Doggerland. Elisabeth Filhol

Doggerland - Elisabeth Filhol


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mit dem unberechenbaren Charakter, von dem man nie weiß, was er im Schilde führt, die Stirn bieten. Ihr Verhältnis zu ihr war lange ambivalent, schwankte zwischen Liebe und Angst. Das ist teilweise bis heute so. Alle, die mit ihr zu tun haben, lieben sie so wie sie ist. Sie verzeihen ihr ihre Wutausbrüche, die von einem Moment auf den anderen in rohe Gewalt münden. Weil das nun einmal ihr Wesen ist. Das Wesen eines nördlichen Meers. Man könnte es sich natürlich südlicher erträumen, friedlicher und wärmer, so wie es früher auch mal war, aber eben jetzt nicht mehr ist. Alle, die sie gut kennen, glauben, dass diese Gewalt, die Konfrontation mit ihrer Gewalt, die immer ihren Preis hat, sie einander nahebringt, ihre Mentalität prägt, von Schottland bis Dänemark, von Norwegen bis zum Pas-de-Calais. Ein Teil ihrer gemeinsamen Kultur geht auf sie zurück, auf den Umgang mit ihr, die Reichtümer, die sie verschafft, die Zerstörungen, die sie anrichtet, die Menschen, die sie für immer verschlingt. Das und noch viel mehr. Vieles, was sie gemein haben, haben sie vergessen. Vieles an Wissen ist verloren gegangen, und die Kultur ihrer Vorfahren, die sich rund ums Nordseebecken niedergelassen haben, bildet nur den Rand dessen. Die Ränder sind einem ständigen Spiel der Kräfte unterworfen, und diese äußersten Ränder einer Insel von der Größe des heutigen Belgiens sind gar nicht so fern, liegen nur zweihundert Kilometer weiter im Norden. Der Schatten dessen, was nicht mehr da ist, lastet auf ihnen. Der Schatten dessen, was noch da sein könnte, wenn die Schmelze des Eisschildes früher zum Stillstand gekommen wäre und der Meeresspiegel dreißig Meter tiefer läge. Dieses Gebiet war einmal ein entscheidender Teil Europas und fehlt nun. Es war reich an Gebräuchen, an religiösen Überzeugungen, ein Ort, der zu Kooperationen führte, aber auch Rivalitäten erzeugte, ein Ort des Austauschs. Dieses Erbe tragen wir mit uns herum. Er ist nicht wirklich weg. Er ist auf indirekte Art immer noch da. Ein Gebiet, das heute mehr denn je Begehrlichkeiten weckt, in Unkenntnis dessen, was es einmal war.

      Selbst wenn das Doggerland nicht dieser gesegnete Landstrich ist, der ex nihilo den Menschen aus dem Mesolithikum zum Geschenk dargebracht wurde, selbst wenn es Jahrhunderte unermüdlicher Eisschmelze gebraucht hat und den Rückzug der Gletscher nach dem Beginn der Klimaerwärmung, der zu einer noch nie da gewesenen Ausbreitung der Fauna und Völker geführt hat auf einer vorläufigen und größeren Version Europas, selbst wenn das alles erst nach und nach entstanden ist, nachdem das durch den Permafrost an der Oberfläche gebundene Wasser freigegeben wurde, selbst wenn die Tundra länger standgehalten hat als die Taiga und die Taiga länger als der gemäßigte Wald, geben uns die Pollen, die man durch Kernbohrungen zu Tage gefördert hat, darüber Auskunft, dass sich etwa 8000 vor Christus eine Art Gleichgewicht abzeichnet und es anschließend nur noch eines Bäumchen-Wechsel-Dich-Spiels bedurfte zwischen den Laubbaumarten, bis sich herausstellte, welche endemische Art am Ende das Rennen machte. Auf dem langen Weg bis zu diesem Gleichgewicht kommen viele Parameter ins Spiel und tragen Etappe für Etappe dazu bei, aus diesem Gebiet einen Garten Eden zu machen. Währenddessen steigen die Meeresspiegel der Ozeane weiter an, sie dehnen sich immer weiter aus, und irgendwann ist dann der Punkt erreicht, an dem die riesige Schwemmlandebene der Nordsee unwiderruflich überflutet wird. Aber das ist ein langsamer Prozess, und er geht einher mit einem milderen Klima, so als würde die Ebene zu einem niedrigeren Breitengrad herabsteigen, und als Ausgleich zu den damit einhergehenden, steigenden Temperaturen die Konzession eines Gebietsverlustes leichter verschmerzen können. Sicherlich ist das Doggerland während des gesamten Mesolithikums in einem ständigen Wandel begriffen, und zwar in fast jeder Hinsicht, angefangen bei seiner Kartografie. Richtig ist aber auch, dass im Hinblick auf Ressourcen, welche die Menschen zum Leben benötigen, und zwar nicht zum bloßen Überleben, sondern zu einem angenehmen Leben, alles da ist, zu ihrer freien Verfügung, in Hülle und Fülle, und das ist selbst auf der Inselversion des Doggerlands noch so, der konzentrierten, kompakteren Version, die dennoch so ausgedehnt ist, dass es in puncto Biodiversität den Tausenden in Clans organisierten Menschen das Nötige und auch das Überflüssige bietet. Sie werden eine Kultur entwickeln, die der ihrer Cousins vom Festland gleicht und doch eigen ist. Bevor das Doggerland überflutet wurde, war es eine prosperierende Insel. In den Lagunen im Schutz der Dünenketten gab es Fisch im Überfluss und brütende Vögel. Was nach dem Ende der Eiszeit ein anarchisches Wirrwarr von Strömen und Flüssen war in einer steinigen Landschaft, bewässerte in einem komplexen, aber stabilen hydrografischen Netz die Auen, es ermöglichte den Menschen, an den Flussufern zu siedeln, einem präzisen Rhythmus folgend und einer nicht minder komplexen Aufteilung des Territoriums zwischen den unterschiedlichen Gruppen. In der Ebene wuchsen Wälder aus Buchen, Erlen, Eichen und Haselbüschen. Ein See so groß wie der Genfer See, der Outer Silver Pit, der in anderen Zeiten dem Gletscher als Überlauf gedient hatte, dehnte sich in südwestlicher Richtung der Insel aus, an seinen Ufern wuchs Röhricht, es gab feine Sandstrände und Kiefernwälder. Die größten Mündungsgebiete gingen in ein Delta über. Und selbst da, in den Feuchtgebieten, den Salzwiesen, auf dem bei Ebbe riesigen Watt, genügte es, sich zu bücken und die Hand auszustrecken, um etwas zu erhaschen. Ein verlorenes Paradies, sagte David, als sie ihm diese Geschichten erzählte. Es gibt kein verlorenes Paradies, denkt Margaret, nur die Sehnsucht danach, im Einklang mit einer Umgebung zu leben, die einem alles gibt, was man braucht, und das über Dutzende von Generationen hinweg.

      Je mehr Wissen man im Lauf der Zeit zusammenträgt, je präziser die Topografie wird, die Morphologie des Ganzen, die Zusammensetzung der Böden, die Flora und Fauna, und je größer die Flächen sind, die man per 3D-Computer-Modellierung darstellen kann, desto mehr läuft man das Doggerland so ab, wie es die Menschen im Mesolithikum taten. Man bekommt nach und nach eine immer genauere Vorstellung ihrer Lebensweise, der Verfahren, mit denen sie die vorhandenen Ressourcen nutzten, aber man wird nie etwas über ihre Kosmogonie erfahren, ihre Sitten und Gebräuche, ihre Künste, die im Gegensatz zu denen des Paläolithikums nur wenige Spuren hinterlassen haben. Man kann ihr Land wieder auferstehen lassen, es aus dem Wasser retten, es dem Vergessen entreißen, und kann ganz konkret, mit Hilfe unserer Art des Denkens und durch Analogien zu anderen, weniger alten Kulturen, wie der Kultur der Native Americans, versuchen, eine Phase zu rekonstruieren, die womöglich eine der letzten war, in welcher der Mensch im Einklang mit der ihn umgebenden Natur lebte, bevor es zur Neolithischen Revolution kam, und versuchen, darüber nachzusinnen, daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Man spürt es, ganz intuitiv, dass es da diese Atempause gab, als die Menschen begannen, sesshaft zu werden, als die Bevölkerungsdichte auf diesem begrenzten Gebiet anstieg, und sich die organisierte Bearbeitung der Ressourcen abzeichnete, aber noch ohne die damit verbundenen Nebenwirkungen, das Horten, den Besitz, die Arbeit und den andauernden Krieg, um all das zu verteidigen.

      Dieses Areal war bewohnt und versank im Meer. Entweder es wurde innerhalb eines Tages und einer Nacht durch eine Flutwelle ausradiert oder nach und nach überflutet. Dazu gibt es unterschiedliche Thesen, aber in einem sind die Spezialisten sich einig: Als die Neolithische Revolution die Anrainerländer der Nordsee erreichte, war das Doggerland bereits verschwunden. Es ist von den europäischen Gründungsmythen ausgeschlossen, aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt. Kann man in dieser Amnesie die Folge eines allmählichen Rückzugs der Insulaner aufs Festland sehen, der sich über mehrere Jahrhunderte hinzog? Schön, wenn das wahr wäre. Es gibt kein verlorenes Paradies, nur ist es schlicht unmöglich, eine unglücklich verlaufene Trennung zu vergessen. Wäre alles gut verlaufen, gäbe es keinen Grund zur Wehmut. Der einzige Verlust, der nicht wiedergutzumachen ist, ist der, den man in sich trägt, dem man in seinem Inneren Exil gewährt. Manche erholen sich davon wieder, andere nicht. Und Margaret gehört zur Kategorie jener, die daraus ein Forschungsobjekt gemacht haben, um diesen Verlust besser zu verwinden. Diesen unergründlichen Ort in ihrem Inneren, der sich nicht topografisch verorten lässt, zu dem sie von Anfang an keinen Zugang hatte, zu dem der Zutritt verboten war und von dem sie sich in der Folge also trennen, langsam lösen musste, den hat sie in die hinterste Ecke verbannt und durch diesen weißen Fleck ersetzt, der noch zu erobern ist, der mitten in der Nordsee neu geschaffen werden muss. Es ist wie eine Trauer um etwas, das nicht existiert, also eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, Trauer um etwas, auf das man nicht zurückblicken und das man nicht wiederherstellen kann, und das, will man es hinter sich lassen, einen zwingt, eine Reise in andere Gefilde anzutreten, zu einem anderen Ort, den man zunächst von den Küsten aus begreift, die ihn fest umschließen und erst dann erforscht. Sie liebt die Ränder für das, was in ihrer Mitte ist, für das, was sie begrenzen. Zunächst hat sie an den Konturen gearbeitet, hat den Umriss des Doggerlands auf ihren Zeichnungen schwarz nachgezeichnet,


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