Projekt Unicorn. Gene Kim

Projekt Unicorn - Gene Kim


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erhalten. Ich kann Tickets nicht erneut öffnen. Das kann nur ein Supervisor. Und alle neuen Tickets landen in der Warteschlange, wo sie dem nächsten verfügbaren Mitarbeiter zugewiesen werden. Vielleicht kann meine Vorgesetzte helfen?«

      Maxine sackt in sich zusammen, weil sie ahnt, was ihr droht. Aber als sie sich in dem Meer von Menschen um sie herum umsieht, wird ihr klar, dass sie ihre Dev-Umgebung niemals bekommen wird, wenn sie das jetzt nicht endgültig klärt.

      »Auf jeden Fall. Das wäre wunderbar, Derek.« Er lächelt, und sie steuern auf eines der Außenbüros zu.

      Während der nächsten 15 Minuten beobachtet Maxine, wie Dereks Vorgesetzte fachkundig durch die umfangreiche Ticket-Historie navigiert. Obwohl Maxine gerade erst zu ihrer Suche nach Derek aufgebrochen ist, hat bereits jemand namens Samantha ihr neues Ticket geschlossen und darauf hingewiesen, dass im Feld »Anmerkungen« keine Genehmigungen eingereicht werden können.

      Maxine zwingt sich dazu, ruhig zu bleiben. Diese Leute versuchen, ihr zu helfen. Die Vorgesetzte entschuldigt sich und beteuert, wie unangenehm ihr das alles sei. Sie legt die beiden Tickets von Maxine zusammen, setzt Randys Namen in das Genehmigungsfeld und reicht das Ticket erneut ein. »Jetzt muss Randy nur noch einen Knopf im Helpdesk-Tool drücken, und schon kann es losgehen! Es tut uns leid, dass wir Anfragen nicht wirklich autorisieren können – nur ausgewählte Manager können das.«

      »Kann er es jetzt per Telefon genehmigen?«, fragt sie mit erzwungener Heiterkeit. Offenbar nicht – die Helpdesk-Software wurde geschrieben, bevor es Smartphones gab und die Mobiltelefone wahrscheinlich noch so groß wie Koffer waren und nur sieben LED-Ziffern anzeigen konnten.

      Maxine seufzt, aber sie bedankt sich überschwänglich, weil sie spürt, dass sie ihrem Ziel ganz nahe ist. Als sie sich umdreht, um zu gehen, fragt Derek zaghaft: »Stört es Sie, wenn ich eine dumme Frage stelle?«

      »Kein Problem. Es gibt keine dummen Fragen. Schießen Sie los!«, lächelt sie und versucht, dabei nicht ungeduldig zu wirken.

      »Was ist eine Dev-Umgebung? Ich habe mich mit Laptop-Problemen, Passwortrücksetzungen und solchen Dingen beschäftigt. Aber ich habe noch nie von einer ›Umgebung‹ gehört.«

      Und da ist sie endlich, denkt Maxine, ordentlich beschämt. Die Wochenlektion über Geduld, Freundlichkeit und Einfühlungsvermögen, die Ihnen von Derek und der Helpdesk-Abteilung präsentiert wird.

      Maxine ist stolz darauf, dass sie sich den Ruf erworben hat, ein besonnener und mitfühlender Mensch zu sein. Aber im Moment hat sie das Gefühl, dass sie nichts von all diesen Dingen zeigen kann. Macht ihre Zugehörigkeit zum Phoenix-Projekt sie zu einem schlechteren Menschen?

      Ihr wird klar, wie fehlgeleitet ihr Zorn auf Derek war. Dieser arme Kerl hatte nichts gegen sie, bloß weil sie eine Entwicklerin war. Er wusste nicht einmal, wonach sie gefragt hatte, geschweige denn, wie wichtig es war. In seiner Unerfahrenheit hat er lediglich ihr Ticket geschlossen, weil er sich an die festgelegten Regeln hält. Er hat nur versucht, seine Arbeit so gut zu machen, wie es ihm aufgetragen worden war.

      Maxine kehrt zwei Stunden später an ihren Schreibtisch zurück. Sie hatte Derek und seine Vorgesetzte zum Mittagessen eingeladen, um sich für ihre Hilfe zu bedanken und Abbitte für ihre schlimmen Gedanken über Derek zu leisten. Sie hatte die Chance bekommen, ihm die Welt der Entwicklung zu erklären, und seine aufrichtige Neugier war ansteckend. Sie beschrieb all die aufregenden Karrieremöglichkeiten, die es für technische Mitarbeiter außerhalb des Helpdesks gibt in der Hoffnung, das könne ihn dazu ermutigen, einige dieser Optionen zu erkunden.

      Sie geht zu Randy, um sicherzustellen, dass er ihre Anfrage bewilligt. Er ist nicht an seinem Schreibtisch. Sie ruft ihn sofort von ihrem Handy aus an.

      »Ich kann es erst genehmigen, wenn ich wieder an meinem Schreibtisch bin«, erklärt Randy ihr. »Ich verspreche hoch und heilig, dass ich die Genehmigung sofort erteile, sobald ich aus den Meetings raus bin. Das geht vor fünf Uhr klar.«

      Maxine kehrt an ihren Schreibtisch zurück und fühlt sich hin- und hergerissen. Sie weiß um die Notwendigkeit automatisierter Workflows. In der Fertigung kontrollieren die von ihr geschriebenen MRP-Systeme alles, was Tausende von Menschen den ganzen Tag lang tun. Man kann ohne streng geregelte Arbeitsabläufe keine Produkte in großen Stückzahlen herstellen, die Tausende von Dollar kosten.

      Und Helpdesk-Prozesse, egal ob hier bei Parts Unlimited oder bei den Firmen, die damals ihr DSL-Modem installieren sollten, ermöglichen einen konsistenten Kundenservice, selbst wenn dieser durch Tausende unterschiedlicher Callcenter-Mitarbeiter erbracht wird.

      Warum also fühlt sich unser eigenes Ticketing-System so schrecklich an? Wir sind alle Teil von Parts Unlimited, warum also wirkt es so, als hätte man es mit einer seelenlosen Regierungsbürokratie oder einem gelangweilten Verkäufer zu tun? Maxine grübelt. Vielleicht liegt es daran, dass wir, wenn wir unseren Freunden einen Gefallen tun, von ihnen normalerweise nicht verlangen, dass sie zuerst ein Ticket öffnen.

      Am nächsten Tag sieht Maxine, dass Randy sein Versprechen gehalten und das Ticket bezüglich des Dev-Environments bestätigt hat. Leider zu spät, als dass noch jemand mit der Umsetzung hätte beginnen können.

      Trotz dieses Durchbruchs wartet Maxine also noch immer auf ihre Entwicklungsumgebung. Enttäuscht wandert sie ziellos von Meeting zu Meeting, weil sie nicht untätig an ihrem Schreibtisch sitzen will.

      Während sie in der Küche Zeit totschlägt und auf eine weitere Tasse Kaffee wartet, summt ihr Telefon. Bildschirm für Bildschirm erscheinen E-Mail-Benachrichtigungen über Änderungen an Ticket #46132: eine Anforderung einer virtuellen Maschine durch die Distributed Systems Group, von Storage durch eine andere Gruppe und einer IP-Adresse durch eine weitere, eines Netzwerk-Mountpoints durch noch eine, und für Anwendungsinstallationen durch drei weitere Gruppen …

      Maxine schreit vor Freude – endlich! Der Weihnachtsmann hat gerade seine magische Elfenarmee mobilisiert, damit endlich ihre so dringend benötigte Dev-Umgebung eingerichtet wird. Endlich kommt die Kavallerie!

      Beschwingt liest sie die ganzen Ticket-Änderungen. Eine ganze Menge Arbeit wird an scheinbar die gesamte Ops-Abteilung verteilt. Maxine ist plötzlich beunruhigt darüber, wie viele Menschen erforderlich sind, um ein Environment einzurichten.

      Sie arbeitet gerade wieder an ihrem Schreibtisch und plant, was sie in ihrer Dev-Umgebung als Erstes tun wird, als ihr Telefon beginnt, ununterbrochen zu vibrieren. Beim Öffnen ihrer E-Mails fällt ihr die Kinnlade runter, als sie die 40 Benachrichtigungen in ihrem Posteingang sieht. Oben auf ihrem Bildschirm erkennt sie eine Flut von neuen Meldungen, die alle ihre Tickets als geschlossen markieren. »Nein, nein, nein«, stöhnt sie und beginnt, die gesamte Ticket-Historie durchzugehen. Sie sieht, dass die Benutzerkonten erstellt und die Einhängepunkte konfiguriert wurden, aber dann findet sie eine Nachricht von einem der Storage-Admins:

      Es tut mir leid, dass ich Ihr Ticket schließen muss. Ob Sie es glauben oder nicht, seit drei Monaten können wir keinen neuen Speicherplatz anbieten. Die nächste Bestellung von weiterem Speicherplatz wird nicht vor Januar erfolgen, und zudem sind alle Controller bereits vollständig ausgelastet. Die Einkaufsabteilung beschränkt uns auf zwei Bestellungen pro Jahr, um bei unseren Lieferanten die besten Mengenrabatte zu erhalten. Sie stehen aber fast an der Spitze der Liste, deshalb können wir die Bereitstellung für Februar einplanen.

      Maxine traut ihren Augen kaum.

      Es ist September.

      Phoenix ist das wichtigste Projekt im gesamten Unternehmen. Dafür wurden in den letzten drei Jahren 20 Millionen Dollar ausgegeben. Und nun sitzt sie hier, versucht zu helfen, und es sind noch nicht einmal 5.000 Dollar für mehr Speicherkapazität da. Und sie soll weitere fünf Monate lang auf ihre Dev-Umgebung warten! Sie vergräbt ihren Kopf in den Händen und schreit still ihren Frust heraus.

      Völlig niedergeschlagen macht sie einen Spaziergang – ohne bestimmtes Ziel. Es ist 14.30 Uhr. Keines der Meetings in ihrem Kalender scheint ihr noch von Interesse zu sein. Da sind überall nur Leute, die sich übers Warten beschweren. Warten auf etwas. Warten auf jemanden. Alle warten einfach nur. Und sie will sich im Moment einfach


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