Projekt Unicorn. Gene Kim

Projekt Unicorn - Gene Kim


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es schon ein Release-Team?«, fragt Maxine.

      »Nein. Chris, Kirsten und Bill stellen heute ein offizielles Release-Team zusammen, aber ich habe keine Ahnung, wer da die Verantwortung übernehmen wird«, antwortet er und mimt ein ängstliches, nervöses Fingernägelkauen.

      Maxine schaut ihn an, sprachlos.

      Sie ergötzt sich normalerweise nicht an den Problemen anderer, aber es ist tausendmal aufregender, dem ganzen Aufruhr rund um Phoenix zuzusehen, als darauf zu warten, dass sich irgendwer um ihre Tickets kümmert. Sie stöhnt, als ihr dämmert, dass sich angesichts dieser Krise niemand mehr um ihre Tickets kümmern wird.

      Später am Morgen gibt Chris bekannt, dass William, der QA-Direktor, das Release-Team leiten wird. Sein Ziel: alles in einen freigebbaren Zustand zu bringen und sich mit Operations zu koordinieren, die ebenfalls überrumpelt wurde.

      Armer Kerl. Ihr ist klar, dass sie alle in großen Schwierigkeiten stecken. Die Phoenix-Entwickler können nicht einmal ihren eigenen Code mergen, ohne dass Teile davon unberücksichtigt bleiben oder den ganzen Build sprengen. Auf ein erfolgreiches Deployment in die Produktivumgebung zu hoffen, scheint gnadenlos optimistisch zu sein. Oder einfach nur total verrückt, denkt sie.

      »William, wann trifft sich Ihr Release-Team?«, fragt Maxine ihn, als er an ihr vorbeijoggt. Sie rennt mit, um auf gleicher Höhe zu bleiben. »Kann ich helfen?«

      »Das erste Treffen findet in einer Stunde statt. Wir brauchen jede Hilfe, die wir bekommen können«, antwortet er, ohne auch nur einen Moment innezuhalten. Maxine ist hocherfreut. Endlich eine Chance, ihre Fähigkeiten und Erfahrungen tatsächlich einzusetzen.

      Das wird ein interessantes Treffen. Maxine hat gesehen, wie Dev und Ops mit Phoenix umgehen. Statt sich wie ein einziges Team zu verhalten, benehmen sie sich eher wie souveräne Staaten, die sich am Rande eines Kriegs bewegen und deren Diplomaten versuchen, ein löchriges Friedensabkommen zusammenzuschustern unter Einbeziehung des ganzen Programms an beschwichtigenden Botschaften, Protokollen und offiziellen Formalitäten. Selbst die Planung eines Treffens zwischen diesen beiden Gruppen erfordert einen vorgeschalteten Gipfel, bei dem Anwälte anwesend sein müssen.

      Trotzdem ist sie begeistert, jetzt mit im Spiel zu sein. Auf eine perverse Art und Weise ist dies der größte Spaß, den sie bisher beim Phoenix-Projekt hatte. Sie merkt, dass ihr Grinsen von einem Ohr bis zum anderen reicht. Macht mich das zu einem schlechten Menschen?, fragt sie sich. Sie grinst wieder: Es ist ihr egal.

      Obwohl sie versucht, zeitig da zu sein, kommt Maxine zu spät im War Room an. Die Sitzung wurde zweimal in andere Räume verlegt, weil die Teilnehmerzahl zu groß wurde.

      Drinnen sind es 15 Grad wärmer als im Flur, und die Luft riecht abgestanden. Fast 50 Personen sind in einem Raum zusammengepfercht, der nur für die Hälfte ausgelegt ist. Sie sieht Chris, Kirsten, William und eine Reihe leitender Entwickler und Manager. Kurt, der neben William sitzt, winkt ihr zu.

      Auf der anderen Seite des Tischs sitzt Bill Palmer, umgeben von einer Phalanx unbekannter Gesichter. Sie merkt, dass an ihnen etwas … anders ist.

      Der größte von ihnen, links von Bill, hält die Arme verschränkt, schaut mürrisch und unzufrieden und schüttelt ungläubig den Kopf. »Ich fasse es nicht! Sie wollen mir wirklich sagen, dass Sie nicht wissen, wie viele Windows-Server Sie zusätzlich zu der Handvoll Linux-Server benötigen … Sagen Sie mir doch bitte, wie viel genau eine ›Handvoll Server‹ sein soll? Ist das eine metrische oder eine angelsächsische Einheit? Und wo wir schon dabei sind: Brauchen Sie auch irgendwelche Kumquat-Kisten oder vielleicht einen Tandem-Server?«

      Ihm zur Seite sitzen eine Frau und ein jüngerer Mann. Die Art und Weise, wie sie kichern, erinnert Maxine an Crabbe und Goyle, die beiden bösartigen Schläger und besten Kumpels von Malfoy, Harry Potters Rivalen aus dem Hause Slytherin.

      »Ähh …«, beginnt einer der Dev-Manager. »Es gibt tatsächlich eine Komponente, die nur auf Kumquat-Servern läuft. Und zwar eine Erweiterung des Message Bus. Aber es ist nur eine kleine Modifikation. Sollte keine Probleme verursachen und auch nur vernachlässigbar Last hinzufügen …«

      Maxine hört ein Stöhnen im ganzen Raum – und nicht nur von den Slytherin-Typen auf der gegenüberliegenden Seite des Tischs. Der jüngere Mann, der neben dem Riesen sitzt, den Maxine für sich bereits als Big Malfoy bezeichnet, seufzt. »Technisch gesehen, ist mit Kumquats nichts verkehrt – wir haben mehr als ein Jahrzehnt Erfahrung damit, sie unter Produktionslast zu betreiben, und wir verstehen ihre Eigenschaften ziemlich gut. Das Problem ist, dass ein Reboot dieses Clusters fast acht Stunden dauert. Wir müssen also sehr vorsichtig sein mit allem, was einen Neustart zur Folge haben könnte, wie beispielsweise Sicherheitspatches. Ich mache mir Sorgen, dass bestimmte Änderungen mehrere Neustarts erfordern, was locker einen Tag Ausfallzeit bedeuten könnte … oder dass überhaupt nicht mehr hochgefahren werden kann …«

      Das sind alles Leute von Ops, wie Maxine feststellt. Kein Wunder, dass sie sie bisher noch nicht gesehen hat.

      »Wes, glauben Sie mir, wir haben vor diesem Szenario genauso viel Angst wie Sie«, antwortet der Dev-Manager von der anderen Seite des Tischs. »Wir haben drei Jahre lang versucht, diese Anwendung auf eine andere Plattform zu migrieren, aber immer musste das hinter irgendetwas Wichtigerem zurückstehen.«

      »Ja, bei euch Entwicklern haben immer die Features Vorrang, aber ihr kümmert euch nie um die technischen Schulden, die ihr damit verursacht … so ein Bockmist«, kommentiert Big Malfoy und gestikuliert verärgert.

      Bill sagt zu Big Malfoy, ohne auch nur den Kopf zu drehen: »Halt die Klappe, Wes. Arbeite am Problem. Bleib konzentriert.«

      »Ja, ja, ja. Verstanden, Boss«, knurrt Wes (Big Malfoy). »Eine Handvoll Linux-Server, eine Handvoll Windows-Server und ein Kumquat-Server. Verstanden. Und wer kann jetzt ›eine Handvoll‹ definieren?«

      Maxine beobachtet, wie die Dev-Manager ihre Köpfe zusammenstecken und die Leistungsanforderungen all ihrer Komponenten auflisten. Es ist klar, dass sie sich auf ihr Bauchgefühl verlassen und es keine durchdachte Kapazitätsplanung gibt.

      Maxine dämmert langsam, dass dieses Release wesentlich gefährdeter ist, als sie gedacht hat. Die Entwickler haben immer noch nicht ihren gesamten Code zusammengeführt. Und sie haben die Produktionsumgebung, die die Anwendung benötigt, nicht definiert – eine benötigte Umgebung mit Begriffen wie »Handvoll« zu beschreiben, reicht definitiv nicht aus.

      Sie erhebt ihre Stimme und fragt: »Wie viele Transaktionen pro Sekunde erwarten wir bei der Anzeige von Produkten und bei Bestellungen? Und wie viele Transaktionen pro Sekunde können die aktuellen Builds im Moment bewältigen? Daraus können wir ableiten, wie viele Server wir für die horizontal skalierbaren Komponenten brauchen, und auch, wie weit wir bei den vertikal skalierten Komponenten wie der Datenbank noch vom Ziel entfernt sind.«

      Der Raum verstummt. Alle wenden sich Maxine zu. Sie scheinen über diese Frage, die der gesunde Menschenverstand nahelegt, erstaunt zu sein. Die Frau, die links von Wes sitzt, sagt: »Danke! Das ist genau das, was wir wissen müssen!«

      Maxine nickt und zwinkert ihr zu.

      Chris steht auf. »Dies ist das publikumswirksamste Release in der Geschichte unseres Unternehmens. Das Marketing hat alle Register gezogen und wird fast eine Million Dollar in die Hand nehmen, um den Start von Phoenix zu promoten. Die Filialleiter haben die Anweisung erhalten, allen Kunden vorzuschlagen, die App herunterzuladen und am Samstag auf die Website zu gehen – es gibt sogar interne Wettbewerbe, um zu sehen, welche Filialen die meisten neuen Kundenregistrierungen per App generieren. Sie beackern die gesamte Branchen- und Wirtschaftspresse. Sie versuchen, entweder Sarah oder Steve in alle Nachrichtensendungen zu bringen – sogar in Good Morning America.

      Hier sind die besten Berechnungen, die ich vom Marketing bekommen konnte«, fährt Chris fort und blättert in seinem Notebook. »Erwarten Sie einen Ansturm von bis zu einer Million Besuchern auf der Website und über die Apps von Parts Unlimited. Wenn alles gut geht, sollten wir darauf vorbereitet sein, mindestens 200 Bestellungen pro Sekunde abzuwickeln.«

      Maxine


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