Projekt Unicorn. Gene Kim

Projekt Unicorn - Gene Kim


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Stolz von einem anderen Unternehmen abgeworben.

      Seit meiner Pensionierung war ich weiterhin im Board of Directors tätig. Die Aufgabe des Boards ist sehr einfach: die Interessen der Aktionäre des Unternehmens zu vertreten, zu denen auch fast alle von Ihnen gehören. Wir wollen sicherstellen, dass die Zukunft des Unternehmens gesichert ist. Wenn Sie eine Betriebsrente haben oder an unserem Aktienkaufplan für Mitarbeiter teilnehmen, ist das für Sie wahrscheinlich genauso wichtig wie für mich.

      Wir tun dies in erster Linie, indem wir die Führungskräfte des Unternehmens zur Rechenschaft ziehen, indem wir den CEO einstellen und, äh, gelegentlich auch feuern«, sagt er ganz klar. Maxine hält kurz die Luft an – bis zu diesem Moment hat Bob eher wie ein freundlicher Großvater gewirkt. Aber offenbar gibt es da auch eine unnachsichtige Seite.

      Allein der Blick auf den Aktienkurs zeigt, dass der Markt nicht glaubt, dass wir uns so gut entwickeln, wie wir es sollten. Wenn der Aktienkurs unseres Unternehmens sinkt, während der Aktienkurs unserer Konkurrenten steigt, muss sich etwas ändern.

      Ich stelle mir gern vor, dass Unternehmen zwei Arten von Operationsmodi besitzen: eine für Friedens- und eine für Kriegszeiten. In Friedenszeiten laufen die Dinge gut. Das sind Zeiten, in denen wir als Unternehmen wachsen und unsere Geschäfte so führen können wie immer. In diesen Zeiten ist der CEO oft auch gleichzeitig Chairman of the Board. Aber wenn sich ein Unternehmen in der Krise befindet, wenn es schrumpft oder Gefahr läuft, völlig zu versagen, wie es jetzt bei uns der Fall ist, dann befinden wir uns im Krieg.

      Im Krieg geht es nun im Wesentlichen darum, irgendwie der totalen Vernichtung zu entgehen. Und deshalb trennt ein Board in Kriegszeiten oft die Rollen von CEO und Chairman voneinander.« Bob hält inne, blinzelt in die hellen Lichter und lässt seinen Blick über das mucksmäuschenstille Publikum schweifen. »Ich möchte, dass jeder weiß, dass ich volles Vertrauen in Steve und seine Führungsqualitäten habe. Und wenn alles gut geht, werden wir einen Weg finden, wie wir ihm den Vorsitz wieder übertragen können, damit ich zurück in den Ruhestand gehen kann. Dahin, wo ich hingehöre.« Die Menge lacht nervös, als Bob winkt und seinen Abgang macht.

      Steve tritt an die Vorderkante der Bühne und sagt: »Und eine Runde Applaus für Bob Strauss bitte.«

      Nach einem gedämpften Beifall resümiert Steve: »Unsere diesjährigen Unternehmensziele betreffen die Stabilisierung unseres Geschäfts. Unser Fertigungsbereich, der zwei Drittel unseres Umsatzes ausmacht, stagniert, ist aber immer noch rentabel. Die Fertigung ist seit fast einem Jahrhundert die Hauptstütze unseres Geschäfts, und wir konnten uns gegen unsere sehr heftige asiatische Konkurrenz durchsetzen.

      Unsere Einzelhandelsaktivitäten performen jedoch weiterhin unterdurchschnittlich. Unser Umsatz ist hier fast fünf Prozent niedriger als im vergangenen Jahr«, stellt er fest. »Unser wichtigstes Quartal kommt erst noch, also gibt es Hoffnung. Aber Hoffnung allein ist keine Strategie, und Sie haben ja gesehen, wie die Wall Street auf unsere bisherigen Leistungen reagiert hat. Ich bin jedoch weiterhin zuversichtlich, dass das Phoenix-Projekt uns helfen wird, uns an die neuen Marktbedingungen anzupassen.

      Deshalb übergebe ich jetzt kurzerhand an Sarah Moulton, unsere Senior VP für den Einzelhandelsbereich, die erklären wird, warum das Phoenix-Projekt für die Zukunft des Unternehmens so wichtig ist.«

      Sarah betritt die Bühne in einem auffallend schönen königsblauen Geschäftsanzug. Was auch immer Maxine von Sarah hält, sie muss zugeben, dass sie immer fabelhaft aussieht. Tatsächlich würde sie bestens auf die Titelseite von Fortune passen – intelligent, aggressiv und ehrgeizig.

      »Wie Steve und Bob erwähnt haben«, beginnt Sarah, »befinden wir uns mitten in einer Digital Disruption, einer Zeit eines unglaublichen digitalen Bruchs im Einzelhandel. Sogar unsere Kunden bestellen online und per Telefon. Das Ziel des Phoenix-Projekts ist es, unseren Kunden die Möglichkeit zu geben, so zu bestellen, wie sie es wollen, ob online, in unseren Geschäften oder über unsere Vertriebspartner. Und über welchen Kanal auch immer sie bestellen, sie sollen die Möglichkeit haben, sich ihre Produkte nach Hause liefern zu lassen oder sie in einem der Geschäfte abzuholen.

      Das ist es, worum es uns seit Jahren geht. Im Moment befinden sich unsere Läden noch im finsteren Mittelalter. Das war Parts Unlimited 1.0. Das Phoenix-Projekt macht daraus Parts Unlimited 2.0. Es gibt so viele Möglichkeiten, in der Konkurrenz mit den E-Commerce-Giganten effizienter zu werden, aber wir müssen dazu innovativ und agil sein. Damit wir relevant bleiben, müssen die Menschen uns als einen Marktführer betrachten, der neue Geschäftsmodelle entwickelt – was im ersten Jahrhundert unseres Bestehens funktioniert hat, funktioniert vielleicht nicht mehr in unserem zweiten.«

      Wie immer hat das, was Sarah sagt, eine gewisse Gültigkeit, was Maxine zähneknirschend zugibt, aber Sarah kann so dermaßen herablassend sein.

      »Das Phoenix-Projekt ist die aktuell wichtigste Initiative für unser Unternehmen, und unser Überleben hängt davon ab. Wir haben in den letzten drei Jahren fast 20 Millionen Dollar für dieses Projekt ausgegeben, aber die Kunden haben davon bisher noch nichts gehabt«, fährt sie fort. »Ich habe beschlossen, dass es für uns an der Zeit ist, endlich das Spielfeld zu betreten. Im Laufe dieses Monats werden wir das Phoenix-Projekt launchen. Keine Verzögerungen mehr. Keine Verschiebungen mehr.«

      Maxine nimmt ein deutliches Keuchen des Publikums wahr, bevor ein lautes Brummen einsetzt, das Ergebnis vielfältigen, unruhigen Gemurmels in der Zuhörerschaft. Sarah fährt fort: »Damit sind wir endlich auf Augenhöhe mit der Konkurrenz und bereit, Marktanteile zurückzugewinnen.«

      Maxine seufzt frustriert. Sie versteht die Dringlichkeit, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass es über 100 Entwickler gibt, die bei Weitem nicht so produktiv sind, wie sie sein sollten, und die sich mit der (vergeblichen) Durchführung von Routine-Builds herumschlagen, zu viel Zeit in Meetings verbringen oder auf Dinge warten, die sie für ihre Arbeit brauchen. Sarahs Rede klingt wie die eines Generals, der einem erklärt, wie wichtig es sei, den Krieg zu gewinnen, bevor man dann herausfindet, dass alle Soldaten schon seit drei Jahren in irgendeinem Hafen festsitzen.

      Immerhin hat Sarah heute nicht schon wieder einen völlig neuen Ansatz verkündet.

      Steve bedankt sich bei Sarah und kommt dann schnell auf die Finanzen des Unternehmens sowie einen Betriebsunfall zu sprechen, der letzten Monat in einer der Produktionsstätten passiert ist. Er erzählt von Hannah, deren Finger von einer Stanzmaschine zerquetscht wurden, und dass diese Maschine durch eine neue ersetzt wurde, bei der ein Sensor verhindert, dass sich die Stempel schließen, wenn sich jemand im Gefahrenbereich befindet. Er lobt das Team dafür, dass es nicht darauf gewartet hat, bis dafür ein Budget beschlossen wurde: »Denken Sie immer daran, dass Sicherheit eine wesentliche Voraussetzung für erfolgreiche Arbeit ist.«

      Maxine liebt diese Berichte und war immer beeindruckt und emotional bewegt davon, wie sehr Steve sich um die Sicherheit seiner Mitarbeiter kümmert.

      Er kommt zum Ende: »Damit ist unser Bericht fast abgeschlossen. Wir haben noch rund 15 Minuten Zeit für Fragen und Antworten.«

      Maxines Aufmerksamkeit schweift ab, als die Mitarbeiter Fragen an Steve richten zur Umsatzprognose, der Performance der Einzelhandelsgeschäfte, zu den jüngsten Problemen in der Produktion … Aber als jemand nach dem Payroll-Problem fragt, schreckt sie hoch, bevor sie sich gleich wieder tief in ihren Sitz verkriecht, während sie sich anstrengt, akustisch alles zu verstehen.

      »Ich entschuldige mich bei allen, die davon betroffen waren«, antwortet Steve. »Mir ist klar, wie unangenehm das für alle Leidtragenden war, und ich versichere Ihnen, dass wir sehr konkrete Maßnahmen ergriffen haben, um sicherzustellen, dass dies nie wieder geschieht. Es war eine Kombination aus technischen Problemen und menschlichem Versagen, und wir glauben, dass wir beides behoben haben.«

      Maxine schließt die Augen, fühlt, wie sich ihre Wangen leuchtend rot färben, und hofft, dass sie niemand anschaut. Sie versteht nicht, wie ihre Versetzung ins Exil des Phoenix-Projekts in irgendeiner Form als Abhilfe betrachtet werden kann.

      KAPITEL 3

      Montag, 8. September


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