Projekt Unicorn. Gene Kim

Projekt Unicorn - Gene Kim


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Core-Switches, die irgendwie immer wieder in den Halbduplexmodus umschalteten.

      Sie hat technische Komponenten wieder in Ordnung gebracht, die sich mitten in der Nacht quasi »übergaben« und praktisch jede erreichbare Festplatte und jeden Logserver zumüllten, sodass die Teams nicht mehr herausfinden konnten, was eigentlich vor sich ging. Sie leitete dabei die Anstrengungen zur systematischen Isolierung, Diagnose und Wiederherstellung dieser Dienste mit der Intuition jahrzehntelanger Erfahrung aus unzähligen »Schlachten« in Produktivumgebungen.

      Sie hat Stacktraces auf Anwendungsservern entziffert, die buchstäblich in Flammen standen, und sich in einem Wettlauf gegen die Zeit bemüht, sie vernünftig zu sichern, bevor das Wasser aus den Sprinklern, die Halonlöscher und die Notstromabschaltungen alles zerstörten.

      Aber tief drinnen ist sie Entwicklerin. Sie ist eine Entwicklerin, die funktionale Programmierung liebt, weil sie weiß, dass pure Funktionen und Zusammensetzbarkeit die besseren Denkwerkzeuge sind. Sie verzichtet auf imperative Programmierung zugunsten deklarativer Denkweisen. Sie lehnt mit gesundem Respekt Zustandsveränderungen und nicht referentielle Transparenz ab. Sie bevorzugt die Lambda-Kalkulation gegenüber Turingmaschinen wegen ihrer mathematischen Reinheit. Sie liebt LISPs, weil sie Code als Daten betrachtet und umgekehrt.

      Aber sie besitzt nicht nur ein Talent für theoretische Betrachtungen – sie liebt es auch, sich die Hände schmutzig zu machen, Geschäftswerte in Bereichen zu heben, an die zuvor niemand gedacht hat, oder per Strangler Pattern jahrzehntealten monolithischen Code zu zerlegen und ihn sicher, souverän und oft brillant zu ersetzen.

      Sie ist immer noch die einzige Person, die alle Shortcuts kennt – von vi bis zu den neuesten und mächtigsten Editoren. Aber sie schämt sich auch nicht, zuzugeben, dass sie noch immer fast jede Kommandozeilenoption für Git nachschlagen muss – Git kann einfach beängstigend schwierig sein! Welches andere Tool verwendet SHA-1-Hashes als Teil seiner Benutzeroberfläche?

      Und doch sitzt sie, so begabt sie auch sein mag, mit all ihren über Jahrzehnte verfeinerten Kniffen und Fähigkeiten, plötzlich mitten im Phoenix-Projekt und schafft es selbst nach zwei Tagen nicht, einen Phoenix-Build hinzubekommen. Sie hat inzwischen herausgefunden, wo sich zwei der vier Quellcode-Repositories befinden, und drei Installationsprogramme für einige der proprietären Compiler und die Versionsverwaltung ausfindig gemacht.

      Aber immer noch wartet sie auf Lizenzschlüssel für die Versionsverwaltung und weiß nicht, wen sie um die Lizenzen für die beiden anderen Build-Tools bitten soll. Sie braucht Anmeldedaten für drei Netzwerkfreigaben und fünf SharePoints, und niemand weiß, wo die zehn mysteriösen Konfigurationsdateien zu bekommen sind, von denen in der Dokumentation die Rede ist. Die E-Mail, die sie dem Verfasser der Docs geschickt hat, kam zurück. Er arbeitet schon lange nicht mehr bei Parts Unlimited.

      Sie steckt fest. Niemand antwortet wirklich zügig auf ihre E-Mails, ihre Tickets oder Sprachnachrichten. Sie hat Randy gebeten, ihr dabei zu helfen, ihre Anfragen zu eskalieren, aber alle zuständigen Kollegen antworten, dass es ein paar Tage dauern wird, weil sie so beschäftigt sind.

      Natürlich akzeptiert Maxine niemals ein einfaches »Nein« als Antwort. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, alles zu tun, was nötig ist, um einen Build zu erstellen. Sie hat fast alle, die ihr irgendetwas versprochen haben, in persona aufgetrieben. Sie hat herausgefunden, an welchem Arbeitsplatz sie sitzen, und hat sie genervt, praktisch an ihren Schreibtischen gezeltet – bereit, so lange zu bleiben, bis sie ihr endlich weiterhelfen.

      Manchmal bekam sie, was sie brauchte: eine URL, ein SharePoint-Dokument, einen Lizenzschlüssel, eine Konfigurationsdatei. Aber meistens hatte die Person, die sie aufgetrieben hatte, doch nicht das, wonach sie suchte – und die Kollegen mussten jemand anderen fragen und im Namen von Maxine ein weiteres Ticket öffnen. Und dann warteten sie beide.

      Manchmal fanden sie eine vielversprechende Spur oder einen Hinweis darauf, an wen oder wohin Maxine sich als Nächstes wenden müsste. Meistens war es jedoch eine Sackgasse, und sie stand wieder ganz am Anfang.

      Der Versuch, einen Phoenix-Build durchzuführen, ist ungefähr so, als würde man Legend of Zelda spielen, geschrieben von einem Sadisten, der sie zu ausgedehnten Abenteuern zwingt, um versteckte Schlüssel zu finden, die über das ganze Königreich verstreut sind, und gefühllose Nicht-Spieler-Charaktere nur mickrige Hinweise ausspucken lässt. Und wenn man ein Level endlich geschafft hat, kann man das nächste Level doch nicht spielen – zuerst müssen irgendwelche Coupons an den Hersteller geschickt werden, um dann wochenlang auf die Aktivierungscodes zu warten.

      Wäre dies wirklich ein Videospiel, wäre Maxine längst ausgestiegen, denn dieses Spiel ist einfach großer Mist. Aber Phoenix ist kein Spiel – Phönix ist wichtig, und bei wichtigen Dingen gibt Maxine niemals auf.

      Maxine sitzt an ihrem Schreibtisch und schaut auf den Kalender, den sie ausgedruckt und an die Wand gepinnt hat.

      Sie wendet sich wieder ihrem Computer zu und fährt mit dem Finger über ihre ständig wachsende Liste von Aufgaben – jedes Element ist eine Abhängigkeit, die sie benötigt, um den Build durchführen zu können.

      Sie hat gerade zwei weitere SharePoint-Anmeldeinformationen hinzugefügt, die sie von zwei verschiedenen Dev-Managern besorgen musste, die aus irgendeinem Grund eigene Active-Directory-Domains nutzen. Es wird gemunkelt, dass dort teils wichtige Build-Dokumentation liegt, die einige der von ihr dringend gesuchten Informationen enthält.

      Randy hat ihr eine Unmenge an Word-Dokumenten, Visio-Diagrammen und PowerPoint-Präsentationen geschickt, die sie schnell nach Hinweisen durchsucht. Die Dateien mögen vielleicht für Leute im Marketing oder Softwarearchitekten hilfreich sein, vermutet sie, aber sie ist Entwicklerin, eine Engineer. Sie will keine Hochglanzbroschüren für ein Auto sehen, das jemand zu bauen versprochen hat – sie will die Konstruktionspläne und die tatsächlichen Teile sehen, aus denen dieses Auto zusammengebaut wird.

      Da diese ganzen Dokumente dennoch für irgendjemanden nützlich sein könnten, stellt sie sie ins Wiki. Nur Augenblicke später bittet jemand, den sie nicht kennt, darum, sie wieder zu entfernen, weil sie möglicherweise vertrauliche Informationen enthalten könnten.

      Weiter unten auf ihrer To-do-Liste liest sie:

      Jemanden finden, der mir Zugang zu Dev- oder Testumgebungen geben kann.

      Diese waren in einigen der Dokumentationsdateien erwähnt, die sie gestern gelesen hat, aber sie hat nicht die geringste Ahnung, wen sie um Zugang bitten muss.

      Einen Punkt hat sie durchgestrichen:

      Brauche Konto für Integrationstest-Umgebung.

      Das war längst nicht so befriedigend gewesen, wie sie gehofft hatte. Sie hat zwei Stunden lang in dieser Umgebung herumgestöbert und versucht, ein Grundverständnis von der riesigen Anwendung zu entwickeln. Aber am Ende war sie nur noch verwirrt gewesen – als würde man versuchen, sich den Grundriss eines riesigen Gebäudes vorzustellen, indem man ohne Karte oder Taschenlampe durch Luftschächte kriecht.

      Sie gibt einen neuen Punkt ein:

      Jemanden finden, der tatsächlich Integrationstests durchführt, um ein bisschen Shoulder-Surfing zu betreiben.

      Jemandem dabei zuzusehen, wie er mit den Phoenix-Anwendungen arbeitet, könnte ihr bei der Orientierung helfen. Sie ist verblüfft, dass niemand eine Person kennt, die Phoenix tatsächlich benutzt. Für wen genau programmieren sie diesen ganzen Kram?

      Als sie ihre Aufgabenliste noch einmal durchsieht, wird ihr klar, dass sie eigentlich nichts zu tun hat – sie hat heute schon alle möglichen Leute genervt und wartet jetzt nur noch darauf, dass diese auf sie zurückkommen – oder auch nicht.

      Es ist Freitag, 13:32 Uhr. Noch dreieinhalb Stunden bis fünf, dann kann sie endlich nach Hause. Sie bemüht sich sehr, nicht wieder zu seufzen.

      Sie sieht sich ihre Aufgabenliste an. Sie schaut auf die Uhr.

      Sie schaut auf ihre Fingernägel und stellt fest, dass sie eine Maniküre braucht.

      Sie steht mit ihrer Kaffeetasse vom Schreibtisch auf und geht in die Küche


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