen kaum zu spüren. In Exeter ist der Wind nur halb so stark wie in Aberdeen, dort hat er Windstärke elf, es wird also ein bisschen wehen. So wie in Cornwall oder den Niederlanden wird Sturmtief Xaver auch in der Grafschaft Devon nur in stark abgeschwächter Form auftreten und ohne den Medienwirbel, von dem er andernorts begleitet wird, im Strudel der vielen aufeinander folgenden Sturmtiefs dieses Winters geht er direkt unter. Südengland sollte in dieser Nacht normalerweise verschont bleiben. Fünf Wochen zuvor, am 28. Oktober, als Tief Christian die Saison eröffnete, war das jedoch nicht der Fall. Am Wochenende darauf, es war Ebbe, tauchte Ted Hamiltons Schwester Margaret unerwartet bei ihm auf. Zwei Studenten aus dem geophysikalischen Institut ihrer Universität begleiteten sie. Sie stellte sie ihm vor.

      »Karen und Kilian.«

      Die beiden waren Doktoranden im ersten Jahr und gehörten zu ihrem Forschungsteam. Alle drei hatten sich ab St. Andrews am Steuer abgewechselt, im Kofferraum lagen inmitten von Gummistiefeln und Eimern lauter Messgeräte und Equipment für Bodenprobenentnahmen. Er empfing sie am Ende der Fichtenallee, deren Zweige in den Weg ragten, weshalb er dabei war, sie zurückzuschneiden. Margaret fragte, ob sie wohl für zwei Nächte zwei Zimmer im ersten Stock belegen könnten. Statt einer Antwort deutete er mit einer an die Studenten gerichteten Geste auf die Fassade, als wollte er sagen, ›Seht her, was mir das Met Office hier für einen großen Kasten zur Verfügung gestellt hat‹.

      »Da drin gibt es Schlafzimmer und Betten ohne Ende, Platz habe ich mehr als genug.«

      Dann zeigte er ihnen die Villa von innen, der Bau aus dem letzten Jahrhundert war ursprünglich dafür entworfen worden, ganze Generationen kinderreicher Familien zu beherbergen. Inzwischen hat die Villa ihre besten Zeiten hinter sich und wird ganzjährig vermietet. Ted Hamilton lebt dort allein. Wer Margaret nicht gut kennt, mag sich wundern, dass seine eher häuslich veranlagte Schwester, die ihren regelmäßigen Tagesablauf schätzt, ganz Großbritannien durchquert, nur um einen Küstenabschnitt zu untersuchen, der vom Sturm heimgesucht wurde – ihn wundert das nicht. Zwar teilt er ihre Euphorie, ihre Begeisterung dafür nicht, aber er fühlt sich dabei ein wenig wie ihr heimlicher Komplize, ja, ist sogar erleichtert darüber. Es erleichtert ihn, dass sie sich einer Sache voll und ganz verschrieben hat, ihr Forscherdrang so groß ist wie am ersten Tag, sie unbeirrt ihrer Berufung folgt. Schließlich hat er miterlebt, wie diese Berufung vor fünfundzwanzig Jahren entstanden ist, und es erfüllt ihn mit Befriedigung, einen gewissen Anteil daran gehabt zu haben, selbst wenn er vielleicht nicht im Einzelnen sagen könnte, worauf sie genau beruht, woher ihre erst im Erwachsenenalter entstandene Leidenschaft für alles, was verschüttet ist und ausgegraben werden muss, eigentlich kam. Er verlässt sich auf seine Intuition, auf das, was er mangels eines großen psychologischen Gespürs dank der von ihm durchexerzierten Versuch-und-Irrtum-Methode über sie und ihre Reaktionsmuster hat herausfinden können, als sie jung waren, und mit Hilfe derer es ihm gelungen war, eine gewisse Schnittmenge zwischen ihnen herzustellen. Diese Intuition sagt ihm, dass die Südhälfte Großbritanniens, die nach der letzten Eiszeit doppelt vom Anstieg des Meeresspiegels betroffen war, da England sich, wie bei der Bewegung einer Waage, gesenkt hatte, während Schottland, befreit von der Last des Gletschers, sich gehoben hatte, dass diese vor der englischen Küste liegenden überfluteten Gebiete, die sie zu ihrem Studienobjekt gemacht hatte, einen für sie geradezu maßgeschneiderten Bereich darstellen, und in eben diesem Bereich können sie beide sich am Tag nach einem Sturm treffen, um zusammen die Küste Devons abzugehen.

      Schon in Aberdeen liebten sie es, gemeinsame Spaziergänge am Wasser zu unternehmen, er erinnert sich noch gut daran, wie sie an den Kais oder auch im Süden der Stadt auf dem in den Fels gehauenen Zöllnerweg entlanggelaufen sind, mal in Begleitung ihrer Brüder, mal ohne sie. Wenn die drei anderen Brüder nicht dabei waren, die See ruhig war, kein Wind ging, der einem ins Ohr pustete und einen umgab wie eine undurchdringliche Blase, kam es vor, dass sie anfing zu reden, ihren selektiven Mutismus durchbrach und die Distanz aufhob, die sie zu den anderen Brüdern wahrte. Und er, jedes Mal wieder überrascht und verblüfft, wenn sie so ihr Schweigen brach, war darüber so begeistert, dass er als Reaktion darauf wie ein Wasserfall auf sie einzureden begann, ohne zu merken, dass er damit die Flamme zum Erlöschen brachte. Aber sie liebten es auch, an Sturmtagen den langen Strand von Aberdeen entlangzulaufen, der durch die Straße und den Dünenkamm von der Stadt abgetrennt war. Da erübrigte sich das Sprechen. Selbst wenn sie hätten reden wollen, wäre es unmöglich gewesen, sich Gehör zu verschaffen, und die Tatsache, dass es so oder so unmöglich war, kam ihnen entgegen. Mal arbeiteten sie sich gebeugt gegen den Wind vor, sie an ihn geklammert und lachend, mal trieb der Wind, den sie im Rücken hatten, sie vor sich her, und sie rannten, dabei achtete er darauf, nicht zu schnell zu werden, und widerstand dem Reiz, sich treiben zu lassen, während sie ausnahmsweise die Kontrolle abgeben und sich der Kraft des Windes überlassen konnte, ohne dabei jedoch seine Hand loszulassen. Dabei lachte sie ihr junges, klares Lachen, das so unglaublich ansteckend war. Er erinnert sich an die Gischt, an diese schäumende, buttrig wirkende Masse, die den Strand bedeckte und in die sie ihre Hände tauchte, mit der sie ihre Ärmel befleckte und die sie einfach nicht zu fassen bekam, was sie nicht davon abhielt, es immer und immer wieder zu versuchen. Und wenn er, der zwei Jahre jünger war als sie, ihr dabei zusah, verspürte er den Wunsch, ihr den Weg zu weisen, möglichst lange an ihrer Seite zu bleiben, im nächsten Moment abgelöst von der Hoffnung, sie möge irgendwann alleine zurechtkommen, ihre Ängste und Dämonen hinter sich lassen und einen Ort finden, an dem sie sich aufgehoben fühlte und von dem aus sie ihre Rückkehr ins Leben in Angriff nehmen könnte, von dem sie sich ein ganzes Stück entfernt hatte. Es wundert ihn nicht, dass sie ausgerechnet ein solch verstecktes Gebiet, ein überspültes Stück Land, das nur momentweise freigelegt war, zum Ort ihrer Wahl und zu ihrem Rettungsanker erkoren hatte, und die Tatsache, dass sie darüber hinaus daraus ihren Beruf hatte machen können, beruhigt ihn.

      Fünfundzwanzig Jahre später verfolgt er aus der Ferne ihren beruflichen Werdegang, liest ihre Publikationen, empfängt sie in seiner Villa in Devon für eine Schatzsuche. So wie es Menschen gibt, die gerne Blitze beobachten oder Tornados in den weiten Ebenen des amerikanischen Westens, und die den Wetterbericht daraufhin überprüfen, wann die Bedingungen dafür ideal sind, so machen sich jedes Mal, wenn einer Springflut heftige Winde vorausgehen, oder genauer, durch diese Winde erzeugter starker Wellengang, all jene, die sich dafür interessieren, auf den Weg an die englische Küste und sammeln sich an den bekannten und vielfach beschriebenen Orten, oder an anderen, die bisher noch kein einziges Geheimnis, keinerlei Fundstück preisgegeben haben, die aber vielversprechende Kandidaten dafür sind. An solchen Tagen, an denen beides zusammenfallen soll, ein Sturm und eine Springtide, nehmen Profis oder auch Hobbysammler ihre Suche auf, mit dem Wissen, dass an einigen Orten, von Yorkshire über Norfolk und Cornwall bis zu den Niederlanden, Bäume zum Vorschein gekommen sind, nachdem die dicke Schicht Sand, die sie bedeckt hatte, am Vortag weggeschwemmt worden war. Baumstümpfe und liegende Stämme diverser Arten, Eichen, Haselnussbäume, Kiefern, Buchen, die man mit Hilfe der Radiokarbonmethode in die Zeit vor der Eisenzeit datieren konnte.

      Es war ein Frühlingsnachmittag, sie saßen zusammen


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