Projekt Unicorn. Gene Kim

Projekt Unicorn - Gene Kim


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wichtig gewesen, zu beschreiben, wie außergewöhnlich und sogar heldenhaft sie diesen Supportmitarbeiter gefunden und wie sehr sie seine Hilfe geschätzt hatte. Maxine war erfreut zu hören, dass man ihn schon für eine Beförderung im Auge hatte und dass ihr Telefonanruf wahrscheinlich den endgültigen Ausschlag geben würde.

      Danach verbrachte Maxine eine Stunde damit, das blinkende grüne Licht zu beobachten und die rasend schnellen Download-Geschwindigkeiten zu genießen.

      Während sie an den cleveren Supportmitarbeiter zurückdenkt, erinnert sie sich daran, wie sehr sie Herausforderungen und das Lösen von Problemen liebt und wie wichtig ihre Arbeit ist. Ihre Ergebnisse werden allen Entwicklern helfen, produktiver zu werden.

      Mit einem tiefen Atemzug beschwört sie den unerschütterlichen Optimismus herauf, der ihr nachgesagt wird, und scannt ihre E-Mails sorgfältig auf Statusänderungen ihrer Tickets. Sie ignoriert alle Aktualisierungen des Teamstatus und macht nur eine Ausnahme bei den Mails, in denen sich die Leute in GROSSBUCHSTABEN gegenseitig anschreien. Sie möchte wissen, wer genau diese Hitzköpfe sind, damit sie ihnen aus dem Weg gehen kann.

      Maxine scrollt weiter, und ihr Herz schlägt höher, als sie die Betreffzeile sieht:

      Benachrichtigung: Änderung zu Ticket #46132: Phoenix-Dev-Umgebung.

      Ist ihre Entwicklungsumgebung endlich fertig?

      Sie versucht, gelassen zu bleiben, um sich nicht wieder zu früh zu freuen. Gestern hat sie auch zwei Benachrichtigungen erhalten, aber es ging letztlich nur um unbedeutende Statusänderungen eines Tickets. Die erste war gekommen, als jemand das Ticket endlich zum ersten Mal geöffnet hatte, die zweite, als es jemand anderem zugewiesen wurde.

      Maxine klickt auf den Link in der E-Mail, der in ihrem Browser den Verlauf des Tickets aufruft. Sie blinzelt und lehnt sich weiter vor Richtung Bildschirm. Sie hat das Ticket vor sechs Tagen angelegt (wenn sie das Wochenende mitzählt), und es gab sieben Statusänderungen, weil unterschiedliche Personen an ihrem Environment-Problem gearbeitet hatten. Seit heute Morgen um 8:07 Uhr ist das Ticket als geschlossen gekennzeichnet.

      Sie johlt laut. Endlich sind die Leute von Ops fertig! Jetzt geht es mit den Builds los!

      Aber sie ist verwirrt. Wo ist ihr Environment? Wie meldet sie sich an? Wie lautet die IP-Adresse? Wo sind die Zugangsdaten?

      Sie blättert bis zum Ende der Notizen und Kommentare und liest, was die einzelnen Personen während der Arbeit an ihrem Ticket eingegeben haben. Es wurde von Bob an Sarah, an Terry, zurück an Sarah und schließlich an Derek weitergeleitet. Ganz unten in den Notizen schrieb Derek:

      Um eine Dev-Umgebung zu erhalten, benötigen wir die Genehmigung Ihres Managers. Der korrekte Prozess ist unten dokumentiert. Ticket wird geschlossen.

      Maxines Gesicht wird heiß und leuchtend rot.

       Derek hat mein Ticket geschlossen?! Nach all dem Warten hat er mein Ticket einfach geschlossen, weil ich keine Genehmigung von einem Vorgesetzten hatte?

      Wer zum Teufel ist Derek?!, schimpft Maxine innerlich.

      Sie bewegt ihren Cursor über die Ticket-Maske und versucht, irgendetwas zu finden, das sie anklicken kann. Der einzige anklickbare Link ist jedoch das von Derek zur Verfügung gestellte Grundsatzdokument. Sie findet nicht heraus, wer Derek ist oder wie man ihn kontaktieren kann. Sie findet einen Button, um das Ticket wieder zu öffnen, aber er ist inaktiv.

      Vielen Dank, Derek, du Scheißkerl, denkt Maxine zornig.

      Voller Wut wird ihr klar, dass sie eine Pause braucht. Sie stürmt aus dem Gebäude und setzt sich auf eine Bank vor dem Büro, holt tief Luft, schließt die Augen und zählt bis 50. Dann geht sie zurück in ihr Büro und setzt sich an wieder an den Schreibtisch.

      Sie klickt auf die Schaltfläche für ein neues Ticket. Als das leere Ticket mit den unzähligen Feldern, die ausgefüllt werden müssen, erscheint, gibt sie fast auf. Fast. Stattdessen zwingt sie sich zu lächeln und beschwört ihre freundlichste Seite herauf:

      Hi Derek, vielen Dank für die Arbeit an der fehlenden Umgebung, die wir für das Phoenix-Projekt dringend benötigen – siehe Ticket #46132 (Link unten). Ich gehe davon aus, dass ich die Zustimmung meines Managers (Randy Keyes) in dieses Ticket einfügen kann? Ich werde Ihnen in den nächsten 30 Minuten eine E-Mail von Randy mit seiner Zustimmung schicken. Kann ich Sie anrufen, um sicherzustellen, dass dies heute bearbeitet wird?

      Sie klickt auf Senden, schreibt eine kurze E-Mail an Randy, in der sie ihn bittet, die Einrichtung einer Dev-Umgebung zu genehmigen, und geht direkt zu seinem Arbeitsplatz. Sie ist erleichtert, dass er da ist und nicht in einer Sitzung. Sie sagt ihm, was sie braucht, und schaut ihm über die Schulter, während er eine Antwort sendet, die lediglich »Genehmigt« lautet.

      Als sie wieder an ihren Schreibtisch zurückkehrt, hat sie ein Gefühl unerbittlicher Entschlossenheit und unnachgiebiger Fokussierung. Sie wird alles tun, was nötig ist, um ihre Dev-Umgebung zu bekommen. Sie setzt sich hin, kopiert Randys Genehmigung aus seiner E-Mail in das Servicedesk-Ticket und fügt folgende Notiz hinzu:

      Derek, vielen Dank. Hier ist die Zustimmung meines Vorgesetzten. Kann ich die Umgebung heute noch bekommen?

      Sie klickt auf Senden.

      Sie ruft das Firmentelefonbuch auf und sucht nach allen Dereks der IT-Abteilung. Es gibt drei. Derjenige im Helpdesk scheint der vielversprechendste zu sein.

      Sie schreibt ihm eine nette, freundliche Nachricht mit Randy in Cc:, um ihm im Voraus für all seine Hilfe zu danken und um ihn wissen zu lassen, wie dankbar sie erst sein wird, wenn sie endlich Phoenix-Builds machen könne. Sie bittet ihn praktisch darum, ihr Ticket nicht ganz unten in die Warteschlange zu stellen, wo die Bearbeitung noch eine weitere Woche dauern wird.

      Sie schickt sie ab. Fünf Sekunden später:

      Dies ist eine automatische Antwort – bitte reichen Sie alle Serviceaufgaben über das Servicedesk ein. Ich bemühe mich, alle meine E-Mails innerhalb von 72 Stunden zu lesen und zu beantworten. Wenn dies ein Notfall ist, rufen Sie bitte diese Nummer an …

      Sie flucht. Sie stellt sich vor, dass Derek die Beine auf seinen Schreibtisch gelegt hat und sie in ihrem Elend auslacht. Sie druckt alles aus, was mit Ticket #46132, ihren E-Mails und den Namen der drei Dereks zusammenhängt, und schaut nach, wo jeder von ihnen sitzt. Der Helpdesk-Derek arbeitet zwei Gebäude weiter, Untergeschoss.

      Sie tritt auf Dereks Etage aus dem Aufzug und sieht Reihen kleiner Kabinen voller Menschen, die mit Kopfhörern vor ihren PCs sitzen. Es gibt keine Fenster. Die Decke ist überraschend niedrig. Sie kann das elektrische Summen von Leuchtstoffröhren hören. Es ist seltsam ruhig. Es sollten mehr Ventilatoren laufen, damit es nicht so abgestanden riecht, denkt sie sich. Sie hört einige Leute tippen, andere telefonieren höflich mit jemandem.

      Als sie das alles sieht, fühlt sie sich plötzlich sehr, sehr schuldig wegen ihrer Wut auf Derek. Sie fragt nach, wo er sitzt. Suchend durch das Labyrinth der Cubicles wandernd, sieht sie schließlich Dereks Namensschild, das aus einem Tintenstrahldrucker mit zu wenig Tinte stammt. Dann sieht sie Derek.

      Er ist keineswegs ein abgebrühter Bürokrat. In Wirklichkeit ist er Anfang 20, scheinbar asiatischer Herkunft und liest mit einem bemerkenswert ernsten Ausdruck etwas auf einem kleinen LCD-Bildschirm. Maxine hat schon mit Laptops gearbeitet, die größere Bildschirme hatten als dieser Budget-PC. Sie fühlt sich noch schlechter wegen all der bösen Dinge, die sie über ihn gedacht hat.

      Es gibt keine zusätzlichen Stühle, also kniet sich Maxine neben ihn hin. »Hallo, Derek«, sagt sie mit ihrer freundlichsten Stimme. »Ich bin Maxine. Ich habe letzte Woche das Ticket über die Dev-Umgebung eingereicht. Sie haben es heute Morgen geschlossen, weil ich keine Genehmigung meines Vorgesetzten hatte. Ich habe sie gerade erst bekommen. Und weil Sie das Ticket geschlossen haben, musste ich ein neues öffnen. Vielleicht können Sie mir helfen, es irgendwie durch das System zu lotsen?«

      »Oh, mein Gott, tut mir leid, dass ich das Ticket geschlossen habe. Das ist alles neu für mich!« Derek antwortet ernsthaft, offensichtlich verzweifelt, dass er es


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