Doggerland. Elisabeth Filhol

Doggerland - Elisabeth Filhol


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Er lächelt. »Das ist im Grunde bis heute so. Ich tue mich manchmal schwer, die Dinge richtig einzuschätzen, zu unterscheiden, was Fiktion und was Realität ist. Das liegt daran, dass, wenn wir darüber reden, ich immer eine Brücke zwischen Kindheit und Erwachsenenalter schlage, und dadurch kommt alles Mögliche wieder hoch.«

      »Das Doggerland ist keine Fiktion.«

      »Ich weiß, es ist ein Stück Realität, das du rekonstruierst.«

      »Ich bin nicht die Einzige. So einige haben sich dieser Sache verschrieben.«

      »Seit ihr daran arbeitet«, sagt David, »seit du dieses Gebiet abläufst, weißt du da eigentlich wirklich, wonach du dort suchst, ist dir das klar?«

      »Nach Artgenossen. Nach Leuten wie dir und mir. Und nach dem Zeitraum, der zwischen ihnen und uns liegt, der Leerstelle, die es zu füllen gilt.«

      »Sind dir deine Zeitgenossen nicht genug?«

      »Scheinbar nicht …«

      »Dieser Ort kann uns möglicherweise etwas mitteilen, uns etwas lehren«, fügt Margaret hinzu.

      Er hat für sie genau die richtige Größe, ist weder zu groß, noch zu klein, ist zugleich begrenzt und offen. Begrenzt, weil er durch den Anstieg des Meeresspiegels vom Rest des Kontinents abgetrennt und so zur Insel geworden ist, offen, weil man so wenig über ihn weiß, dass er geradezu dazu einlädt, unterschiedliche Hypothesen über ihn anzustellen, Vermutungen, wie er ausgesehen haben könnte. Allerdings haben diese Darstellungen wenig damit gemein, wie die Bewohner des Doggerlands sich selber und ihr dann nicht mehr zugängliches Gebiet gesehen haben. Offen ist er auch insofern, als diese Menschen zwar ein ebenso hoch entwickeltes Gehirn hatten wie wir, aber einen ganz anderen Bezug zur Welt, und durch ihre Existenzweise, die sich von unserer heutigen stark unterschieden hat, besonders geschärfte Sinne. Zu gerne würde sie die Denkweise dieser Menschen durchdringen, aber dafür sind manche ihrer Kollegen besser gerüstet als sie. Also begnügt sie sich durch ihre Arbeit als Geologin damit, das Material aus dem Untergrund zu Tage zu fördern, das die Paläontologen benötigen. Nachdem sie die Umgebung rekonstruiert hat, die noch frei von jedem menschlichen Leben ist, gibt sie ihre Ergebnisse weiter und ist immer wieder aufs Neue fasziniert, welche Schlüsse sie daraus ziehen.

      »Ich liefere ihnen einen bewohnbaren Ort«, sagt Margaret, »und erhalte ihn bewohnt zurück. Dieser Ort eröffnet mir die Möglichkeit zur Zusammenarbeit, bietet Raum für einen Austausch, es ist ein Geben und Nehmen.«

      »Ist er für dich genauso real wie Dänemark oder die Niederlande?«

      »Auf jeden Fall konkreter als viele Länder, in die ich nie einen Fuß gesetzt habe.«

      »Bald fühlst du dich bei diesen Menschen wie zu Hause. Sie sind also unseresgleichen. Aber selbst wenn wir das gleiche Gehirn haben und den gleichen Planeten bewohnen, stößt du bei deiner Arbeit doch an Grenzen. Du besuchst die Erde, die sie trägt, lässt sie auf dich wirken, aber sie gibt dir nur begrenzt Auskunft, du wirst nie erfahren, in welcher Welt sie eigentlich leben.«

      »Genau, ihre Kultur bildet eine Barriere. Ich werde nie über die nötigen Codes verfügen. Sie gleichen uns, ja, und sind zugleich so verschieden von uns, dass es nur natürlich ist, dass wir Mühe haben, sie zu verstehen. Wir können das auf die Zeit schieben, die uns voneinander trennt. Auch wenn achttausend Jahre gemessen an der Menschheitsgeschichte nicht gerade viel sind. Die Menschen aus dem Mesolithikum haben keine Pyramiden gebaut, sie haben keine Megalithen errichtet, aber ihre Kultur ist deshalb weder ungeschliffen noch rudimentär. Vielleicht war ihre Gesellschaft im Ganzen betrachtet sogar lebenswerter als unsere, das ist gut möglich.«

      Was vom Doggerland übrig ist, die Doggerbank, ruht in fünfzehn bis dreißig Metern Wassertiefe quer über dem 54. Breitengrad. Einige betrachten sie als Fischfanggebiet, andere als eine Erhebung des Meeresbodens, die sich für die Verankerung von Offshore-Plattformen anbietet. Sie ist eine Art Furt inmitten der Nordsee, in der Dinge vorstellbar sind, die anderswo undenkbar wären, und zugleich, da stimmen alle Berichte überein bis hin zu denen von Kapitänen aus der Zeit der Segelschifffahrt, ist dieser Bereich, vor dem die Seeleute schon immer auf der Hut waren, an Sturmtagen eine der gefährlichsten Untiefen und besonders schwer zu umrunden, da sie sehr ausgedehnt ist. Sie hat die Ausmaße der Insel, die das Doggerland am Ende war, bevor auch sie endgültig von der Landkarte verschwand. Über die Art und Weise, wie sie untergegangen ist, gehen die Meinungen auseinander. Aber eins ist sicher, auf dieser Insel ließ es sich gut leben, besser als andernorts in Nordeuropa, und sie war mehrere tausend Jahre lang besiedelt.

      1985 brachte ein holländischer Fischer dem Paläontologen Dick Mol das neuntausend Jahre alte Gebiss eines Menschen und damit den allerersten Beleg für die Existenz des Doggerlands. Margaret erinnert sich, wie sie, eine Gruppe von etwa zehn Studenten aus St. Andrews und Birmingham, von dieser Nachricht elektrisiert waren und einige Jahre später die Keimzelle einer multidisziplinär arbeitenden Gruppe bildeten. Auf der Höhe des Thatcherismus fanden sie dort so etwas wie frischen Wind, und diese Art von Schatzsuche zog sie auf jeden Fall mehr in ihren Bann als der Run auf das schwarze Gold. Aber paradoxerweise verdankten sie ausgerechnet der Eisernen Lady und ihrer bedingungslosen Unterstützung der Erforschung und Ausbeutung der Offshore-Kohlenwasserstoffe die Beschleunigung ihrer Forschungen, da sie so unverhofft permanent mit geophysikalischen Daten versorgt wurden, die man am Grund der Nordsee gesammelt hatte.

      Das Doggerland wurde dank ihrer Bemühungen vor dem endgültigen Untergang bewahrt. Und umgekehrt. Mit Sicherheit hat das Doggerland auch sie gerettet, stellt es doch einen Schlüsselmoment in ihrem an Schlüsselmomenten nicht gerade reichen Leben dar. Das den Tiefen der See entrissene, in seiner Topografie täuschend echt rekonstruierte Doggerland, das sich auf der Weltkarte orten lässt und insofern absolut greifbar ist, das nachweislich so aussieht, wie sie es sich vorstellt, ist eben kein Werk der Fiktion, ist nicht ihrer Phantasie entsprungen, sondern, nachdem es einmal kartografiert und seine Flora und Fauna dank ihrer täglichen Erkundungstouren inventarisiert waren, ein Ort, an dem sie ihren Mitmenschen entkommen und anderen Mitmenschen begegnen kann, Menschen, die ihr ähneln und die zugleich ein bisschen anders sind, und zwar in genau dem Maße anders, das nötig ist, um ihre eigene Andersartigkeit damit zu kaschieren, um ihre Schwierigkeit, die Wahrnehmungen, Codes und Bräuche der anderen zu teilen, darauf schieben zu können. In ihrem Forschungslabor beschränkt sie sich darauf, den einen oder anderen Umweltparameter zu verändern und sich vorzustellen, wie Menschen, die dort leben, sich daran anpassen können, rein materiell betrachtet, unabhängig von Riten und vom Glauben. Eine Spezialistin für alte Kulturen wäre auch nicht anders vorgegangen, nur musste man sich, um das zu sein, in seiner Umgebung, seiner Herkunftsgesellschaft so beheimatet fühlen, dass man den Unterschied ermessen konnte. Sie hingegen fühlt sich bereits unter ihren eigenen Zeitgenossen ein wenig wie eine Ethnologin, die sich ständig auf unbekanntes Terrain begibt und bezüglich Verhaltensweisen und Sozialisationsregeln alles neu erlernen, sich alles neu aufbauen muss. Seit ihrer Geburt macht sie einen Prozess der Akkulturation durch, so zumindest ihre Einschätzung, ohne jedoch eine Herkunftskultur zu haben, auf die sie sich stützen kann. Sie sind fünf Geschwister und sie ist das einzige Mädchen, insofern schob sie ihr Anderssein zunächst auf ihr Geschlecht, das war lange Zeit die einzig naheliegende Erklärung, die sie hatte und die ihr Gefühl rechtfertigte, nicht dazuzugehören. Es war ihr Glück, dass sie als einziges Mädchen unter lauter Brüdern, das sich in seine Phantasiewelt zurückzog, um sich vor Eindringlingen von außen zu schützen, diesen Sonderstatus hatte. Er lieferte ihrer Familie eine einfache Erklärung, denn wäre sie inmitten von vier Schwestern mit den gleichen Vorlieben und Sorgen so isoliert gewesen und hätte sich derart in ihre eigene Welt geflüchtet, hätte das natürlich Fragen aufgeworfen.

      Sie setzte sich damals oft ans Ende der Mole, mit Blick aufs Meer, das sich manchmal farblich kaum abhob, Himmel und Meer eine Einheit, und das manchmal in ein unwirkliches Licht getaucht war. Sie beobachtete die Schiffe bei der Ein- und Ausfahrt aus dem Hafen, und die vor Aberdeen wartenden Versorgungsschiffe. In diesem Moment fühlte sie sich als Teil einer Gemeinschaft, es spielte keine Rolle, ob jemand zur See fuhr oder nicht, davon lebte oder nicht, alle waren ihr zugewandt. Alle Nordseevölker teilten unausgesprochen die gleiche Vergangenheit. Die Küstenbewohner sind mit der Nordsee groß geworden, fühlen sich durch sie eng verbunden,


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