Projekt Unicorn. Gene Kim

Projekt Unicorn - Gene Kim


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arbeiten die ERP-Teams Seite an Seite mit den Mitarbeitern des Anlagenbetriebs. Sie werden als Partner betrachtet. Sie arbeiten gemeinsam, essen gemeinsam, beschweren sich gemeinsam und bechern gemeinsam.

      Dagegen wird die Unternehmens-IT normalerweise als eine Reihe namenloser Personen betrachtet, die man anruft, wenn etwas mit dem Laptop nicht stimmt oder wenn man etwas nicht drucken kann.

      Maxine starrt auf Gebäude 5 und begreift, dass, so schlecht der Ruf des Phoenix-Projekts auch sein mag, die Realität wahrscheinlich noch viel, viel schlimmer ist.

      Jeder erzählt Maxine, dass eine ihrer liebenswertesten Eigenschaften ihr unerbittlicher und nie enden wollender Optimismus ist. Das redet sie sich immer wieder ein, während sie auf Gebäude 5 zugeht, den Karton mit ihren Sachen vor der Brust.

      Ein gelangweilter Wachmann inspiziert ihren Ausweis und empfiehlt ihr, den Aufzug zu nehmen, aber Maxine entscheidet sich stattdessen für die Treppe. Sie wünscht sich, sie hätte eine etwas fröhlicher wirkende Tasche, um ihre Sachen zu transportieren, anstatt diese blöde Kiste mit sich herumzuschleppen.

      Als sie die Tür öffnet, rutscht ihr das Herz in die Hose. Es ist ein riesiges Großraumbüro mit grauen Trennwänden, die die Arbeitsbereiche voneinander abgrenzen. Das Labyrinth der Kabinen erinnert sie an das alte Computertextspiel Zork – sie hat schon jetzt in dieser Ansammlung verwirrender Gänge, die alle gleich aussehen, die Orientierung verloren.

      Als ob jegliche Farbe aus dem Gebäude verschwunden wäre, denkt sie. Die Erinnerung an den alten Farbfernseher ihrer Eltern steigt in ihr auf, als ihr Bruder an den Helligkeits-, Kontrast- und Farbeinstellungen herumgefummelt hatte, um alles in einem kränklichen Grau und Grün erscheinen zu lassen.

      Auf der anderen Seite ist Maxine erfreut zu sehen, dass jeder Schreibtisch über zwei massive LCD-Bildschirme verfügt. Sie ist am richtigen Ort. Das sind Entwickler. Die neuen Monitore, die geöffneten Codeeditoren und der hohe Anteil an Personen, die Kopfhörer tragen, sind todsichere Hinweise.

      Der Raum ist so still, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. Es erinnert an eine Unibibliothek. Oder an ein Grab, denkt sie. Es wirkt nicht wie ein lebendiger Raum, in dem Menschen zusammenarbeiten, um Probleme zu lösen. Software zu programmieren, sollte eine gemeinschaftliche und dialogorientierte Aufgabe sein: Einzelpersonen müssen miteinander interagieren, um neues Wissen und Mehrwert für den Kunden zu schaffen.

      In dieser Stille schaut sie sich um und fühlt sich noch schlechter angesichts ihres Schicksals.

      »Wissen Sie, wo ich Randy finden kann?«, fragt sie den erstbesten ihrer neuen Kollegen. Er zeigt auf die gegenüberliegende Ecke des Großraums, ohne die Kopfhörer abzunehmen.

      Während sie durch dieses Labyrinth stiller Waben läuft, bemerkt Maxine Whiteboards und Menschen, die sich in Gruppen zusammendrängen und mit stark gedämpften Stimmen sprechen. An einer langen Wand hängen riesige Gantt-Diagramme, mehr als einen Meter hoch und fast zehn Meter breit, die aussehen, als seien sie aus mehr als 40 Einzelblättern zusammengesetzt.

      Neben den Gantt-Diagrammen gibt es Ausdrucke mit vielen grünen, gelben und roten Feldern. Vor den Charts stehen Menschen in Hosen und Poloshirts. Mit verschränkten Armen und besorgten Blicken.

      Maxine kann fast fühlen, wie die Leute mental versuchen, die Balken enger zusammenzurücken, damit sie all die zugesicherten Deadlines einhalten können. Viel Glück dabei, denkt sie.

      Als sie in der gegenüberliegenden Ecke ankommt, wo sie Randy finden soll, nimmt Maxine plötzlich den unverwechselbaren Geruch von Menschen wahr, die im Büro geschlafen haben. Sie kennt diesen Geruch. Es ist der Geruch zu vieler Arbeitsstunden, unzureichender Belüftung – und Verzweiflung.

      In der IT ist das fast schon ein Klischee. Wenn es darum geht, Features schnell auf den Markt zu bringen, eine Vertriebschance zu nutzen oder die Konkurrenz einzuholen, werden aus vielen Überstunden unzählige Überstunden, sodass es irgendwann einfacher ist, unter dem Schreibtisch zu schlafen, als nach Hause zu gehen und praktisch gleich wieder zurückzukommen. Obwohl Überstunden in der Populärkultur manchmal verherrlicht werden, betrachtet Maxine sie als ein Symptom dafür, dass etwas ganz und gar schiefläuft.

      Sie fragt sich, was los ist: Zu viele Marketingversprechen? Schlechte Leitung des Engineerings? Miese Produktführerschaft? Zu viele technische Schulden? Nicht genug Fokus auf Architekturen und Plattformen, die es den Entwicklern ermöglichen, produktiv zu sein?

      Maxine bemerkt, dass sie vollkommen übertrieben angezogen ist. Sie schaut an sich herunter auf den Anzug, den sie seit Jahren bei der Arbeit trägt, und stellt fest, dass sie auffällt wie ein bunter Hund. T-Shirts und Shorts sind in diesem Gebäude den Poloshirts zahlenmäßig weit überlegen. Und niemand trägt eine Jacke.

      Morgen lasse ich die Jacke zu Hause, denkt sie.

      Sie findet Randy in einer Eckwabe, tippend und umgeben von riesigen Papierstapeln. Randy ist rothaarig und trägt die typische Manageruniform – gestreiftes weißes Hemd und khakifarbene Hose. Maxine schätzt, dass er Ende 30 ist, wahrscheinlich zehn Jahre jünger als sie. Seinem geringen Körperfettanteil nach zu urteilen, joggt er wahrscheinlich jeden Tag. Aber er sieht dermaßen gestresst aus, dass ihm auch kein Laufen mehr helfen kann.

      Er schenkt ihr ein breites Lächeln und steht auf, um ihr die Hand zu schütteln. Sie stellt ihren großen Karton ab und merkt, wie müde ihre Arme sind. Als sie seine Hand greift, sagt er: »Chris hat mir erzählt, wie Sie hier gelandet sind. Die Geschichte tut mir leid. Aber glauben Sie mir, Ihr Ruf eilt Ihnen voraus, und wir sind absolut begeistert, jetzt jemanden mit Ihrer Erfahrung in unserem Team zu haben. Ich weiß, dass Ihre Fähigkeiten anderweitig besser eingesetzt wären, aber ich nehme jede Hilfe an, die ich kriegen kann. Ich denke, Sie können hier wirklich etwas bewirken.«

      Maxine ringt sich ein Lächeln ab, weil Randy nett – und ernsthaft – wirkt. »Ich helfe gern, Randy. Was ist zu tun?«, fragt sie und versucht, genauso ernsthaft zu wirken. Sie will sich nützlich machen.

      »Ich bin für die Dokumentation und die Builds verantwortlich. Um ehrlich zu sein – alles ist ein einziges Chaos. Wir haben keine Standardentwicklungsumgebung, die die Developer verwenden können. Es dauert Monate, bis neue Entwickler auf ihren Laptops Builds durchführen und voll produktiv sein können. Sogar unser Build-Server ist völlig unterdokumentiert«, sagt Randy. »Tatsächlich haben wir seit ein paar Wochen einige neue Freelancer vor Ort, die noch nicht einmal Code einchecken können. Gott weiß, was sie bisher tatsächlich getan haben. Wir bezahlen sie trotzdem. Um nichts zu tun, im Grunde genommen.«

      Maxine verzieht ihr Gesicht. Sie hasst die Vorstellung, dass teure Experten dafür bezahlt werden, tatenlos herumzusitzen. Und es sind Entwickler – es beleidigt ihr Empfinden zutiefst, wenn arbeitswillige Entwickler daran gehindert werden, ihren Beitrag zu leisten.

      »Nun, ich helfe gern aus, wo immer ich kann«, sagt sie und ist überrascht, wie ernst sie es meint. Schließlich ist es immer extrem wichtig, die Entwickler produktiver zu machen, auch diejenigen, die während des kometenhaften Niedergangs weiter am Phoenix-Projekt arbeiten.

      »Hier, ich zeige Ihnen, wo wir Sie untergebracht haben«, sagt Randy.

      Er führt sie an weiteren Reihen von Kabinen vorbei, zeigt ihr einen leeren Schreibtisch, einen Aktenschrank und zwei große Monitore, die mit einem Laptop verbunden sind. Es ist schlichter und kleiner, als ihr lieb ist, aber es ist in Ordnung. Zumal sie nur ein paar Monate hier sein wird. So oder so, ich bin hier bald wieder raus, denkt Maxine. Entweder endet meine Haftstrafe, oder ich suche mir woanders einen neuen Job.

      »Wir haben Ihnen ein Standard-Entwickler-Setup vorbereitet, so wie es alle Entwickler bereitgestellt bekommen, die bei Parts Unlimited anfangen«, sagt er und zeigt auf den Laptop. »E-Mail, Netzwerkfreigaben und Drucker sind mit Ihren vorhandenen Anmeldeinformationen eingerichtet. Ich werde heute Nachmittag an alle eine Vorstellungsmail verschicken. Und ich habe Josh angewiesen, Ihnen dabei zu helfen, alles Weitere einzurichten.«

      »Das ist super«, antwortet Maxine und lächelt. »Ich schaue mir an, was ihr entwicklungsmäßig an Bord habt, und mache dann vielleicht ein paar Empfehlungen.


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