Doggerland. Elisabeth Filhol

Doggerland - Elisabeth Filhol


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erahnen kann und der man in einer zweiten Phase versuchen muss, eine Beschaffenheit zu geben. Aber es ist eine unglaublich langsame Arbeit, eine Suche, die keine Grenzen kennt, das weiß sie sehr gut. Während einige ihrer Kollegen von der Universität ihre Kräfte bündeln, den Leuten die Türen einrennen, privaten Finanzierungen oder Subventionen nachjagen, während sie an die Öffentlichkeit gehen, Debatten lostreten, sich in Rage reden, vor der exzessiven Ausbeutung der Doggerbank warnen, Seminare organisieren, Symposien, Ausstellungen, die sich an das breite Publikum richten, während sie Gemeinwohl und privatwirtschaftliche Interessen zugunsten ihrer Forschungen in Einklang bringen, während sie einen Pakt mit dem Teufel eingehen, wie David sagen würde, während sie mit Firmen und Marktforschungsunternehmen zusammenarbeiten, während sie ihrem Forschungslabor das Überleben sichern, ihre Teams anleiten, ehrgeizige Programme ins Leben rufen, widmet sie, Margaret, sich ausschließlich der reinen Forschung. Sie erkennt an, dass die Aktivitäten der anderen unerlässlich sind, aber beteiligt sich nicht daran, oder kaum, zumindest nicht in dem Maße, wie man es von ihr erwarten würde, wenn sie bereit wäre, die Führung des Labors zu übernehmen. Das hat sie jedoch wiederholt abgelehnt, auch wenn ihre Qualitäten als Forscherin unbestritten sind und sie in jedem Fall die dafür nötige Legitimation hätte, doch das ist eben ein anderes Betätigungsfeld und sie würde sich dann nicht mehr dem Allerwichtigsten widmen können, dem, was sie gerne tut und was ihr eine Struktur gibt, der Arbeit vor Ort, die man normalerweise ab einem gewissen Alter aufgibt, um sich anderen Aufgaben zu widmen.

      Gestern Nachmittag also sitzen sie beide, David und sie, sich an ihrem Esstisch gegenüber. Während sie am Bildschirm ihr Exposé herunterscrollt und die Ideen sammelt, die fächerübergreifend von Interesse sind, ihre Grundthesen, die im Gegensatz zu den Überschriften über den einzelnen Abschnitten nicht unbedingt auf ersten Blick zu erkennen sind, greift David sich das Programm des Kongresses von Esbjerg, das auf dem Tisch liegt. Der Titel der Ausgabe von 2013 lautet: Offshore industry and Archaeology, a creative relationship. Darin werden die Kooperationen zwischen Forschung und Industrie der letzten Jahre aufgelistet, eine seiner Mutter zufolge fruchtbare Zusammenarbeit. Er jedoch betrachtet sie mit gemischten Gefühlen und hat so seine Zweifel, dass sie und ihre Kollegen langfristig wirklich davon profitieren werden. Nachdem er die Liste der Referenten überflogen hat, spult er laut Namen herunter, die von verschiedenen Anrainerländern der Nordsee stammen, und die Namen der Firmen, für die sie arbeiten, Ölkonzerne, Windparkbetreiber, Consulting-Firmen, Gesellschaften, die spezialisiert sind auf die Erhebung von bathymetrischen und seismischen Daten, die ganze kleine Welt der Offshore-Industrie eben, und mittendrin die Wissenschaftler. Sie begegnen sich dort und ergreifen abwechselnd das Wort: Berichte über Ausgrabungen, Projektpräsentationen, Studien zur Umweltverträglichkeit, technische Innovationen. Normalerweise haben diese Leute nichts miteinander zu tun, stellt David fest, sie kommen aus unterschiedlichen Welten und haben eigentlich völlig gegensätzliche Interessen. Das ist so, als würden sich David und Goliath zusammentun. Der eine ist vom Wissensdurst getrieben, der andere hungert nach Profit, der eine möchte Erkenntnisse sammeln und mit anderen teilen, sagt er und schaut dabei seine Mutter an, während der andere den Hals nicht voll bekommt und deshalb so lange Öl fördert, bis er den letzten Tropfen aus dem Boden geholt hat.

      »Die Universität kann uns für unser Forschungsprojekt nur lächerliche Mittel zur Verfügung stellen«, merkt Margaret an. »Wenn man unterseeische Ausgrabungen machen will, kommt man nun einmal nicht an ihnen vorbei, nur über sie hat man Zugang zu dieser Masse von Daten, die man dann informatisch verarbeiten kann, analysieren, extrapolieren, zu denen man Hypothesen aufstellen kann. In Stonehenge hat man es leichter, da läuft man ein Stück Erde ab. Das Doggerland ist aber nun einmal unter fünf bis zehn Meter tiefen Sedimentschichten verschüttet, bei einer durchschnittlichen Bodentiefe von zwanzig Metern, und dann auch noch über hundert Kilometer von der Küste entfernt. Wenn wir da mitmischen möchten, sondieren, bohren, kartografieren, 3D-Modelle erstellen, dann brauchen wir Drittmittel.

      Es gibt nur wenige Meeresgründe auf dem gesamten Globus, die so systematisch erforscht worden sind wie der Meeresgrund der Nordsee, in diesem Umfang, in dieser kurzen Zeit, unter diesen extrem harten Bedingungen. Dafür wurden gigantische Summen eingesetzt und ein Heer von Arbeitskräften aufgeboten. Wenn wir also Zugang zu bestimmten Datensätzen der Industrie bekommen und die Ressourcen der Unternehmen, die in der Unterwasser-Erkundung am weitesten fortgeschritten sind, in den Dienst der öffentlichen Forschung gestellt werden, eröffnet man damit den Zugang zu vielen Forschungsfeldern, die uns bisher verschlossen waren.«

      »Habt ihr denn keine Angst, dass ihr dafür eine Gegenleistung erbringen müsst?«

      »Es gibt ja schließlich ein Gesetz zum Schutz des archäologischen Erbes oder zumindest soll es dazu dienen. Alle diese Aspekte werden in Esbjerg am letzten Tag Thema sein und debattiert werden«, sagt Margaret. »Regeln, Regulierung, Harmonisierung und bewährte Verfahren. Das ist das Thema des letzten, halben Konferenztages.«

      Er wirkt nicht überzeugt. Sie kennt ihren Sohn, es braucht schon etwas mehr, um ihm seine Zweifel zu nehmen und ihn dazu zu bringen, sein Urteil zu überdenken. Das stört sie nicht. Sie ist daran gewöhnt, dass er radikale Positionen vertritt oder zumindest nicht gerne einlenkt. Es wäre für sie eher ein Grund zur Beunruhigung, wenn er in seinem Alter anders reagieren würde. Außerdem tut es Stephen und ihr ganz gut, wenn sie ab und zu mal ein bisschen in ihren Grundfesten erschüttert werden, ihre Überzeugungen und Denkmuster einem Stresstest unterzogen werden, selbst wenn David dabei manchmal übers Ziel hinausschießt. Jetzt gerade zum Beispiel prognostiziert er ihr nichts Geringeres, als dass ihr Studienobjekt bald nicht mehr existieren wird, sein Verschwinden quasi programmiert ist, unausweichlich, durch die immer expansionistischere Ausbeutung der Doggerbank, von der sie momentan zwar noch profitiert, aber eben nicht mehr lange.

      »Die Schleppnetze haben doch schon sämtliche Fossilien aus der Untiefe weggefischt.«

      »Viele davon sind bei uns gelandet«, sagt Margaret.

      »Die meisten sind für immer verloren. Diesen Zugang zu Informationen, diese Zusammenarbeit mit der Industrie, müsst ihr teuer bezahlen, aber euch ist ja kein Preis zu hoch, wenn ihr nur mit Daten für eure Forschungen versorgt werdet, in der Hinsicht seid ihr einfach unersättlich. Nur habt ihr es leider mit jemandem zu tun, der noch gefräßiger ist als ihr, jemand, der euch gut kennt, der euch durchschaut hat, der weiß, welche Opfer zu bringen ihr bereit seid.«

      »Das ist nun einmal das Prinzip der Präventiven Archäologie. Sie verdient diesen Namen eigentlich nicht, da gebe ich dir Recht. Denn schließlich geht es dabei nicht darum, die Ausgrabungsstätte zu schützen, oder nur ausnahmsweise, wenn man einen außergewöhnlichen Fund macht. Das Doggerland ist eine mesolithische Enklave inmitten der Moderne, einige von uns würden ihr gerne zu neuem Leben verhelfen, und unsere Zeit gibt uns dafür die Mittel. Unsere Arbeit ist nur insofern präventiv, als wir verhindern, dass Informationen verloren gehen, indem wir Daten erheben, Proben entnehmen, bestimmte Materialien sammeln. Das ist an Land nicht anders. Man baut einen Parkplatz, eine Autobahn, einen großen Kanal, und die Arbeiten werden während der Ausgrabungen ausgesetzt oder verlangsamt, aber es ist immer ein Wettlauf gegen die Zeit. Denn früher oder später wird alles, oder fast alles, zerstört werden.«

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