Drachengabe - Halbdunkel. Torsten W. Burisch

Drachengabe - Halbdunkel - Torsten W. Burisch


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vor die Tür ging. Er hatte große Fortschritte gemacht und wollte diese auch heute weiter ausbauen. Die Hexe jedoch nahm ihm das Glas aus der Hand.

      „Es ist an der Zeit, einen Schritt weiterzugehen“, sagte sie. Sie tauschte das Raupenglas gegen ihren Gehstock ein und signalisierte ihm mit einer unmissverständlichen Kopfbewegung, ihr zu folgen. Dantra sparte sich die Frage nach dem Wohin und was der nächste Schritt sei. Die Antwort wäre ohnehin nur auf ein tadelndes Schweigen hinausgelaufen. Und so ging er stumm hinter ihr her, wobei ihm selbstzufrieden auffiel, dass es ihm bei Weitem nicht mehr so viel Mühe bereitete, mit seiner Lehrmeisterin Schritt zu halten.

      Ihr Marsch endete in einem Waldstück, in dem die Bäume nicht ganz so dicht beieinanderstanden. Die Hexe zog einen alten Stofflumpen, dessen ursprüngliches Rot kaum noch zu erkennen war, aus ihrer Rocktasche. Sie band ihn um eine junge Fichte, deren Stamm nicht dicker war als der Oberschenkel eines Mannes. Dann platzierte sie Dantra drei Schritte davon entfernt. „Der Lappen hilft dir, dich auf den Baum zu konzentrieren“, erklärte sie ihm. „Du musst versuchen, die magische Kraft in dir auf ihn zu werfen. Ich denke, es wäre gut, wenn du mit deiner Handfläche in seine Richtung zeigst. Vielleicht erhöht das die Chance, deine Energie gebündelter auf das Ziel treffen zu lassen.“ Sie ging einige Schritte zurück und stand nun hinter ihm, um den erhofften Erfolg zu beobachten.

      Dantra sammelte seine Gedanken. Er versuchte, in seinem Kopf die Kraft anzusprechen. „Los, komm raus. Komm schon.“ Er drückte bei jedem seiner Versuche die Luft aus seinem Körper und schob dabei seine Hand ein Stück nach vorn, als wollte er etwas von sich wegdrücken. Doch nichts passierte.

      „Was machst du denn da?“, hörte er die ungeduldige Stimme der Hexe von hinten. „Verscheuchst du Fliegen? Du sollst nicht pressen wie deine Mutter bei deiner Geburt. Du musst dich auf den Baum konzentrieren und dir bewusst sein, was du vorhast. Wenn das wirklich Magie in dir ist, dann hört sie nicht auf deinen Verstand, sondern weiß, wann sie gefordert ist. Also mach schon, konzentriere dich.“

      Dantra bemühte sich erneut. Dieses Mal schloss er die Augen. Natürlich war ihm bewusst, was passieren sollte, doch hatte er keine Ahnung, wo er dieses Wissen hinzuschicken hatte. Er versuchte es, indem er sich sein Ziel tief ins Bewusstsein holte. Doch sosehr er sich auch bemühte, es passierte überhaupt nichts. Die Hexe wurde zunehmend schroffer. „Konzentriere dich, konzentriere dich“, ermahnte sie ihn wiederholt. „Was ist los? Nun mach schon!“

      Dantra wurde immer nervöser. Vor ihm passierte gar nichts und hinter ihm rissen die nervigen Ermahnungen der Hexe nicht ab. Es fing an, in ihm zu brodeln. „Ja, ja, ich versuche es ja“, dachte er. Dabei spürte er, wie etwas in ihm aufstieg. Für einen Moment glaubte er, es sei das mal wieder viel zu üppig ausgefallene Frühstück. Dann merkte er jedoch, dass sich das Emporkriechende nicht über seinen Mund entlud. Allerdings auch nicht nach vorne über seinen immer noch ausgestreckten Arm. Als er seine bis dahin fest geschlossenen Augen wieder öffnete, stand die Fichte unverändert in ihrer ganzen Pracht da und der Lappen wehte leicht im auffrischenden Imberwind. Noch in Gedanken an das, was eben geschehen war, hörte er hinter sich wieder die Stimme der Hexe. Doch klang sie nun nicht mehr so laut wie einige Augenblicke zuvor. Was aber nicht daran lag, dass sie leiser sprach. Es war eher so, als befände sie sich weiter weg. Ihren nun noch gereizteren Tonfall konnte Dantra dennoch deutlich vernehmen.

      „Wenn du das noch einmal mit mir machst, rühr ich dir ein Gift unter dein Essen, das dir das Gefühl vermittelt, du würdest kopfüber in einem Armeisenhaufen stecken und ein Schwarm Elstern zerhackt dir währenddessen deinen hoch in die Luft gestreckten Hintern.“

      Dantra wandte sich um und sah seine Lehrmeisterin zusammengesackt vor dem Stamm einer dicken Tanne sitzen, einige Schritte von dort entfernt, wo sie gerade noch gestanden hatte. In ihrem Gesicht spiegelten sich der Schmerz und die Wut wider, die ihre Stimme bereits angekündigt hatte. Dantra wusste zwar nicht, wie das hatte passieren können, doch eins war sicher: So zornig hatte er die Hexe bisher noch nicht gesehen. Sie rappelte sich so langsam auf die Beine, dass er schon bei ihr war, bevor sie richtig stand. Er wollte ihr helfen, doch sie schlug nach seinen Händen.

      „Finger weg. So alt, dass mir ein Tölpel, wie du es bist, hochhelfen muss, bin ich noch lange nicht.“ Sie hob ihren Gehstock auf, der ein Stück entfernt liegen geblieben war, und ging in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Dantra folgte ihr wortlos. Sie waren gerade drei Schritte gegangen, als sie sich zu ihm umdrehte und ihn mit zu Schlitzen verengten Augen böse anfunkelte. „Wo willst du hin?“ Er sah sie fragend an. „Du bleibst gefälligst hier und übst weiter. Oder glaubst du, dass du es nach der Vorstellung gerade nicht mehr nötig hast?“ Sie wandte sich wieder von ihm ab und setzte ihren Weg, wütend vor sich hin schimpfend, fort. Nachdem sie schon fast hinter einem übergroßen Brombeerstrauch verschwunden war, rief sie ihm noch mahnend zu: „Und verlass auf dem Heimweg nicht diesen Pfad.“ Dann verstummte sie und auch das Rascheln ihrer Schritte im Laub wurde leiser und hinterließ schließlich eine unbehagliche Stille.

      Dantra fiel auf, dass er ohne die Hexe noch nie so tief im Kampen gewesen war. Dennoch oder gerade deswegen hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Der Gedanke jedoch, dass er gerade seine Kraft benutzt hatte, ohne danach ohnmächtig zu werden, zerstreute sein Unbehagen angesichts des Alleinseins und der vermeintlichen Schutzlosigkeit. Auch wenn er mit seiner magischen Kraft das anvisierte Ziel nicht getroffen hatte, so war es ihm dennoch möglich gewesen, sie irgendwie aus sich herauszuholen und punktgenau einzusetzen.

      Er stellte sich wieder dem Baum gegenüber auf und konzentrierte sich erneut. Er versuchte nun mehrere Varianten. Als Erstes stellte er sich vor, der Baum würde ihn beleidigen und beschimpfen. Aber es tat sich nichts. Die bloße Vorstellung ließ in ihm keinerlei Wut aufkommen. Dann ging er in Gedanken den kompletten Angriff auf den Baum, bis er gebrochen auf dem Boden lag, immer wieder durch. Doch auch das brachte nicht den erwünschten Erfolg. Es deprimierte ihn sehr, es schon einmal geschafft zu haben ohne die geringste Ahnung, wie.

      Der Verzweiflung bereits nahe hatte er noch eine letzte Idee. Er sah den Baum an, schloss erneut für einen Moment die Augen und stellte sich das Gesicht von Schwester Arundel vor. Dann öffnete er sie wieder, betrachtete den Baum erneut, um sich beim nächsten Schließen der Augen das Gesicht seines Erzfeindes Biff ins Gedächtnis zu rufen. Wieder beäugte er den Baum und stellte sich sofort danach die Zerrocks vor, wie sie den Leichnam seines Vaters schändeten. Er merkte, dass er bei diesen Bildern in seinem Kopf wütender wurde, und so wiederholte er die Prozedur wieder und wieder. Doch es geschah rein gar nichts. Nach einigen weiteren vergeblichen Versuchen hörte er resigniert auf. Er senkte den Kopf und ließ nun auch seinen rechten Arm, mit dem er die ganze Zeit auf seinen vermeintlichen Feind gezeigt hatte, lang am Körper hinunterbaumeln.

      Er hatte schon oft gehört, dass er ein Versager wäre. Doch heute würde er es sogar glauben. Maßlos von sich enttäuscht, sah er auf das dreckige rote Tuch, jedoch ohne Zorn oder Hass zu empfinden. Eher mit einem gleichgültigen Gefühl sagte er so leise, dass ein neben ihm Stehender es kaum gehört hätte: „Brich.“ Ein ohrenbetäubendes Krachen spaltete die Stille wie eine Axt ein Holzscheit.

      Dantra benötigte einen Moment, um zu realisieren, was gerade geschehen war. Er fühlte sich, als wäre die ganze magische Kraft, die für solch einen Zauber nötig wäre, aus seinen Augen geschossen und hätte dabei seine Pupillen mit rausgerissen.

      Noch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, peitschte ihn etwas zu Boden. Er war zwar leicht benommen, jedoch ließ ihn die Panik, nicht zu wissen, wer sein Angreifer war und wo dieser sich gerade befand, blitzschnell aufspringen. Vor ihm drehte sich der Wald und er hatte Mühe, nicht wieder hinzufallen. Er schaute in alle Richtungen, doch nichts war zu sehen. Er war immer noch allein. Dann fiel sein Blick auf das, was vor ihm lag. Wenn sein Kopf nicht so geschmerzt hätte, hätte er sich wohl über seine eigene Angst amüsiert. Die Krone des Baumes, den er gerade mithilfe seiner Kraft gefällt hatte, war es, die ihn zu Boden gerissen hatte.

      „Ist doch klar“, dachte er, „die Druckwelle ließ nicht nur das Holz zerbersten, sondern hat auch den abgerissenen Stamm nach hinten gedrückt. Und dann fällt die Spitze des Baumes natürlich nach vorn.“

      Er gönnte sich eine kleine Verschnaufpause, um wieder


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