Projekt Unicorn. Gene Kim

Projekt Unicorn - Gene Kim


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Nur um etwas zu tun zu haben, schenkt sie sich noch einen Kaffee ein. Sie betrachtet ihre Tasse, und ihr wird klar, dass sie heute bereits fünf davon getrunken hat, nur um das Bedürfnis zu befriedigen, wenigstens irgendetwaszu tun. Sie schüttet den Kaffee in den Ausguss.

      Neben ihrer ständig wachsenden Aufgabenliste hat Maxine während der letzten zehn Jahre ein Arbeitstagebuch auf ihrem persönlichen Laptop geführt. Darin verzeichnet sie alles, woran sie gearbeitet hat, wie viel Zeit sie damit verbracht hat, die Erkenntnisse, die sie gewonnen hat, sowie eine Liste von Dingen, die sie nie wieder tun sollte (zuletzt: »Verschwende keine Zeit damit, die Verwendung von Leerzeichen in Dateinamen in Makefiles zu vermeiden – das ist zu schwierig. Verwende stattdessen einfach irgendetwas anderes.«).

      Sie starrt ungläubig auf ihre riesige Aufgabenliste und ihre jüngsten Tagebucheinträge. Sie ist noch nie einem System begegnet, das sie nicht bezwingen konnte. Ist es möglich, dass das absolut mittelmäßige Phoenix-Projekt, in dem überhaupt nichts klappt, mich tatsächlich unterkriegt? Nur über meine Leiche, gelobt sie schweigend und widmet sich dann wieder ihrem Arbeitstagebuch.

      MITTWOCH

      16:00: Heute Nachmittag auf Josh gewartet, der mir sein Setup erklären sollte, damit ich es nachbauen kann. Er beschäftigt sich mit weiteren nächtlichen Build-Problemen.

      Ich habe ein Ticket platziert, um Zugang zum Build-Server zu erhalten, aber mir wurde vom Sicherheitsdienst mitgeteilt, dass ich die Genehmigung meines Abteilungsleiters benötige. E-Mail an Randy gesendet.

      Ich lese jedes Dokument zum Entwicklungsdesign, das ich finden kann, aber langsam sehen sie für mich alle gleich aus. Ich möchte den Quellcode sehen, nicht die Designdokumente lesen.

      16:30: In einem der Designdokumente habe ich die prägnanteste Beschreibung von Phoenix gefunden: »Projekt Phoenix wird die Lücke zur Konkurrenz schließen und unseren Kunden ermöglichen, online die gleichen Dinge zu tun wie in unseren 900 Filialen. Wir werden endlich eine einheitliche Sicht auf unsere Kunden erhalten, sodass die Mitarbeiter vor Ort deren Präferenzen und deren Bestellhistorie sehen können, und ermöglichen so eine effektivere Cross-Channel-Werbung.«

      Der Umfang von Phoenix ist ein wenig beängstigend. Es muss mit Hunderten von anderen Anwendungen im gesamten Unternehmen kommunizieren. Was könnte da alles schiefgehen!

      17:00: Ich mach Schluss für heute. Chris ist vorbeigekommen und hat mich daran erinnert, kein Aufsehen zu erregen und unterm Radar zu bleiben. Und bloß nichts in die Produktivumgebung zu deployen.

      Ja, ja, ja. Mein Gott. Ich kann nicht einmal einen Build in Gang bringen oder mich für Netzwerkfreigaben anmelden. Wie sollte ich irgendetwas in Production pushen?

      Tödliche Langeweile. Ich geh nach Hause, um mit meinem kleinen Welpen zu spielen.

      DONNERSTAG

      9:30: Ja! Sie haben mir Accounts für ein paar weitere Wikis gegeben. Ich bin heiß darauf, mich reinzuwühlen. Das ist doch mal ein Fortschritt, oder?

      10:00: Im Ernst? Das ist alles? Ich habe einige QA-Dokumente gefunden, aber das kann doch nicht alles sein, oder? Wo sind die Testpläne? Wo sind die automatisierten Testskripte?

      12:00: Okay, ich habe William getroffen, den QA-Direktor. Scheint ein netter Kerl zu sein. Das Meeting hat gerade so lange gedauert, dass ich Benutzerkonten für die Netzwerkfreigabe bekommen habe. Millionen von Word-Dokumenten, gefüllt mit manuellen Testplänen.

      Habe William eine E-Mail geschickt und ihn gefragt, ob ich mich mit einem Teil seines Testteams treffen kann. Wie führen sie all diese Tests durch? Sieht so aus, als bräuchten sie dazu eine kleine Armee. Und wo werden die Testergebnisse gespeichert? Ich stehe in seinem Kalender. In zwei Wochen. Wahnsinn.

      15:00: Ich habe herausgefunden, wo das große tägliche Projekttreffen stattfindet: um 8 Uhr morgens bei den Whiteboards. Heute habe ich es verpasst, aber morgen gehe ich definitiv hin.

      17:00: Ich habe in zwei Tagen fast nichts geschafft. Für alles, was ich machen will, muss ich eine E-Mail schreiben, ein Ticket öffnen oder irgendjemanden suchen. Ich verlege mich jetzt darauf, andere zum Kaffee einzuladen. Vielleicht bekomme ich so mehr Antworten.

      FREITAG

      10:00: Das »15-minütige Stand-up-Meeting« dauerte wegen der vielen Notfälle fast 90 Minuten. Ich weiß nicht, wie ich dieses Treffen gestern versäumen konnte – es wird so viel gebrüllt und geschrien, dass man es eigentlich nur schwer überhören kann. Wow.

      OMG. Bei fast niemandem laufen Phoenix-Builds auf den Laptops. Und sie sollen das in ZWEI WOCHEN in Produktion deployen! (Niemand ist besorgt. Verrückt. Sie glauben, dass es erneut verschoben wird.)

      Wenn ich an ihrer Stelle wäre, würde ich mir in die Hose machen. Na ja.

      14:00: Ich habe eine Reihe von Freelance-Entwicklern gefunden, die vor zwei Monaten hinzugezogen wurden. Sie bekommen auch keine Builds hin. Erschreckend. Ich habe sie zum Mittagessen eingeladen. Was für eine Enttäuschung. Sie wissen noch weniger als ich. Wenigstens war der Salat in Ordnung.

      Ich habe ihnen alles erzählt, was ich weiß, wofür sie sehr dankbar waren. Es ist immer gut, mehr zu geben, als man bekommt – man weiß nie, wer einem in Zukunft helfen kann. Vernetzung ist wichtig.

      Notiz an mich selbst: Ich muss meinen Kaffeekonsum reduzieren. Gestern habe ich locker sieben Tassen getrunken. Das ist nicht gut – ich glaube, ich bekomme Herzrasen.

      Um 16:45 packt Maxine ihre Sachen zusammen. Keine Chance, dass irgendjemand an einem Freitag um diese Zeit noch etwas für sie erledigt.

      Sie schafft es fast bis zur Treppe, als sie auf Randy trifft.

      »Hi, Maxine. Schade, dass wir mit der Entwicklungsumgebung nicht weitergekommen sind. Ich habe eine Reihe von Problemen eskaliert und werde heute noch einige Telefonate führen, bevor ich gehe.«

      Maxine nimmt es gelassen. »Danke. Ich hoffe, das macht ein paar Leuten Feuer unterm Hintern.«

      »Was auch immer nötig ist, hm?« Randy lächelt. »Äh, da ist noch eine Sache, die ich von Ihnen brauche …«

      Oh oh, denkt Maxine – sagt aber: »Klar, was gibt’s?«

      »Ähm. Jeder im Phoenix-Projekt muss seine Arbeitszeit erfassen«, sagt Randy. »Wir müssen den Auslastungsgrad nachweisen, ansonsten nimmt uns das Projektmanagement die Leute weg. Ich habe Ihnen einen Link zu unserem Zeiterfassungssystem geschickt. Könnten Sie das Formular ausfüllen, bevor Sie gehen? Sollte nur ein paar Minuten dauern.«

      Er schaut sich nach links und rechts um, bevor er flüstert: »Ich brauche vor allem Ihre Stunden, denn wenn es um die Budgetierung für das nächste Jahr geht, wird es mir helfen, Ihre Position wieder zu besetzen.«

      »Überhaupt kein Problem, Randy. Ich kümmere mich darum, noch bevor ich gehe«, sichert Maxine zu, aber so richtig glücklich ist sie damit nicht. Sie hat natürlich Verständnis für das große Budgetspiel, das stört sie gar nicht – sondern dass sie aufgrund ihrer akribischen Notizen schon weiß, was diese Woche als messbares Ergebnis herausgekommen ist: Null. Komma. Nichts.

      Zurück an ihrem Schreibtisch, loggt sie sich in das Zeiterfassungssystem ein. Unter ihrem Namen sind Hunderte von Projektcodes zu finden. Nicht etwa die Projektnamen. Stattdessen handelt es sich um Projektcodes, die alle wie die Reservierungsnummern von Fluggesellschaften aussehen – zehn Zeichen lang in Großbuchstaben.

      Sie schaut sich Randys E-Mail an, kopiert den Projektcode, den er ihr gegeben hat (PPX423-94-10), in das Feld, gibt dann pflichtgemäß für Mittwoch bis Freitag jeweils acht Stunden ein und klickt auf Senden. Sie runzelt die Stirn. Die Daten lassen sich nicht abschicken, solange sie nicht beschreibt, was genau sie an den Tagen gemacht hat.

      Maxine stöhnt. Sie gibt für jeden Tag etwas ein, alles irgendwie Variationen von »An Phoenix-Builds gearbeitet, aber auf Gott und die Welt gewartet, weil mir alles Mögliche fehlt«.


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