Projekt Unicorn. Gene Kim

Projekt Unicorn - Gene Kim


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nickt. Sie vermisst ihre alte Mannschaft definitiv.

      »Oh, und übrigens gibt es ein Gerücht, das Sie interessieren könnte«, verrät Kurt und sieht sich um, als hätte er Angst, belauscht zu werden. »Es heißt, Sarah habe darauf gedrängt, dass Phoenix diese Woche gelauncht wird, und Steve habe den Termin gerade genehmigt. Jetzt wird die Hölle losbrechen. Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie beim Release-Team mitmachen wollen. Es wird ein Riesenspaß, dem Ganzen zuzuschauen.«

      Nach dieser seltsamen Begegnung kehrt Maxine an ihren Schreibtisch zurück und stellt fest, dass sie erneut wartet. Zerstreut liest sie das Zitat aus einem ihrer Lieblingsbücher von Dr. Seuss, Oh, the Places Youll Go, das sie an ihren verschiedenen Arbeitsplätzen immer wieder aufhängt.

      Das Buch beschreibt den gefürchteten »Waiting Place«, an dem man darauf wartet, dass der Fisch anbeißt, auf den Wind zum Drachensteigen, auf Onkel Jake, dass das Wasser kocht oder die nächste Pause kommt … Alle warten einfach nur.

      NEIN!

      Das ist nichts für dich!

      Irgendwie wirst du

      all dem Warten und Bleiben entkommen.

      Du wirst die freundlichen Orte finden,

      an denen die Boom-Bands spielen.

      Alle Mitglieder des Phoenix-Projekts sitzen auf ihrem »Waiting Place« fest, und Maxine ist fest entschlossen, alle zu befreien.

      Es ist 11:45 Uhr. Maxine schaut auf ihren Kalender. Es ist erst der vierte Tag ihres erzwungenen Exils. Obwohl sie nichts von Kurt gehört hat, ist es ihr gelungen, Zugang zum dritten von vier Quellcode-Repositories zu bekommen. Jetzt entscheidet sie, dass sie nicht länger auf andere Menschen warten will.

      Sie wird irgendwie einen Build machen.

      In den nächsten vier Stunden versucht sie, jedes Makefile, maven POM, bundler, pip, ant, build.sh, build.psh und alles andere auszuführen, was sie finden kann und was entfernt einem Build-Skript ähnelt. Die meisten Skripte brechen sofort ab, als sie sie ausführt. Einige spucken beunruhigend lange Fehlermeldungen aus.

      Sie durchforstet die Fehlerprotokolle, erhofft sich Hinweise dazu, wie man etwas wirklich zum Laufen bringen könnte, und sucht den ganzen Mist nach der Nadel im Heuhaufen ab – eine mühsame und unangenehme Aufgabe. Sie identifiziert mindestens 20 fehlende Dependencies und ausführbare Dateien. Sie fragt mehrmals herum, ob jemand weiß, wo man diese Dinge herbekommt, öffnet Tickets und verschickt E-Mails, aber niemand scheint irgendetwas zu wissen. Sie verbringt drei Stunden damit, im Internet nach Hinweisen zu googeln und Stack Overflow zu durchwühlen.

      In einem Moment der Schwäche beschließt sie, einige der fehlenden Komponenten aus ähnlich klingenden Komponenten, die sie auf GitHub findet, von Grund auf neu zu bauen. Fünf Stunden später ist sie in einer schrecklichen Stimmung – erschöpft, frustriert, gereizt und vollkommen sicher, dass sie gerade einen ganzen Tag damit verschwendet hat, von unzähligen Hölzchen auf noch mehr Stöckchen zu kommen.

      Im Grunde hat sie versucht, fehlende Motorenteile aus eingeschmolzenen Aluminiumdosen nachzuformen. Das war wirklich dämlich, Maxine, denkt sie.

      Als sie an diesem Abend nach Hause kommt, wird ihr klar, dass sie die ganze Frustration von der Arbeit mit im Gepäck hat. Sie teilt ihrem Mann und ihren Kindern mit, dass sie derzeit nicht in der Lage sei, sich zu unterhalten, und findet im Kühlschrank zwei Piccoloflaschen Veuve Cliquot Rosé. Ihre Teenager wissen sofort, dass sie ihr aus dem Weg gehen sollten – sie trägt ihr »Mama ist superschlecht gelaunt«-Gesicht.

      Während die anderen das Abendessen vorbereiten, verkriecht sie sich ins Bett und sieht sich Filme an.

      Was für ein total verschwendeter Tag, ärgert sie sich.

      Sie denkt über den Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Tag nach. Ein guter Tag ist es für sie dann, wenn sie ein wichtiges Geschäftsproblem löst. Die Zeit vergeht wie im Flug, weil sie konzentriert ist und ihre Arbeit liebt. Sie befindet sich im Flow und kommt zu einem Punkt, an dem sich nichts mehr nach Arbeit anfühlt.

      An einem schlechten Tag schlägt sie ihren Kopf gegen einen Monitor und sucht das Internet nach Dingen ab, die sie eigentlich nicht im Geringsten interessieren, die sie aber zur Lösung des Problems braucht. Während sie einschläft, versucht sie, nicht darüber nachzudenken, wie viel Zeit sie damit verbrät, im Netz nach Möglichkeiten zu suchen, obskure Fehlermeldungen zu beheben.

      Es ist ein neuer Tag. Frisch erholt nach einem guten Nachtschlaf, sitzt Maxine an ihrem Schreibtisch – mit dem Vorsatz, den gestrigen Fehler nicht zu wiederholen. Nur weil sie sich beschäftigt gefühlt hat, bedeutet das nicht, dass sie tatsächlich etwas Sinnvolles getan hat. In einem Terminalfenster ruft sie ihre Arbeit von gestern auf und löscht alles, ohne es noch einmal anzusehen.

      Dann ruft sie all ihre offenen Tickets im Helpdesk-System auf. Sie weigert sich, sich machtlos zu fühlen, der Gnade anonymer Mächte ausgeliefert, gefangen in einer kalten Bürokratie, die sie in ihren Zielen, Bestrebungen, Wünschen und Bedürfnissen aktiv behindert.

      Maxine blickt auf eine lange und komplizierte Geschichte mit Ticketing- und Benachrichtigungssystemen zurück, darunter sowohl gute als auch schlechte Erfahrungen.

      Letztes Jahr hat sie ein Kickstarter-Projekt für einen Mug unterstützt, der angeblich Kaffee oder Tee stundenlang bei jeder gewünschten Temperatur warmhalten sollte. Sogar eine Bluetooth-Verbindung war geplant, um die Temperatur des Getränks per App fest- und einstellen zu können. Sie fand die Idee faszinierend und beteiligte sich schnell mit 500 Dollar, um der Erfinderin zu helfen.

      Sie war jedes Mal begeistert, wenn sie eine neue Benachrichtigung erhielt: als die Erfinderin ihre Finanzierungsziele erreicht hatte, als ein Hersteller ausgewählt worden war, als der erste Produktionslauf begann und, was am wichtigsten war, als ihre Tasse verschickt wurde. Es war so befriedigend, Teil einer gemeinsamen Anstrengung zu sein und schließlich einen der ersten 500 hergestellten Kaffeebecher in der Hand zu halten.

      Das Ticketing-System der Entwicklungsabteilung fühlt sich völlig anders an. Sie empfindet das Gegenteil des glücklichen Gefühls und der Vorfreude, die sie bei ihrer Zaubertasse gespürt hat. Stattdessen erinnert es sie an eine schreckliche Erfahrung, als sie in den 1990er-Jahren ihr erstes Hochgeschwindigkeits-DSL-Breitbandpaket in Betrieb nahm. Obwohl sie das DSL-Modem sofort erhielt, musste sie sich danach mit dem Internetservice-Reseller (der ihr den DSL-Dienst verkauft hatte) und der Telefongesellschaft (die die Kupferleitungen zu ihrem Haus besaß) auseinandersetzen.

      Wer auch immer die Installation in ihrem Haus vorgenommen hatte, musste es vermasselt haben, denn nichts funktionierte – und als sie die beiden Firmen anrief, sagte man ihr jeweils, dass es in der Verantwortung der anderen läge, das Problem zu beseitigen. Manchmal konnten sie ein Ticket finden, das mit ihren früheren Gesprächen zusammenhing, manchmal nicht. Sie war in einer grausamen, gefühllosen, kafkaesken Bürokratie gefangen. Vier Wochen lang tat ihr großartiges DSL-Modem nichts, außer rot zu blinken. Es war so nutzlos wie ein Ziegelstein, und sie hatte unzählige offene Tickets bei beiden Firmen.

      Eines Tages beschloss Maxine, einen ganzen Tag freizunehmen, nur um die Aktivierung ihrer DSL-Leitung in Angriff zu nehmen. Nach drei Stunden schaffte sie es endlich, sich am Telefon bis zu einem Supportmitarbeiter der Eskalationsstufe 3 hochzuarbeiten, der Zugang zu beiden Ticketing-Systemen hatte. Er war großartig, unglaublich versiert und in der Lage, Maxines Anfrage an die richtige Abteilung zu adressieren, wobei er die beiden Vorgesetzten der zwei Unternehmen mit den richtigen Schlüsselwörtern ans Telefon lockte, die dann alle notwendigen Arbeiten in die Wege leiteten. Eine Stunde später hatte sie ihre 64-KBit/s-Breitbandverbindung endlich in Betrieb.

      Noch jetzt, Jahrzehnte später, erinnert sie sich daran, wie dankbar sie dieser Person war. Sie hatte ihm gesagt: »Ich würde gern jemandem Verantwortlichen in Ihrer Firma erzählen, welch hervorragende Unterstützung Sie geleistet haben und wie dankbar ich für Ihre Hilfe bin.« Zufrieden blieb sie noch zehn Minuten in der Warteschleife, um mit einem Vorgesetzten zu sprechen, und verbrachte dann weitere zehn Minuten damit, sich ausführlich über


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