Projekt Unicorn. Gene Kim

Projekt Unicorn - Gene Kim


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und Unordnung Tatsachen des Lebens sind. Sie hat die ätzende Wirkung gesehen, die eine Kultur der Angst entfaltet, in der Fehler routinemäßig bestraft und Sündenböcke gefeuert werden. Wenn man für Fehlschläge und als Überbringer schlechter Nachrichten diszipliniert wird, führt das nur dazu, dass Menschen ihre Fehler verbergen und schließlich jegliche Innovationskraft vollständig erlischt.

      In ihrer Zeit als Consultant konnte sie immer – meist innerhalb weniger Stunden – feststellen, ob Leute Angst hatten, das zu sagen, was sie wirklich dachten. Es hat sie verrückt gemacht, wenn Menschen darauf achteten, wie sie Dinge formulierten, verklausuliert sprachen und sich extrem bemühten, bestimmte verbotene Wörter zu vermeiden. Sie hasste diese Situationen und würde alles tun, um einen Kunden davon zu überzeugen, entsprechende Projekte zu beenden, um allen Beteiligten Zeit, Geld und eine Menge Ärger zu ersparen.

      Sie kann einfach nicht glauben, dass sie diese Warnzeichen jetzt bei Parts Unlimited entdecken muss. Ich erwarte von Chefs, dass sie ihre Mitarbeiter vor politischem und bürokratischem Wahnsinn schützen, anstatt sie dem auszuliefern, denkt Maxine.

      Erst gestern war sie mit ihrer Familie nach einem fast 20-stündigen Rückflug aus Kuala Lumpur zurückgekommen. Als sie ihr Telefon eingeschaltet hatte, war es fast verglüht, weil so viele Nachrichten reinströmten. Während Jake und ihre zwei Kinder am Flughafen nach etwas Essbarem suchten, bekam sie endlich Chris an die Strippe.

      Er erzählte ihr von dem Gehaltszahlungsproblem und informierte sie über das ganze Chaos. Sie hörte aufmerksam zu, aber ihr Herz blieb fast stehen, als sie Chris sagen hörte: »… und wir dann entdeckten, dass in der Datenbank die gesamten Sozialversicherungsnummern korrumpiert waren.«

      Ihr brach kalter Schweiß aus, ihre Hände kribbelten, und ihr Blut gefror. Eine gefühlte Ewigkeit lang stockte ihr Atem. Sie wusste es. »Es war die Sicherheitsanwendung für die Tokenisierung, richtig?«

      Sie fluchte laut. Einige Eltern um sie herum trieben ihre kleinen Kinder von ihr weg. Sie hörte Chris sagen: »Genau. Und das wird noch richtig Ärger geben. Komm so schnell wie möglich ins Büro.«

      Selbst jetzt noch erschrickt sie vor dem Ausmaß des Gemetzels. Wie alle Techniker liebt sie insgeheim Katastrophengeschichten – solange sie nicht selbst die Hauptrolle spielt. »Blöder Chris«, murmelt sie, während sie darüber nachdenkt, ihren Lebenslauf, den sie seit acht Jahren nicht angefasst hat, vom Staub der Zeit zu befreien und die Fühler nach Stellenangeboten auszustrecken, egal welchen.

      Als Maxine schließlich ihren Arbeitsplatz erreicht, ist der Gleichmut, zu dem sie sich aufgerafft hat, schon wieder verflogen. Sie bleibt stehen, bevor sie reingeht. Ihre Achselhöhlen sind verschwitzt. Sie riecht daran, um sicherzugehen, dass sie nicht nach der Erniedrigung stinkt, die sie gerade empfindet. Sie weiß, dass sie paranoid ist – sie hat heute Morgen so viel Deo benutzt, dass ihre Achseln kreideweiß waren. Sie ist froh, dass sie es gemacht hat.

      Sie betritt das Büro. Jeder weiß, dass sie versetzt wurde, aber alle versuchen, sich nichts anmerken zu lassen. Glenn, seit drei Jahren ihr Manager, kommt auf sie zu und fasst sie kumpelhaft bei der Schulter, mit gequälter Miene. Er sagt: »Keine Sorge, Maxine. Du wirst im Handumdrehen wieder hier sein. Keiner von uns ist glücklich darüber, wie es gelaufen ist. Ein Haufen Leute wollte eine große Party für dich schmeißen, aber ich war mir ziemlich sicher, dass du kein großes Aufheben davon machen wolltest«, sagt er.

      Maxine antwortet: »Verdammt richtig. Danke, Glenn.«

      »Kein Problem«, entgegnet er mit einem schiefen Lächeln. »Lass mich wissen, wie ich helfen kann, okay?«

      Auch sie ringt sich ein Lächeln ab und meint: »Komm schon, es ist ja nicht so, als ob ich sterbe oder auf den Mond geschossen werde! Ich rücke sogar näher an die Zentrale heran, wo die ganze Action stattfindet. Dann werde ich euch Hinterwäldlern am Rande der Zivilisation regelmäßige Updates schicken!«

      »Das ist die richtige Einstellung. Wir sehen uns in vier Monaten hier wieder, wenn alles gut geht«, stimmt er zu und deutet spielerisch einen Boxschlag an. Maxines runzelt beim »wenn alles gut geht« leicht die Stirn. Das war ihr neu.

      Da Glenn zu einem Meeting muss, geht Maxine zu ihrem Schreibtisch und beginnt zu packen. Sie sucht die wichtigsten Dinge zusammen, die sie in ihrem Exil brauchen wird: ihren sorgfältig konfigurierten Laptop (sie ist sehr wählerisch, was Tastatur und Arbeitsspeicher angeht), Familienfotos, ihr Tablet und die über die Jahre sorgfältig ausgewählten und gesammelten USB- und Laptop-Ladegeräte zusammen mit dem großen Schild, das über ihnen hängt: »NICHT ANFASSEN, bei Todesstrafe!«

      »Hi, Maxine! Warum packst du zusammen?«, hört sie jemanden fragen. Sie schaut auf und sieht Evelyn, ihre vielversprechende junge Informatik-Praktikantin. Maxine hat sie rekrutiert. Den ganzen Sommer über hat Evelyn alle mit ihrer schnellen Auffassungsgabe beeindruckt. Nach ihrem Abschluss wird sie sich ihren Job frei aussuchen können, denkt Maxine. Deshalb hat sie ihr den ganzen Sommer über Parts Unlimited ununterbrochen als einen großartigen Ort zum Arbeiten und Lernen angepriesen. Was sie selbst geglaubt hat – bis heute Morgen. Vielleicht ist das hier doch kein so toller Arbeitsplatz.

      »Ich wurde vorübergehend wieder dem Phoenix-Projekt zugeteilt«, sagt Maxine. »Oh, wow«, sagt Evelyn. »Das ist schrecklich … Es tut mir so leid!«

      Du weißt, dass du in echten Schwierigkeiten steckst, wenn sogar die Praktikantin Mitleid mit dir hat, denkt Maxine.

      Sie verlässt das Gebäude mit ihrem schlichten Karton – allein. Sie fühlt sich, als würde sie sich im Gefängnis melden. Was das Phoenix-Projekt im Grunde genommen ja auch ist, sagt sie sich.

      Mit dem Auto sind es vier Meilen zum Campus der Konzernzentrale. Unterwegs denkt sie darüber nach, welche Vor- und Nachteile es hat, wenn sie in der Firma bleibt. Vorteile: Ihr Mann ist fest angestellter Professor – weshalb sie überhaupt nach Elkhart Grove gezogen sind. Ihre Kinder lieben ihre Schulen, Freunde und Hobbys.

      Sie liebt ihre Arbeit und all die Herausforderungen; sie liebt die Auseinandersetzung mit den unzähligen und komplexen Geschäftsprozessen, die das gesamte Unternehmen umspannen – es erfordert ein tiefgehendes Verständnis des kompletten Geschäftsbetriebs, erhebliche Problemlösungsfähigkeiten, viel Geduld und die politische Raffinesse, mit manchmal byzantinischen und teils völlig unverständlichen Abläufen klarzukommen, die es in jeder großen Organisation zu geben scheint. Und Bezahlung und Zusatzleistungen sind großartig.

      Nachteile: Projekt Phoenix. Arbeiten für Chris. Und das Gefühl, dass sich die Unternehmenskultur verschlechtert. Was sich gerade jetzt daran zeigt, wie ich wegen des Payroll-Problems gelyncht werde, denkt sie.

      Um sich herum sieht sie Gebäude, die Status und Erfolg ausstrahlen sollen. Parts Unlimited mit seinen 7.000 Mitarbeitern hat sich dieses Prestige als einer der größten Arbeitgeber im Staat verdient. Die Firma hat Filialen in nahezu allen Bundesstaaten und Millionen treuer Kunden, auch wenn alle Auswertungen zeigen, dass diese Zahlen rückläufig sind.

      In Zeiten von Uber und Lyft entscheidet sich die jüngere Generation häufiger dafür, ohne Auto auszukommen, und wenn doch jemand eines besitzt, repariert er es sicher nicht selbst. Es braucht kein strategisches Genie, um zu erkennen, dass das langfristige Wohlergehen des Unternehmens eine neue Herangehensweise erfordert.

      Sie fährt weiter ins Innere des Firmencampus, kann aber Gebäude 5 nicht finden. Als sie bereits ihre dritte Runde dreht, sieht sie schließlich das Hinweisschild zum Parkplatz. Eine leichte Bekommenheit macht sich in ihr breit. Das Gebäude ist im Vergleich zu den anderen eine Absteige. Es sieht sogar wie ein Gefängnis aus, denkt sie.

      Gebäude 5 war früher eine Produktionshalle, genau wie MRP-8, ihr »altes« Gebäude. Aber während MRP-8 offensichtlich immer noch der Stolz des Unternehmens ist, werden in Gebäude 5 schlecht gelittene IT-Leute wie sie einsperrt, und dann wird der Schlüssel weggeworfen.

      Wenn das Phoenix-Projekt das strategisch wichtigste Projekt des ganzen Unternehmens ist, verdienen dann nicht die Teams, die daran arbeiten, ein besseres Gebäude?, wundert sich Maxine. Aber andererseits weiß sie, dass in den meisten Firmen die Unternehmens-IT selten


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