Projekt Unicorn. Gene Kim

Projekt Unicorn - Gene Kim


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du musst dich bloß vier Monate lang bedeckt halten. Dann kannst du zurückkommen und dir dein Wunschprojekt aussuchen, okay?«, lockt Chris. Er lächelt schwach und fügt hinzu: »Siehst du, wie Urlaub, oder?«

      »Oh mein Gott …« krächzt Maxine, während sie langsam ihre Stimme wiederfindet. »Ihr schickt mich zum Phoenix-Projekt?!«, platzt es dann laut aus ihr heraus. Sie ärgert sich sofort über diesen kurzen Moment der Schwäche. Sie holt tief Luft, zupft ihren Blazer zurecht und reißt sich zusammen.

      »Das ist Blödsinn, Chris, und das weißt du auch!«, sagt sie ihm ins Gesicht, während sie mit dem Finger auf ihn zeigt.

      Maxines Gedanken rasen, und ihr schießt durch den Kopf, was sie über das Projekt Phoenix weiß. Nichts davon ist positiv. Seit Jahren ist es quasi das Todesmarschprojekt des Unternehmens, in das Hunderte von Entwicklern verstrickt sind und das einen beispiellos schlechten Ruf hat. Maxine ist sich ziemlich sicher, dass der Grund dafür, dass nichts richtig läuft, einfach darin liegt, dass sie in diesem Projekt tatsächlich alles falsch machen.

      Aber trotz der offensichtlichen Misserfolge geht es immer weiter. Jeder weiß, dass wegen der rasanten Entwicklung im E-Commerce und der Krise des Einzelhandels etwas getan werden muss, damit Parts Unlimited im Zeitalter zunehmender Digitalisierung relevant bleibt.

      Parts Unlimited ist immer noch einer der größten Anbieter in der Branche – mit fast 1.000 Filialen im ganzen Land. Aber manchmal fragt sich Maxine, wie es dem Unternehmen über seinen unlängst gefeierten 100. Geburtstag hinaus ergehen wird.

      Das Phoenix-Projekt soll die Lösung sein, die Fackel der Hoffnung, die dem Unternehmen den Weg in die Zukunft weist. Jetzt ist es bereits drei Jahre im Verzug – und die Uhr tickt. 20 Millionen Dollar haben sich in Luft aufgelöst – mit praktisch keinem Ergebnis, sieht man mal vom Frust der Entwickler ab. Alles riecht nach einem drohenden Scheitern, was wiederum gravierende Auswirkungen auf das Unternehmen hätte.

      »Du willst eine deiner besten Mitarbeiterinnen ins Exil schicken, bloß weil du einen Sündenbock für das Problem mit dem Payroll-Lauf brauchst?«, fragt Maxine, die ihre Enttäuschung nicht zurückhalten kann. »Das ist kein Kompliment – das ist die beste Art zu sagen: ›Scher dich zum Teufel, Maxine!‹ Verdammt, es gibt wahrscheinlich im ganzen Phoenix-Projekt nichts, das es überhaupt wert ist, dokumentiert zu werden! Es sei denn, es geht um die Dokumentation von Inkompetenz? Das ist so, als würde man alle Liegestühle auf der Titanic beschriften. Habe ich dir schon gesagt, dass das totaler Blödsinn ist, Chris?«

      »Tut mir leid, Maxine«, antwortet Chris und wirft die Hände in die Luft. »Es ist das Beste, was ich für dich herausholen konnte. Wie ich schon gesagt habe: Niemand gibt dir tatsächlich die Schuld. Sitz einfach deine Zeit ab, und bald wird alles wieder normal sein.«

      Maxine schließt die Augen, holt tief Luft und legt die Hände zusammen, um besser nachdenken zu können.

      »Okay, okay …«, sagt sie. »Du brauchst einen Sündenbock. Ich verstehe das. Ich kann gerne die Schuld für dieses ganze Fiasko auf mich nehmen. Das ist cool, das ist cool … so läuft der Hase halt, stimmt’s? Nichts für ungut. Versetz mich einfach … in die Cafeteria oder ins Lieferantenmanagement. Ist mir egal. Überall hin, nur nicht ins Phoenix-Projekt!« Maxine hört sich selbst zu, und ihr wird bewusst, dass in weniger als zwei Minuten ihre Verleugnung in Wut übergegangen ist und sie sich nun komplett im Verhandlungsmodus befindet.

      Sie ist sich ziemlich sicher, dass sie irgendeinen Schritt im Kübler-Ross-Trauerzyklus übersprungen hat, aber im Moment fällt ihr nicht ein, welcher das sein könnte.

      »Chris«, fährt sie fort. »Ich habe nichts gegen Dokumentation. Jeder verdient eine gute Dokumentation. Aber es gibt unendlich viele Projekte, die eine Dokumentation viel dringender bräuchten als Phoenix. Lass mich irgendwo anders etwas machen, das wirklich Sinn ergibt. Gib mir bloß eine oder zwei Stunden, um ein paar Ideen zu entwickeln.«

      »Schau, Maxine. Ich habe dich vor acht Jahren wegen deiner erstaunlichen Fähigkeiten und Erfahrungen eingestellt. Jeder weiß, dass du Teams in die Lage versetzt, mit Software nahezu Unmögliches zu bewerkstelligen«, sagt Chris. »Deshalb habe ich für dich gekämpft, und deshalb hast du die Softwareteams geleitet, die für die Lieferketten und internen Fertigungsprozesse für alle 23 Produktionsstätten verantwortlich sind. Ich weiß, wie gut du bist … Aber, Maxine, ich habe wirklich alles getan, was ich konnte. Und leider ist die Entscheidung bereits gefallen. Sitz einfach deine Zeit ab, mach keinen Ärger und komm zurück, wenn alles vorbei ist«, wiederholt er und schaut so reumütig, dass Maxine ihm tatsächlich glaubt.

      »Aktuell werden an allen Ecken und Enden Führungskräfte abserviert, und das nicht nur wegen dieses Fiaskos«, fährt Chris fort. »Das Board hat Steve Masters gerade den Vorsitz entzogen, also ist er jetzt nur noch CEO. Und sowohl der CIO als auch der VP of IT Operations wurden gestern ohne jegliche Erklärung entlassen, sodass Steve nun auch als CIO fungiert. Absolut jeder hat Angst, dass noch mehr Blut fließen könnte …«

      Chris schaut, ob die Tür geschlossen ist, und sagt dann mit leiser Stimme: »Und es gibt Gerüchte über möglicherweise noch größere und weitreichendere Veränderungen, die kommen werden …«

      Chris hält inne, als hätte er möglicherweise schon zu viel gesagt. Dann fährt er fort: »Setz dich mit Randy, dem Development Manager von Phoenix, zusammen, sobald du bereit bist – er ist einer von den Guten. Wie ich dir schon gesagt habe: Betrachte es einfach als einen viermonatigen Urlaub. Im Ernst: Tu, was immer du für hilfreich hältst. Ach was, du musst überhaupt nichts tun. Halte dich einfach zurück. Halt die Füße still. Und komm Steve und Dick möglichst nicht unter die Augen. Klingt das vernünftig?«

      Maxine blickt Chris mit zusammengekniffenen Augen an, als er Steve Masters und Dick Landry erwähnt, CEO und CFO von Parts Unlimited. Sie sieht die beiden alle zwei Monate bei den Townhall-Meetings der Firma, den regelmäßigen Mitarbeitertreffen. Wie ist sie nur aus ihrem zweiwöchigen Urlaub, in dem sie die erstaunlichen Sehenswürdigkeiten von Kuala Lumpur genießen durfte, direkt an einen Chris geraten, der diesen ganzen Mist auf sie ablädt?

      »Maxine, ich meine es ernst. Bleib einfach ruhig, mach keinen Ärger, halt dich von weiteren Ausfällen fern, und alles wird gut, okay? Dank einfach deinem Glücksstern, dass du wegen des Gehaltszahlungsproblems nicht gefeuert wirst wie die beiden Kollegen letztes Jahr«, beschwört Chris sie.

      »Ja, ja, ja. Keinen Ärger machen«, sagt sie und steht auf. »Wir sehen uns in vier Monaten. Und sag mir Vielen Dank, dass ich dir damit helfe, dass du deinen Job behältst. Superklasse, Chris.«

      Chris zeigt eigentlich jedes Jahr weniger Rückgrat, denkt sie und stürmt aus dem Zimmer. Sie überlegt, die Tür zuzuknallen, aber sie schließt sie stattdessen … nachdrücklich. Sie hört ihn noch einmal sagen: »Bitte mach keinen Ärger, Maxine!«

      Als sie außer Sichtweite ist, lehnt sie sich an die Wand. Tränen steigen hoch. Plötzlich erinnert sie sich an den fehlenden Schritt im Kübler-Ross-Modell, der nach dem Verhandeln kommt: Depression.

      Schleppend macht sich Maxine auf den Weg zurück zu ihrem Schreibtisch. Dem alten Schreibtisch. An dem sie bisher gearbeitet hat.

      Maxine kann kaum glauben, was ihr gerade widerfährt. Beim Versuch, all den negativen Gedanken entgegenzuwirken, die ihr durch den Kopf sausen, führt sie sich selbst ihre Qualifikationen vor Augen. Seit 25 Jahren ist es ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Technik nach ihrer Pfeife tanzt – und sie weiß, dass sie das effizient, effektiv, präzise, mit Kreativität und Flair und vor allem kompetent macht.

      Sie weiß, dass sie über eine unübertroffene praktische Erfahrung verfügt, wenn es darum geht, Systeme aufzubauen, die unter widrigen und sogar feindlichen Bedingungen laufen. Sie besitzt ein fantastisches Gespür dafür, welche Technologien am besten geeignet sind, um eine gegebene Aufgabe zu erfüllen. Sie ist verantwortungsbewusst, akribisch und sorgfältig in ihrer Arbeit, und sie besteht darauf, dass ihr Umfeld das gleiche Maß an Exzellenz und Sorgfalt an den Tag legt. Verdammt noch mal, immerhin war ich eine der gefragtesten Beraterinnen bei den Top-Fortune-50-Unternehmen, ruft sich Maxine in Erinnerung.


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