Projekt Unicorn. Gene Kim

Projekt Unicorn - Gene Kim


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um Änderungswünsche umzusetzen«, berichtet eine Frau namens Patty. »Meint irgendjemand, unser Änderungsmanagement sei langsam? Wir sind Geschwindigkeitsweltmeister im Vergleich zur IT-Security.«

      Plötzlich hört Maxine hinter sich eine Tür aufgehen, und Patty schaut hoch. »Wenn man vom Teufel spricht. Hier ist John, unser Chief Information Security Officer. Das wird lustig …«, sagt sie.

      John ist Ende 30. Er hat etwa zehn Kilo Übergewicht, aber dennoch schlabbern seine Klamotten. Wie in einem alten Western wird John von zwei Personen flankiert – einem männlichen und einem weiblichen Engineer, die ihr vage bekannt vorkommen. »Endlich habe ich euch alle gefunden«, spöttelt John und schaut sich um, als wäre er ein Sheriff, der eine Gruppe von Gesetzlosen gejagt hat. »Ich bin hier wegen dieses verrückten Plans, die Phoenix-Anwendung bereitzustellen. Dieses Deployment wird nur über meine Leiche stattfinden.«

      Die Frau hinter John wirkt plötzlich verlegen – so, als hätte sie das von John schon mal gehört. Dieser fährt fort: »Das Phoenix-Projekt enthält Millionen Zeilen neuen Codes, und wir können ein Deployment nicht verantworten, solange mein Team die Anwendung nicht auf Schwachstellen getestet hat. Wir kommen gerade aus einer sehr, sehr interessanten Sitzung mit den Auditoren, und glauben Sie mir, sie werden es nicht sehr freundlich aufnehmen, wenn wir etwas in die Produktivumgebung deployen, das unsere Compliance gefährdet.

      Ich weiß aus ziemlich guter Quelle, dass der CIO und der VP of IT Operations gerade wegen einiger nicht länger tolerierbaren Compliance-Verletzungen gefeuert wurden«, fährt John fort. »Lassen Sie sich das eine Warnung sein: Die Einhaltung der Regeln ist nicht nur eine moralische Verpflichtung oder ergibt sich aus vertraglichen Bestimmungen, sie ist auch gesetzlich vorgeschrieben.«

      Maxine fragt sich, wie oft John diese Zeile geprobt hat. Ein wirklich guter Satz, räumt sie ein.

      Aus dem vorderen Bereich des Raums mischt sich Kirsten ein: »Wie Sie wissen, kam die Entscheidung, Phoenix zu launchen, direkt von ganz oben – vom CEO Steve Masters und Sarah Moulton, Senior VP für das Einzelhandelsgeschäft. Tatsächlich war Sarah gerade hier, um uns genau daran zu erinnern. Die Bereitstellung soll morgen um 17 Uhr beginnen, damit alles live ist, wenn die Geschäfte am Samstagmorgen öffnen.«

      »Jedenfalls glauben Sie das, Kirsten«, sagt John. »Ich werde umgehend mit Steve darüber reden. Seien Sie versichert, dass ich diesen Wahnsinn beenden werde

      Er wendet sich an Wes. »Sie waren bei der Besprechung mit den Auditoren dabei – erklären Sie den anderen, wie ernst die Situation ist und dass die Bereitstellung keinesfalls morgen erfolgen kann!«

      Wes antwortet schnell: »Nein – lassen Sie mich aus dem Spiel, John. Der Zug ist abgefahren, und wir kriegen den Geist nicht zurück in die Flasche. Das Einzige, was wir noch tun können, ist, zu verhindern, dass diese Rakete noch auf der Startrampe explodiert und uns alle killt. Verzeihen Sie die Metapher«, sagt er mit einem lauten Lachen und schaut sich im Raum nach Unterstützung um.

      »Oder war das ein Vergleich?«, fragt Wes plötzlich leicht irritiert.

      Die Frau hinter John kommentiert trocken: »Es ist eine Metapher, Wes. Wenn Sie sagen, dass etwas ›ein Haufen Mist ist‹, dann ist das eine Metapher. Wenn Sie sagen, dass etwas ›wie ein Haufen Mist ist‹, dann ist das ein Vergleich.«

      »Danke, Shannon«, sagt er mit einem breiten Lächeln. »Das habe ich schon immer verwechselt.«

      John blickt Shannon an und sagt dann wütend zu Wes: »Ich lasse Sie nichtaus dem Spiel, Wes. Es ist Ihre moralische Verantwortung, dieses Release zu stoppen!« Dann wendet er sich an alle. »Es ist Ihre gemeinsame moralische Verantwortung, diese Veröffentlichung zu stoppen! Sie alle wissen, wo ich stehe – wie ich bereits gesagt habe, diese Bereitstellung wird nur über meine Leiche erfolgen.«

      Wes murmelt: »Die Hoffnung stirbt zuletzt.«

      Maxine hört ein nervöses Kichern, als John und seine Truppe den Raum verlassen. Kirsten steht auf und sieht aus, als wäre ihr etwas unbehaglich zumute. »Nun, ich möchte kurz darauf hinweisen, dass wir die Verpflichtung eingegangen sind, Phoenix am Freitag zu launchen. Aber falls jemand von Ihnen das Gefühl hat, dass er eine, äh, moralische Verpflichtung hat, sich nicht an dieser Bereitstellung zu beteiligen, lassen Sie es mich bitte wissen.«

      Wes gluckst. »Kirsten, dieses Release durchzuführen, ist mit ziemlicher Sicherheit das Dümmste, was ich in meiner ganzen Laufbahn erlebt habe – aber um das Team zu unterstützen, verspreche ich, dass wir alle unser Bestes geben werden.« Mit einem Anflug von Erschöpfung und Resignation fährt er fort: »Lasst es uns einfach hinter uns bringen.«

      Maxine schaut sich um und denkt über das plötzliche surreale Auftauchen von zuerst Sarah und dann John nach. Es erinnert sie an Redshirts von John Scalzi und Wil Wheaton, ein lustiges Buch, das lose auf einem Star-Trek-ähnlichen Universum basiert. Die Parodie ist aus der Perspektive eines Redshirts, eines Rothemds, geschrieben, einem der namenlosen niederrangigen Charaktere, die normalerweise im Hintergrund der Serienfolgen umherwandern und die schnell lernen, dass jedwede Interaktion mit einem der Brückenoffiziere eine schlechte Nachricht ist. Wer auserwählt wird, mit den Offizieren auf den Planeten hinuntergebeamt zu werden, ist dazu verdammt, auf bizarre Weise zu sterben: durch einen Alteran-Blutwurm oder ein Virus, das den Verstand zerfrisst, durch Fleisch fressende Pflanzen oder einen klingonischen Disruptor-Strahl. Im Buch montieren die Rothemden überall Sensoren, um gewarnt zu werden, sobald die Brückenoffiziere – die Äquivalente zu den Originalfiguren wie Captain Kirk oder Commander Spock – in die unteren Decks kommen, damit sie sich verstecken können.

      Es entmutigt sie, dass die Führungskräfte von Parts Unlimited, die Brückenoffiziere, so sehr von der täglichen Arbeit der »Rothemden«, die in den unteren IT-Decks arbeiten, abgekoppelt sind. Es war nicht hilfreich, dass Sarah alle daran erinnert hat, dass die »Rettung des Universums« von Phoenix abhängt. Und es war ebenfalls nicht sonderlich hilfreich, dass John an ihren »moralischen Sinn für Korrektheit« appelliert hat.

      Wir alle wissen, dass die Bedrohung, der das Unternehmen ausgesetzt ist, real ist, denkt sie. Die Aufgabe der Brückencrew besteht darin, die Durchführbarkeit der Unternehmensstrategie zu gewährleisten, und nicht darin, sie an die Strategie zu erinnern oder alle zu Tode zu mikromanagen. Die Brückenoffiziere sollten dafür sorgen, dass alle anderen ihre Arbeit erledigen können.

      Wie ist es bloß so weit gekommen?

      Maxine schleppt sich, ein Sandwich in der Hand, an ihren Schreibtisch zurück, erschöpft von den endlosen Phoenix-Release-Meetings, umgeben von all den anderen, die auf ähnliche Weise in den Wirbel um den Launch hineingezogen werden. Merkwürdigerweise sieht sie auch einige Menschen glücklich an ihren Schreibtischen arbeiten, als wäre es ein ganz normaler Tag.

      Neugierig fragt sie einen von ihnen, warum er so gelassen wirkt. Er antwortet mit leicht erstauntem Blick: »Ich bin Entwickler – ich arbeite an Features. Ich übergebe sie an QA und Ops zum Testen und zur Bereitstellung. Dann arbeite ich an den Features für die nächste Version. Damit habe ich genug zu tun.«

      Maxine dreht sich um, abgeschreckt von dem, was er gesagt hat. Sie hat in ihrer Karriere Tests und Deployments nie so einfach an andere abgegeben. Wie kann man etwas von Wert schaffen, wenn man keine Rückmeldung darüber bekommt, wie es verwendet wird?, fragt sie sich.

      Zurück an ihrem Schreibtisch, sieht sie Kurt, bewaffnet mit einem schwarzen Dreiringordner. Als er sie sieht, strahlt er sie mit einem breiten Lächeln an. »Ich habe ein Geschenk für Sie!«

      Es ist ein 80-seitiges Dokument voller Registerreiter. Schon das Überfliegen der Abschnittsüberschriften lässt ihr Herz höher schlagen – es sind die sorgfältig zusammengestellten Anleitungen für Phoenix-Builds, komplett mit Links zu Dokumenten, Lizenzschlüsseln, Schritt-für-Schritt-Anleitungen und sogar Links zu einem Haufen Videos. Eines davon trägt den Titel »Wie du uberjar in unserem (sehr) verrückten, verkorksten Produktionswebcluster zum Laufen bringst (8 Min.)«, ein anderes heißt »Wie du deine Anwendungen überwachen kannst – trotz unserer Ops-Gruppen (12 Min.)«.

      Sie sieht 20-stellige


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