Projekt Unicorn. Gene Kim

Projekt Unicorn - Gene Kim


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und ihrer Mission, einen Phönix-Build zu erstellen, aber es fühlt sich an, als wäre bereits ein ganzes Jahr vergangen. Die Stunden ziehen sich zäh wie Melasse.

      Sie erhält eine Benachrichtigung auf ihrem Telefon, die sie aufrüttelt und in die Realität zurückholt:

      Phoenix-Projekt: Stakeholder-Status-Update (beginnt in 15 Minuten)

      Dieses Meeting kennt sie noch nicht. Um ihre Mission voranzutreiben, hat sie alle gebeten, sie zu jedem einzelnen Treffen einzuladen. Das ist besser, als am Schreibtisch zu sitzen, zumal sie immer noch versucht, die Lage vollständig zu verstehen. Sie hofft, jemanden zu finden, der ihr einige der Dinge, die sie braucht, besorgen kann. Sie hat darauf geachtet, dass ihr keine Action-Items zugewiesen werden, und sie hat sich auch nicht freiwillig für die Arbeit an irgendwelchen spaßig klingenden Features zur Verfügung gestellt – sie will sich nicht vom Phoenix-Build ablenken lassen.

      Jeder hier glaubt, dass Features wichtig seien, weil sie in einer App, auf der Webseite oder in der API landen. Aber niemand scheint zu erkennen, wie wichtig der Build-Prozess ist. Entwickler können ohne einen vernünftigen Build-, Integrations- und Testprozess nicht produktiv sein.

      Sie kommt früh an und ist überrascht, dass nur noch ganz hinten ein wenig Platz ist. Sie steht mit fünf anderen Personen an der Wand. Als sie sich umsieht, staunt sie nicht schlecht – alle Entscheidungsträger der Firma sind hier. Maxine lächelt, als sie sieht, dass Kirsten Fingle, die Leiterin des Project Management Office, die Sitzung leitet. Maxine hatte es genossen, mit ihr zusammenzuarbeiten, als sie ein großes Programm unterstützte, dem mehrere von Kirstens Projektleiter-Ninjas zugeteilt wurden – die Ninjas sind normalerweise für die wichtigsten Projekte vorgesehen, in denen viele Gruppen innerhalb des Unternehmens koordiniert werden müssen. Das sind richtige Asse, wenn es darum geht, Dinge zu bewegen. Sie können Probleme schnell eskalieren und lösen – oft mit einer einzigen Textnachricht.

      Vorne im Raum steht Chris, der ihr kurz zunickt – er managt über 200 Entwickler und QA-Leute, deren Arbeit hauptsächlich durch das Phoenix-Projekt bestimmt wird. Chris starrt jemanden auf der anderen Seite des Tischs an, der wie Ed Harris in Apollo 13 aussieht. Als sie ihren Nachbarn leise fragt, wer das sei, antwortet dieser: »Bill Palmer, der neue VP of IT Operations. Ist letzte Woche nach der großen Säuberungsaktion in der Führungsriege befördert worden.«

      Großartig, denkt Maxine. Aber sie freut sich, dass diese Menschenansammlung bereits ein paar Dienstjahre hinter sich hat. Es ist, als stünde man auf der Brücke der Enterprise und würde den Sternenflottenoffizieren bei der Arbeit zuschauen.

      Sie genießt die ersten 15 Minuten der Sitzung. Es ist ein Chaos. Alle rätseln herum, was genau Sarah im Townhall-Meeting meinte, als sie davon sprach, der Phoenix-Launch fände »später in diesem Monat« statt. Kirsten erklärt mit Nachdruck: »Das Datum wird noch verhandelt, und mir wurde bisher nichts Konkretes mitgeteilt.« Könnte es wirklich ein weiterer Fehlalarm sein?, fragt sich Maxine ungläubig.

      Sie spürt die besondere Dringlichkeit, mit der über Geschäftsprioritäten und die wichtigsten zu eskalierenden und zu behandelnden Themen gesprochen wird sowie über solche, bei denen aktuelle Konflikte gelöst werden müssen. Sie weiß nicht, was all die Akronyme bedeuten, aber sie fügt die, die sie für wichtig hält, ihrer Liste hinzu und ignoriert die fade, unternehmensinterne Kabbelei.

      Ganz allmählich stellt sich bei ihr, ganz gegen ihre eigene Erwartung, Langeweile ein, während das Treffen weiter vor sich hin plätschert und sich der Fokus auf bedeutungslose Details richtet, die leidenschaftlich vorgetragen werden von … wem auch immer – sie hat ehrlich gesagt keine Ahnung. Steht OEP für »Order Entry Protocol« oder »Order Entry Program«? Oder haben sie wieder über OPA gesprochen? Oder ist das vielleicht das Gleiche? Interessiert mich das wirklich?

      40 Minuten später – ihre Augen werden schon glasig – beginnt die »Task-Status-Phase« des Meetings, und Maxine verliert endgültig jegliches Interesse. Hätte sie noch etwas anderes zu tun, wäre sie schon längst weg.

      Ihre Füße schmerzen vom langen Stehen, und sie überlegt gerade, ob sie die Sitzung verlassen soll, als sie hört, wie sich jemand darüber beschwert, wie lange er schon auf etwas wartet, das er dringend braucht. Sie schmunzelt, als sie denkt: Willkommen im Klub. Genau damit verbringe ich den lieben langen Tag.

      Einer der Dev-Manager aus der Riege der jüngeren Mitarbeiter antwortet. »Ja, wir sind definitiv im Rückstand, aber wir haben ein paar neue Entwickler, die diese Woche anfangen, um in einer oder zwei Wochen auf dem Laufenden zu sein und produktiv mithelfen zu können.«

      Ha. Ich kenne mich wirklich gut aus und habe dennoch fast keine Fortschritte gemacht, denkt sie, während sie zu Boden schaut. Sie schmunzelt vor sich hin. Viel Glück, ihr Dummköpfe.

      Es setzt eine lange, unbehagliche Stille ein. Maxine schaut auf. Zu ihrem Entsetzen sehen alle sie an – ihr wird klar, dass sie etwas laut gesagt haben muss.

      Sie schaut Chris an, der fassungslos dreinblickt und ihr mit wild gestikulierenden Händen eine Art »Nein, nein, nein!« herüberschickt.

      Von ganz vorne meldet sich schnell Kirsten: »Schön, Sie zu sehen, Maxine! Ich wusste gar nicht, dass Sie bei Phoenix sind. Wir freuen uns, dass jemand mit Ihrer Erfahrung bei unseren Bemühungen helfen wird – Sie hätten zu keinem besseren Zeitpunkt auftauchen können!«

      Chris vergräbt sein Gesicht in den Händen. Wenn Maxine nicht schon an der Wand stünde, würde sie zurückweichen. Sie ahmt Chris nach und wedelt mit ihren Hände hin und her. »Nein, nein, nein … Tut mir leid, ich bin erst seit ein paar Tagen hier. Sie alle leisten erstaunliche Arbeit. Bitte fahren Sie fort – ich bin nur hier, um bei der Dokumentation und den Builds zu helfen.«

      Kirsten, mit all ihrer effektiven Ernsthaftigkeit, lässt nicht locker. Sie lehnt sich nach vorne. »Nein, wirklich. Ich glaube, Sie haben ›Viel Glück, ihr Dummköpfe.‹ gesagt. Ich bin sehr an Ihrer Meinung interessiert, allein aufgrund Ihres großen Erfolgs im Anlagenbetrieb. Ich würde gern besser verstehen, was Sie so lustig finden.«

      »Es tut mir leid, dass ich gelacht habe«, beginnt sie. »Es ist nur so, dass ich seit letztem Mittwoch nichts anderes gemacht habe, als zu versuchen, Phoenix-Builds auf meinem Laptop in Gang zu bringen, und vollkommen gescheitert bin. Ich warte auf Credentials, Lizenzschlüssel, Environments, Konfigurationsdateien, Dokumentation, was auch immer – ich weiß, dass jeder eine Menge zu tun hat und dass Phoenix eine umfangreiche Anwendung ist, sodass es ein ziemlich gewaltiges Unterfangen sein muss, alle Teile für einen Build zusammenzufügen. Aber wenn wir wollen, dass unsere Entwickler produktiv sind, müssen sie vom ersten Tag an in der Lage sein, Builds durchzuführen. Im Idealfall sollten sie Code in einer produktionsähnlichen Umgebung schreiben, damit sie unmittelbar Feedback bekommen, ob der von ihnen geschriebene Code im Gesamtsystem funktioniert. Nach tagelangen Versuchen habe ich immer noch nichts, was dem Gesamtsystem auch nur ähneln würde – ich habe lediglich eine Kiste voller Einzelteile, aber eine ganze Menge Werkzeuge fehlen noch. Und ich kenne mich wirklich, wirklich gut mit diesen Dingen aus.«

      Sie schaut sich im Raum um und zuckt halbherzig mit den Achseln in Richtung Chris. Das musste sie sich unbedingt von der Seele reden. Chris sieht entsetzt aus.

      »Ich hoffe nur, dass diese neuen Engineers, die Sie eingestellt haben, mehr Glück haben als ich«, schließt sie schnell.

      Erneut setzt eine lange, unbehagliche Stille ein. Randy nickt nachdrücklich und verschränkt selbstgefällig die Arme. Jemand auf der anderen Seite des Tischs lacht lautstark. »Sie hat absolut recht! Die werden viel mehr als nur Glück brauchen! Hier eine Dev-Umgebung einzurichten, ist ungefähr so, als müsse man auf irgendeinem Amt seinen Führerschein erneuern – man zieht eine Nummer, füllt einen Haufen Formulare aus und wartet. Ach was, zum Teufel, ich bekomme einen Führerschein ja am selben Tag verlängert – es ist eher wie der Versuch, eine Baugenehmigung zu erhalten – niemand weiß, wie lange es am Ende dauern wird.«

      Die Hälfte der Menschen im Raum lacht gemein, während die andere Hälfte eindeutig beleidigt wirkt.

      Maxine schaut sich die kluge Person an, die gesprochen


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