Drachengabe - Halbdunkel. Torsten W. Burisch

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zweiten Mal geschehen, ohne dass er genau wusste, wie. Und das war natürlich inakzeptabel. Also stellte er sich, nachdem der Wald sich nicht mehr um ihn drehte, erneut vor einen Baum, der ungefähr die gleiche Stammdicke hatte wie der erste. Nur dieses Mal vergrößerte er den Abstand zwischen sich und seinem Ziel, um nicht erneut Opfer seines eigenen Zaubers zu werden. Den Standort hatte er zwar gewechselt, allerdings befand er sich an demselben Punkt, an dem er zuvor schon gewesen war. Trotz seiner Ratlosigkeit angesichts seines nächsten Schritts war ihm klar, dass es ihm nichts bringen würde, sich selbst wütend zu machen. Und auch das Ziel mit seiner Hand anzuvisieren, wäre zwecklos.

      Er suchte sich einen markanten Punkt am Baum. In diesem Fall war es ein Ast, der auf Augenhöhe gewachsen war und den Mittelpunkt des Stammes markierte. Er konzentrierte sich darauf und murmelte: „Brich!“ Nichts geschah. „Verdammt!“, fluchte er. Was war jetzt wieder falsch? Was war anders?

      Nach kurzem Überlegen richtete er seine Konzentration erneut auf das Ziel. Doch dieses Mal machte er sich bewusst, was er wollte, um dann gefühl- und gedankenlos eine Art Druck mit seinen Augen auszuüben. Dieser verstärkte sich sofort. Dantra merkte, dass die Kraft durch seine Pupillen entwich. Doch er spürte auch, dass sie bei Weitem nicht so stark war wie beim ersten Mal. Und auch das Geräusch brechenden Holzes war viel leiser. Enttäuscht musste er feststellen, dass der Baum noch stand. Der Enttäuschung folgte jedoch sogleich Begeisterung. Denn der Ast, den er ursprünglich im Blick gehabt hatte, lag abgebrochen auf dem Waldboden.

      Dantra ließ seine Erinnerung an das, was geschehen war, noch einmal Revue passieren. Dabei fiel ihm auf, dass er dem Ast mehr Bedeutung zugemessen hatte als dem Stamm selbst. Er konnte somit seine Kraft explizit einsetzen, sodass er es schaffte, nicht alles zu zerstören, was in ihrem Wirkungsbereich lag. Er musste sich zwar eingestehen, dass auch etwas von der Rinde des Baumes Schaden genommen hatte, legte das aber unter der Rubrik Feinarbeit ab, an der er später noch arbeiten konnte. Getrieben von dem Mitteilungsbedürfnis über seinen Erfolg, wollte er sich gerade auf den Heimweg machen, als er sich nochmals dem Baum zuwandte und ihn mit einem ohrenbetäubenden Krachen zu Boden fallen ließ.

      Vom kleinen Fehltritt mit der Hexe abgesehen, war es ein sehr erfolgreicher Tag gewesen. Nicht nur, dass er seine Kraft nun beherrschte und sie anwenden konnte, wo und wann er wollte, auch Tami hatte große Fortschritte gemacht. Sie nutzte das Erlernte als Erstes, um Dantra den Namen der Hexe aufzuschreiben. An diesem Abend schlief Dantra mit sich und der Welt zufrieden sowie mit einem Lächeln auf dem Gesicht ein.

      Es war früh am Morgen, als er abermals von einem schrillen Schrei geweckt wurde. Dieses Mal brauchte er jedoch nicht lange, um zu begreifen, dass er nur geträumt hatte. Und auch wenn der Traum genauso grauenvoll war wie sonst, so festigte sein Auftreten in dieser Nacht doch die Vermutung, dass er irgendwie mit der magischen Kraft zusammenhing. Und im Gegensatz zu den anderen beiden Malen konnte Dantra heute sogar noch einmal in einen leichten Schlaf fallen.

      Lange war es her, dass er so viel Euphorie und gute Laune verspürt hatte, dass er gerne sein mollig warmes Bett gegen seine kalten Kleider tauschte. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er sowieso erst einmal dieses Gefühl gehabt, und zwar am Tag der Entlassung aus dem Klosterheim. Und genau wie damals, als er die letzten Stufen der Wendeltreppe hinuntergefallen war, stolperte er nun die Kellertreppe hoch.

      Er fing den Sturz mit seinen Händen ab, ignorierte den aus den rauen Dielen ragenden Holzsplitter, den er sich in die linke Handfläche rammte, und baute sich strahlend und mit stolzgeschwellter Brust vor der Hexe auf. „Guten Morgen, E’Cellbra“, sagte er und schaute sie erwartungsvoll an.

      Sie aber blickte nur kurz zu ihm auf und verzog dabei keine Miene. Dann wandte sie sich an Tami, die am Herd stand und Dantras Auftritt interessiert verfolgt hatte. Mit betont freudiger Stimme sagte die Hexe zu ihr: „Hervorragend, Tami. Du hast fleißig geübt und große Fortschritte gemacht“, wobei sie das Du deutlich hervorhob. „Ich bin sehr stolz auf dich. Wenn doch nur alle so hoch motiviert an ihre Aufgaben gehen würden.“

      Dantra freute sich zwar für seine Schwester, fühlte sich aber beim Lobausteilen übergangen. „Ich beherrsche meine magische Kraft“, berichtete er – und ein etwas angriffslustiger Ton lag in seinen Worten.

      „Ich wäre schon froh, wenn du deine Füße beherrschen würdest, anstatt über sie zu fallen“, erwiderte die Hexe nüchtern. Tami wandte sich wieder ihrem brutzelnden Essen zu. Allerdings nicht, weil sonst etwas anbrennen konnte, sondern um ihr Grinsen über E’Cellbras Bemerkung vor Dantra zu verbergen. „Was ist mit deinem Schwertkampftraining?“, fuhr die Hexe fort. „Hast du überhaupt schon einen einzigen Angriff der Arikos parieren können?“

      Dantras Hochmut wich und ließ ihn geknickt zurück. Er wusste, sie hatte recht. Seine Bemühungen, sich die hohe Kunst des Schwertkampfes anzueignen, verliefen schleppender als von ihm erwartet und gehofft. Das Training dafür hatte er zwar zeitgleich mit der Raupenübung begonnen, doch hatte er in dieser Disziplin wesentlich weniger Erfolg zu verzeichnen. Er konnte sich zwar die unzähligen Schlagtechniken und Abwehrmanöver nur aus einem Buch aneignen, hatte aber dafür zwei sehr gute Trainingspartner von E’Cellbra zur Seite gestellt bekommen, die Arikos. Es waren zwei von ihr selbst gepflanzte Bäume. Sie hatten große Ähnlichkeit mit Birken. Ihre Zweige und Blätter begannen allerdings erst sehr weit oben zu sprießen. Auf Dantras Augenhöhe befand sich jeweils ein besenstiellanger und ebenso starker, blattloser Ast. Das Verblüffende an ihnen war, dass sie ein Eigenleben besaßen, das darauf bedacht war, sich zu wehren und den Baum, aus dem sie wuchsen, zu schützen, wenn man diesem mit einer Axt zu nahe kam. Es reichte auch schon der Stiel einer Axt, um den Schutzmechanismus herauszufordern. Und mit einem solchen trat Dantra gegen sie an. Die beiden Bäume standen so dicht beieinander, dass er wählen konnte, ob er gegen einen oder gleich gegen beide kämpfen wollte, je nachdem, aus welcher Richtung er sie angriff. Zu seinem Bedauern hatte er aber noch nie auch nur den Hauch einer Chance gegen seine Gegner gehabt. Ihm blieb nach einigen Angriffsaktionen immer nur der strategische Vorteil des Rückzuges. Und dabei musste er sich eingestehen, dass die Bäume ihn ohne Weiteres niedermetzeln würden, wenn sie ihm folgen könnten.

      „Mir fehlt eben die Begabung für diese Art von Kampf“, verteidigte sich Dantra trotzig. „Aber wenn ich meine magische Kraft einsetze, dann sind die beiden besseren Schattenspender ohnehin chancenlos.“

      Die Hexe machte einen bedrohlich großen Schritt auf Dantra zu und zischte ihn durch ihren kaum geöffneten Mund an: „Sollte ich je erleben, dass du den beiden mit etwas anderem als deinem Axtstiel zu Leibe rückst, wird weder deine noch irgendeine andere magische Kraft dir helfen können.“ In dem darauffolgenden kurzen Moment des Schweigens konnte Dantra den Wahrheitsgehalt ihrer Worte ganz deutlich an ihrem alten, aber furchtlosen Gesicht ablesen. „Und nun geh“, fuhr E’Cellbra in dem bestimmten Ton fort, den sie immer anschlug, wenn sie von ihm genervt war.

      „Aber ich hab noch gar nicht gefrühstückt“, entgegnete er vorsichtig.

      „Wenn du doch so viel magische Kraft in dir hast, kann sie dich ja vielleicht satt machen. Und nun geh!“ Die letzten drei Worte sagte sie mit einem Nachdruck, dass Dantra kein Raum für Diskussionen blieb. Er drehte sich um und verließ mit knurrendem Magen die Hütte.

      Das erste Drittel vom Imberviertel war nun schon fast vorüber und die Blätter an den Bäumen kündigten den Wechsel der Jahreszeit an. Dantra hatte in der vergangenen Zeit immer härter an sich gearbeitet und die Ansprüche an sich selbst stetig hinaufgeschraubt. Nicht nur sein Schwertkampf war ansehnlicher und effektiver geworden, mit seiner Magie konnte er bereits umgehen, als wäre sie ein dritter Arm.

      Es war bereits später Nachmittag, als er nach einem erfolgreichen Magietraining auf dem Heimweg war. Er hatte an dem Platz geübt, an dem er zum ersten Mal seine Kraft wirksam eingesetzt hatte. Von seinem Können überzeugt und von der Neugierde befallen, ob er einen ausgeprägten Orientierungssinn hatte, wich er von dem von der Hexe vorgeschriebenen Heimweg ab und ging quer durch den Wald in die Richtung, in der er die Hütte vermutete.

      Der Kampen bestand zum größten Teil aus hohen Buchen, dicken Eichen und gelegentlich wurde er von einem Nadelwaldabschnitt durchzogen. Eher selten fand man Birkenansammlungen. Durch eine dieser wenigen Ansammlungen


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