Projekt Unicorn. Gene Kim

Projekt Unicorn - Gene Kim


Скачать книгу
hat sich schon schlimm genug angefühlt, die ganze Woche trotz aller Bemühungen so wenig geschafft zu haben, aber es fühlt sich noch viel deprimierender an, jetzt auch noch schriftlich darüber lügen zu müssen.

      Während des Wochenendes scannt Maxine ständig ihr Telefon nach Aktualisierungen ihrer offenen Tickets, sieht aber immer nur, wie diese von einer Person zur nächsten wandern. Als ihr Mann Jake sie fragt, warum sie so vor sich hin brütet, weigert sie sich, zuzugeben, dass es an der Zeiterfassung liegt, die sie ausgefüllt hat – es war, wie Salz in die Wunde ihrer Unproduktivität zu reiben. Sie lässt sich von Waffles, ihrem neuen Welpen, ablenken und genießt es, ihre Kinder mit ihm spielen zu sehen.

      Bis Montagmorgen hat sich Maxine selbst erfolgreich davon überzeugt, fröhlich, zuversichtlich und optimistisch zu sein, als sie in das riesige Auditorium kommt, in dem das Townhall-Meeting stattfindet, das der CEO des Unternehmens, Steve Masters, alle zwei Monate veranstaltet. Seit ihrem Eintritt in die Firma hat sie dieses immer gern besucht. Insbesondere das allererste Meeting hat sie sehr beeindruckt, weil sie zuvor noch nie erlebt hatte, wie sich Führungskräfte direkt an ein ganzes Unternehmen gewandt und Fragen von fast 7.000 Mitarbeitern beantwortet haben.

      Steve moderiert normalerweise zusammen mit Dick, dem CFO. Vor etwa einem Jahr begann Steve, die Townhalls auch zusammen mit Sarah Moulton zu leiten, der Senior VP of Retail Operations. Sie trägt die Ergebnisverantwortung für den Einzelhandel, den zweitgrößten Geschäftsbereich, der über 700 Millionen Dollar Umsatz pro Jahr generiert. Während Steve und Dick ein gewisses Maß an Vertrauen und Authentizität ausstrahlen, wirkt Sarah weniger vertrauens- und glaubwürdig. Letztes Jahr hatten ihre Beiträge bei jedem Townhall-Treffen eine etwas andere Tonlage, jedes Mal versprach sie eine völlig anders geartete Umgestaltung als bei den vorherigen Meetings, verwirrte durch diese organisatorischen Schleudertraumata alle und erntete schließlich: Spott.

      Maxine sieht, wie sich Steve abseits der Bühne vorbereitet und Last-Minute-Notizen auf ein gefaltetes Blatt Papier schreibt. Jemand reicht ihm ein Mikrofon, und er betritt unter höflichem Applaus die Bühne. »Guten Morgen allerseits. Vielen Dank, dass Sie heute bei uns sind. Dies ist das 66. Townhall-Meeting, bei dem ich das Privileg habe, Gastgeber zu sein.

      Wie Sie wissen, besteht unsere Aufgabe seit fast einem Jahrhundert darin, dafür zu sorgen, dass die Autos unserer hart arbeitenden Kundeninnen und Kunden zuverlässig funktionieren, damit diese ihren Alltag bewältigen können. Für die meisten unserer Kunden bedeutet Alltag, dass sie zur Arbeit fahren, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, dass sie ihre Kinder zur Schule bringen und dass sie in der Lage sind, sich um ihre Familie zu kümmern. Parts Unlimited hilft unseren Kunden in vielerlei Hinsicht. Wir sind ein weltweit angesehenes Fertigungsunternehmen, das die hochwertigen und zugleich erschwinglichen Bau- und Ersatzteile herstellt, die unsere Kunden brauchen, damit ihre Autos störungsfrei laufen. Wir beschäftigen aber auch über 7.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Weltklasse, die unseren Kunden in fast 1.000 Filialen in diesem großartigen Land zur Seite stehen. Wir sind oft die einzige Alternative, um den Besuch teurer Werkstätten zu vermeiden.«

      Maxine hat diese Worte von Steve auf solchen Treffen schon fast 50 Mal gehört – es ist ihm offensichtlich wichtig, alle daran zu erinnern, wer genau ihre Kunden sind. Wenn mit Maxines Auto etwas schiefgeht, bringt sie es normalerweise zu ihrem Autohaus, weil es noch Garantie hat. Aber die große Mehrheit ihrer Kunden hat diesen Luxus nicht. Deren Autos sind älter, manchmal älter als ihre eigenen Kinder – tatsächlich könnte es sein, dass die Kunden von Parts Unlimited dieselbe Marke und dasselbe Modell aus demselben Baujahr fahren, das sie früher als Teenager fuhren. Diese Kunden haben oft nur wenig frei verfügbares Einkommen. Wenn ihr Auto in Reparatur muss, kann es sie ihre ganzen Ersparnisse kosten (falls sie überhaupt welche haben). Und während das Auto in einer Werkstatt steht, frisst es nicht nur ihre Ersparnisse, sondern die Menschen kommen auch nicht zur Arbeit. Und das bedeutet wiederum, dass sie nicht für ihre Familien sorgen können, weil sie kein Geld verdienen.

      Maxine schätzt diese Hinweise auf ihre Kunden – wenn Ingenieure »den Kunden« nur abstrakt und nicht als reale Person betrachten, erhält man selten die richtigen Ergebnisse.

      Steve fährt fort: »Seit fast einem Jahrhundert hat sich diese Mission nicht geändert, ganz im Gegensatz zum Geschäftsumfeld. Im Fertigungsbereich haben wir jetzt scharfe Konkurrenz aus Übersee, die unsere Preise unterbieten. Im Einzelhandel haben unsere Mitbewerber Tausende von Geschäften in denselben Märkten eröffnet, die wir bedienen.

      Wir befinden uns zudem in einer Zeit unglaublicher wirtschaftlicher Veränderungen. Amazon und die anderen E-Commerce-Giganten gestalten unsere Wirtschaft um. Einige der bekanntesten Einzelhandelsketten, mit denen viele von uns aufgewachsen sind, sind pleite gegangen und mussten aufgeben, wie der Spielwaren-Händler Toys’R’Us, der Videoverleiher Blockbuster oder die Buchhandelskette Borders. Gleich in der Nähe unseres Firmensitzes kommen viele von uns jeden Tag an den Räumen vorbei, in denen sich früher eine Blockbuster-Filiale befand und die jetzt seit über einem Jahrzehnt leer stehen.

      Dagegen sind auch wir nicht immun. Unsere Umsatzzahlen pro Filiale sind weiterhin rückläufig. Viele unserer Kunden bestellen ihre neuen Scheibenwischer lieber online oder per Telefon bei unseren Konkurrenten, als in einen unserer Läden zu gehen und dort bei realen Menschen zu kaufen.

      Aber ich glaube, dass die Konsumenten nicht bloß Autozubehör wollen, sondern auch Hilfestellung von Menschen, denen sie vertrauen können. Und deshalb sind unsere Filialmitarbeiter so wichtig. Deshalb investieren wir so viel in Aus- und Fortbildung. Und das Phoenix-Projekt wird es uns ermöglichen, unseren Kunden dieses Fachwissen und unsere Vertrauenswürdigkeit über die Kanäle anzubieten, die sie bevorzugen, seien es nun unsere physischen Geschäftslokale oder sei es online.

      Sarah wird später über den Fortschritt des Phoenix-Projekts sprechen und darüber, wie es die drei Messgrößen unterstützt, die mir am wichtigsten sind: Mitarbeiterengagement, Kundenzufriedenheit und Cashflow. Wenn alle unsere Mitarbeiter jeden Tag begeistert zur Arbeit kommen und wir unsere Kunden durch ständige Innovationen und großartigen Service überzeugen, wird sich das von ganz allein im Cashflow niederschlagen.

      Aber bevor wir unsere wichtigsten Jahresziele durchgehen, lassen Sie mich zuerst über etwas sprechen, das wahrscheinlich Ihnen allen auf der Seele liegt.« Steve hält für einen Moment inne. »Vor Kurzem habe ich eine E-Mail mit der Nachricht verschickt, dass Bob Strauss den Vorsitz von Parts Unlimited übernimmt. Wie viele von Ihnen wissen, bin ich seit elf Jahren im Unternehmen – und in den ersten acht davon hatte ich das Privileg, für Bob zu arbeiten. Er war derjenige, der mich damals eingestellt hat, als ich noch Verkaufsleiter bei einem anderen Hersteller war. Ich werde Bob immer dafür dankbar sein, dass er mir die Chance gegeben hat, COO dieses Unternehmens zu werden, und dass er mich über die Jahre hinweg als Mentor begleitet hat. Als er in den Ruhestand ging, übernahm ich von ihm das Amt des CEO und Vorsitzenden.

      Mit Wirkung von letzter Woche hat das Board of Directors Bob erneut zum Chairman ernannt«, sagt Steve, während seine Stimme zu zittern beginnt. Maxine sieht erstaunt, wie er sich eine Träne aus dem Auge wischt. »Natürlich unterstütze ich diesen Schritt und freue mich darauf, wieder mit Bob zusammenzuarbeiten. Ich habe Bob gebeten, ein paar Worte an uns zu richten und uns zu sagen, was das für das Unternehmen bedeutet.«

      Bis zu diesem Moment war Maxine nicht klar, welch großer Rückschlag das für Steve sein musste. Sie hatte gehört, dass es sich um eine Degradierung handelte, aber, um ehrlich zu sein, sie verstand diese Art von Veränderungen auf der Führungsebene nicht wirklich und interessierte sich auch nicht besonders dafür. Führungskräfte kamen und gingen – oft ohne großen Einfluss auf sie und ihre tägliche Arbeit. Aber jetzt ist sie gefesselt von dem Drama, das sich vor ihren Augen abspielt.

      Ein etwas gebeugt wirkender älterer Mann mit weißen Haaren und schiefem Lächeln betritt die Bühne und stellt sich neben Steve.

      »Hallo zusammen. Es ist großartig, nach so vielen Jahren wieder hier vor Ihnen zu stehen. Ich sehe sogar einige bekannte Gesichter, was mich sehr glücklich stimmt. Für diejenigen unter Ihnen, die mich nicht kennen: Mein Name ist Bob Strauss. Ich war 15 Jahre lang CEO dieses Unternehmens, damals, als noch die Dinosaurier die Erde beherrschten. Und davor war ich bereits fast


Скачать книгу