Doggerland. Elisabeth Filhol

Doggerland - Elisabeth Filhol


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Niederlanden daraufhin einen zweihundert Kilometer langen Schutzwall errichtete. Moderatoren und geladene Experten improvisieren, geben eine Warnmeldung nach der anderen heraus, noch stehen sie nicht unter Hochspannung, noch reden sie sich nicht die Köpfe heiß. Insgeheim dankt man Xaver für sein Timing, denn er hätte ja auch zur besten Sendezeit heranstürmen können.

      Der Sturm breitet sich aus, in ganz Großbritannien herrscht Warnstufe Rot, man hat sich in seinen vier Wänden eingeigelt, der überwiegende Teil der Bevölkerung schlummert seelenruhig, obwohl sich draußen vor ihrer Tür ein solches Ausnahmeereignis abspielt. Manche schlummern sogar deshalb so gut, weil sie sich im Kontrast dazu hinter der schützenden Wand in der Wärme ihres Zimmers besonders sicher fühlen. So ergeht es zum Beispiel David Ross, dem Sohn von Stephen und Margaret, der in der Villa seiner Eltern an der Queen’s Terrace in St. Andrews eine Einzimmerwohnung im Gartengeschoss bewohnt und in regelmäßigen Abständen durch das Knarzen der alten Holzveranda aufwacht, von der man nicht weiß, ob sie dem Sturm standhalten wird. Jedes Mal, wenn er in diesem komaähnlichen Zustand kurz davor ist, wieder einzuschlafen, lauscht er einen Moment lang auf das Heulen und Pfeifen draußen, um das wohlige Gefühl, in seinem warmen Bett zu liegen, noch etwas länger auszukosten. Dort unten bekommt er von dem Kommen und Gehen oben nichts mit. Er hört noch nicht mal, wie das Parkett über seinem Kopf knarrt, als seine Mutter aufsteht. Er liebt es, dem Wind draußen zu lauschen. Selbst an einem Tag wie heute, vor allem an einem Tag wie heute, wenn Wind und Wasser zugleich in Aufruhr sind. Er liebt dieses Toben, vor dem ihn die Mauern beschützen, dieses Gefühl inneren Friedens, das erst durch die Gewalt der Ereignisse draußen entsteht, und die absolute Gewissheit, außerhalb ihrer Reichweite zu sein. Schon als Kind liebte er es, auf dem Boot in seiner Koje liegend, den Wind und den Regen zu hören, wenn der Sturm draußen das hektische Klirren der Flaggleinen an den Masten übertönte und das Boot, das Innere der Kajüte, vom Rest des Hafens abgetrennt zu sein schien. Nur den Lärm der Trosse, das Knirschen und Ächzen der schlecht vertäuten Haltetaue übertönte er nicht. Ihr Klagen, das vermutlich nur deshalb an die Oberfläche kam und sich seinen Weg übers Wasser suchte, weil es eine besonders schrille Frequenz hatte und sich ständig wiederholte, drang bis an sein Ohr. Er liebte es, im Trockenen zu sein, es warm zu haben, wenn der Regen in Böen aufs Ufer traf und so heftig gegen die Fenster der Steuerkabine hinter der Trennwand prasselte, dass er klanglich mit dem Brüllen des Windes mithalten konnte. Er liebte es, sich vorzustellen, er wäre jetzt auf offener See, würde mit Erfolg gegen die Elemente kämpfen, in dem beruhigenden Gefühl, dass sein Kutter, der schon so manche Bewährungsprobe hinter sich hatte, standhalten würde. Dabei war er voller Bewunderung für diesen Onkel, der erst spät, nach seiner Rückkehr von den Falklandinseln, in ihr Leben getreten war, ihren Horizont erweitert und ihnen einen ganz neuen Blick auf die Nordsee eröffnet hatte, ihm und dem Rest der Familie, die aus lauter Landratten bestand. Beagle lautete der Name des Trawlers. So hieß auch das Segelschiff, auf dem Charles Darwin damals zu seiner Südsee-Expedition aufgebrochen war, aber möglicherweise wusste sein Onkel das gar nicht. Die ersten beiden Werke Darwins, Die Fahrt der Beagle und Über die Entstehung der Arten, stehen neben der Originalausgabe von Submerged Forests in einem der Bücherregale im Wohnzimmer, ein Durchgangszimmer, das nach vorne ebenerdig zur Straße liegt, während es nach hinten, zum Garten hin, im ersten Stock liegt, weil das Gelände ein starkes Gefälle hat. Der Flur, der von vorne nach hinten durchgeht, ist mit schwarz-weißen Zementfliesen im Schachbrettmuster ausgelegt. Im Oberlicht über der Eingangstür zieht der Himmel wie ein Filmausschnitt im Schnelldurchlauf vorbei, nur schwach erleuchtet. Oder, wenn die Sonne zwischen den Wolkenbergen hindurchblitzt, ab und zu auch mal heller angestrahlt.

      So gering der Lichteinfall auch ist, er genügt, um die Dunkelheit im Flur zu durchbrechen, so dass Margaret Ross, wenn sie aus dem Badezimmer kommt, den Weg zum Wohnzimmer findet, oder sie schaltet, ohne lange zu überlegen, das Licht in der Vitrine an, die den Flur indirekt beleuchtet und in der einige Stücke aus ihrer Sammlung ausgestellt sind, die sie sich aufgebaut hat, als die Fischer noch regelmäßig archäologische Fundstücke in ihren direkt über der Doggerbank ausgerichteten Schleppnetzen fanden. Normalerweise klingelt ihr Wecker eine Stunde später, dann macht sie sich leise fertig und geht zu Fuß zu den an der Promenade liegenden Gebäuden, in denen das Labor untergebracht ist, in dem sie arbeitet. Sie nutzt die fünfzehn Minuten Fußweg, die sie, wenn es nicht regnet, verdoppelt, in dem sie noch einen Abstecher zu den Ruinen der Kathedrale macht, um sich mental auf das einzustellen, was sie erwartet, um zu ihrer Basis zu finden, von der aus sie den Faden zu ihrer Arbeit und ihrem sozialen Umfeld wieder aufnehmen kann. Heute bricht sie mit dieser Gewohnheit und bereitet sich auf einen Flug in die Hafenstadt Esbjerg vor, an der Westküste Jütlands, wo der alljährliche Kongress der dänischen Unterwasserarchäologen stattfindet. Man erwartet vierhundert Teilnehmer, es gibt etwa zwanzig Gesprächsrunden oder Runde Tische, neben der Kongresshalle stehen diverse Konferenzräume und eine Ausstellungshalle zur Verfügung, und es gibt ein Abschluss-Dîner. Und nun lässt sich das alles komplizierter an als gedacht. Zumindest für die, die wie Stephen und sie dafür noch die Nordsee überqueren müssen.

      Das Wohnzimmer der Familie Ross ist gemütlich eingerichtet, mit einem Mix aus ziemlich unterschiedlichen Materialien. Im ersten Moment hat man den Eindruck, eine wohnzimmerartige Hotelbar einer internationalen Kette zu betreten, und so wie dort stellt sich sogleich ein Gefühl von Behaglichkeit ein, es hat den gleichen wenn nicht unpersönlichen, so doch zeitlosen Touch und verbreitet eine Atmosphäre, die man als cosy bezeichnen würde. Eine dieser Hotelbars, in denen man jeden Monat einen anderen Künstler der Stadt ausstellt, um ihm die Möglichkeit zu geben, seine Arbeiten zu zeigen und zum Verkauf anzubieten. In diesem Monat wäre dieser Künstler dann eben zufälligerweise Kevin Hamilton, Margarets jüngster Bruder. Richtig ausgeleuchtet wäre dieses Bild kaum kompatibel mit seiner Umgebung, aber durch die heruntergedimmte Beleuchtung wirkt es weniger krass und fügt sich trotz seines radikalen Charakters, der sich erst bei näherem Hinsehen herausstellt, in das Ambiente ein und trägt auf seine Art zu dem eine Spur unkonventionellen und anheimelnden Charakter des Raumes bei. Die gegenüber der Couchgarnitur nach Süden ausgerichtete Essecke, mit einem Tisch aus hellem Holz in der Mitte und vielen Bücherregalen an den Wänden, dient Margaret zugleich als Arbeitsplatz. Sie hat zwar ein Büro im Gartengeschoss, aber dort ist es nicht so hell und sie hat ihre Bücher nicht griffbereit.

      Gestern Nachmittag setzte David sich ihr gegenüber, während sie letzte Korrekturen an ihrem Vortrag vornahm. Er sah ihr wortlos dabei zu und checkte in seinem auf Vibrieren gestellten Handy seine Termine für den Nachmittag. Da fragte sie ihn unvermittelt, ob er damit einverstanden wäre, wenn sie ihm zwei, drei ihrer Ideen vortrüge.

      »Ich habe dir jetzt schon so viel darüber erzählt«, rechtfertigt sich Margaret, »dass du dich inzwischen ganz gut damit auskennen dürftest.«

      Er nickt. Hatte er denn die Wahl? Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als darauf einzugehen, sich für das zu interessieren, was sie begeistert, denn er ist sich ziemlich sicher, dass sie ihm bereits davon erzählt hat, als er noch in der Wiege lag.

      »Man kommt kaum umhin, dir in dein Universum zu folgen«, sagt David lächelnd.

      »Es ist nicht weniger interessant als andere.«

      »Das leugne ich gar nicht.«

      »Andere, die virtueller sind und dich mehr in ihren Bann ziehen …«

      »Klar, da gebe ich dir Recht.«

      »War es für dich denn wirklich so schwierig, dich auf diese Welt einzulassen?«

      »Das habe ich nicht gesagt.«

      Er legt sein Handy beiseite und schaut auf.

      »Aber es hat schon eine Weile gedauert.« Er überlegt kurz. »Es hat gedauert, bis ich verstanden habe, wo wir uns da eigentlich befanden, was wir da wollten, ob es ein reales Land war oder nur ein Phantasieland. Andere Eltern haben sich für ihre Kinder Geschichten ausgedacht, und du hast mir eben, als ich klein war, davon erzählt. Du sagtest damals zu mir, du hättest keine Phantasie und würdest deshalb nichts erfinden. Dann zeigtest du mit dem Finger auf die Weltkarte und los ging’s. Dann nahmst du mich mit auf diese Reise und ich folgte dir, ganz instinktiv, natürlich aus Interesse, aber nicht nur.«

      Er zögert. Dann fährt er fort:


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