Die Häuser an der Dzamija. Robert Michel
Situationen, Perspektiven und Reaktionen gebunden und stehen nicht für sich allein. Sie sind durchaus mit den Natur- und Landschaftsschilderungen von Adalbert Stifter zu vergleichen. Es ließen sich aber auch zu anderen Schriftstellern und Dichtern der deutschen und österreichischen Literatur Parallelen aufstellen.
Die Jahre 1900 bis 1907 verbrachte Michel in Innsbruck. Hier heiratete er 1903 Eleonore Sniźek, welche ihm drei Kinder schenkte: Leopold, Adalbert und Agathe. In dieser Zeit entwickelte sich auch eine intensive Freundschaft mit Ludwig von Ficker, die aus der Zusammenarbeit bei der Tiroler Zeitschrift „Brenner“ hervorging. Ihre Briefwechsel reichen bis ins Jahr 1955. Ab 1914 erkennt man allerdings eine gewisse Abkühlung des freundschaftlichen Verhältnisses, welche von ihren unterschiedlichen Einstellungen zum Weltkrieg geprägt wurde.
1909 erschien Michels erster Roman, „Der steinerne Mann“, mit einem sehr autobiographischen Kontext und 1911 der Sammelband „Geschichten von Insekten“.
Am 10. 12. 1913 präsentierte Michel das erste Mal öffentlich bei einer „Brenner“-Vorlesung einen Teil aus seinem noch unveröffentlichten Roman „Die Häuser an der Džamija“. Die Lesung verhalf Michel zum Prestige einer breiteren Tiroler Öffentlichkeit.
Von sämtlichen Werken Robert Michels wurden der Novellenband „Die Verhüllte“ (1907), der Roman „Die Häuser an der Džamija“ (1915), die „Briefe eines Hauptmanns an seinen Sohn“ (1916) und die „Briefe eines Landsturmleutnants an Frauen“ (1917) mehrmals aufgelegt. Dies war zur damaligen Zeit überraschend, da die Konkurrenz am literarischen Markt sehr groß war.
Zu Propagandazwecken wurde 1914 in der österreichisch-ungarischen Armee als Sondereinrichtung des Armeeoberkommandos ein „Kriegspressequartier“ (KPQ) gegründet, das die Aufgabe hatte, der Presse Berichte über das Kriegsgeschehen in Wort und Bild zu liefern. Zur so genannten „literarischen Gruppe“ des Kriegsarchivs zählten neben Robert Michel unter anderem Hans Rudolf Bartsch, Karl Ginzkey, Stefan Zweig, Alfred Polgar, Leopold Schönthal, Felix Salten, Paul Wengraf und für kurze Zeit auch Rainer Maria Rilke.
Die vielfältige Produktion Michels während des Ersten Weltkriegs reicht von der Erzählung bis zum Brief, vom Kriegsbericht bis zur Regimentsgeschichte. Neben dieser „Kriegsliteratur“ schrieb Michel aber auch Werke, die ihm große schriftstellerische Ehren einbrachten. Der Roman „Die Häuser an der Džamija“, der in Südslawien spielt, wurde eines der bekanntesten Werke des Autors und brachte ihm den begehrten „Kleistpreis“ ein. Eine äußerst positive Reaktion von Oskar Loerke in der „Neuen Rundschau“ von 1915 hebt die Ursprünglichkeit und Echtheit der Charaktere im Roman hervor. „Die Häuser an der Džamija“ gilt als Höhepunkt seiner atmosphärischen Poetik. Seine Schilderung der Bräuche dieses neu gewonnenen österreichischen Volkes, dessen als arm und rückständig empfundenes, aber geliebtes Land wird von Michel zur neuen Heimat der Sehnsucht auserkoren. Robert Michel bezeichnet einen Brief von Hugo von Hofmannsthal zum Erstentwurf des Romans als seinen „Ritterschlag“ – einen wichtigen Wendepunkt in seinem Leben:
Mein lieber Robert,
Deine hercegovinische Dorfgeschichte habe ich mit einem wahrhaft seltenen Vergnügen gelesen. Ich glaube wohl, sie ist dein Meisterstück. Wie schön die sinnliche Anschaulichkeit, mit der alles Geschehen sich zu kleinen Katastrophen der äußeren Welt verdichtet: der Unfall Božkos, […], die Schlangenabenteuer, […], die Entführung.
Wie ist das Geschehen zugleich ungewöhnlich und gewöhnlich, fremd und zugleich heimlich und Zutrauen erweckend, und wie schön ist das Naturhafte dieser Menschenwelt, die Reinheit, die nur reine Spiegel eines dichterischen Gemütes so rein zurückstrahlen konnte. Hier zum ersten Mal fühle ich in [Dir] (und nun auf immer) nicht nur den dichterisch begabten Menschen, sondern den Dichter.
Meine Freude war groß und wird nachhaltig sein, mein guter Robert, denn was ist woltuender als ein reines Wollen und Gelingen bei einem Mitlebenden, Befreundeten, dem man in die Augen sehen kann! […]
(Hugo von Hofmannsthal an Robert Michel, 1913)
Michel war in erster Linie Epiker und nicht Dramatiker. Dennoch wurden einige seiner epischen Arbeiten als dramatische Fassungen aufgeführt – so auch „Die Häuser an der Džamija“ unter dem Titel „Muharrem der Christ“.
Am 27. August 1918 setzte Leopold von Adrian, Generalintendant der Hoftheater, ein Dreierkollegium zur Führung der Geschäfte am Burg- und Akademietheater in Wien ein: Hermann Bahr, Max Devrient und Robert Michel, der als „Vertreter für die Generalintendanz“ tätig war. Dieses Kollegium bestand jedoch nur bis 2. November 1918 – also ungefähr zwei Monate. Als im Herbst 1918 die Monarchie aufgelöst wurde und eine „Deutsch-Österreichische Provisorische Nationalversammlung“ die Regierungsgeschäfte übernahm, wurden auch die Hoftheater aufgelöst. Nach dieser Tätigkeit gab Michel seinen Offiziersberuf auf und arbeitete von nun an als freier Schriftsteller mit großen finanziellen Sorgen.
Daß nach 1918 die südslawische Thematik immer seltener Inhalt seiner Werke ist, hat seine Ursache darin, daß diese Gebiete Österreich verlorengingen und somit der aktuelle Bezug fehlte. Nach dem Ersten Weltkrieg versuchte sich Michel mehr beim Film. Michels Ruf als Prosaist war jedoch nicht verklungen, was zahlreiche Literaturpreise belegen. Die letzten Romane und ihre Thematik dienen als Beweis für Michels nostalgisches Festhalten an der Welt der k.u.k.-Monarchie: „Jesus im Böhmerwald“ (1927), „Die Augen des Waldes“ (1946) und „Die allerhöchste Frau“ (1947).
1933 übernahm Michel einen Feuilletonvertrieb – R.O.M.I. (= Robert Michel) – und vermittelte erzählende Prosa österreichischer Schriftsteller an Tageszeitungen und Zeitschriften, wie zum Beispiel Josef Friedrich Perkonig, Max Kammerlander, Cäcilie Tannings, Paul Anton Keller und Hermann Hesse. 1946, als seine rechte Hand Cäcilie Tandler starb, gab Michel den Vertrieb auf. Einige Wochen, nachdem das Bundesministerium für Unterricht Robert Michel den Titel „Professor“ verliehen und ihn die Stadt Wien mit einer Ehrenmedaille geehrt hatte, erlitt der Schriftsteller 1951 einen Schlaganfall. Robert Michel starb am 12. Februar 1957 in Wien.
Hans Heinz Hahnl zählt Robert Michel zu den „Verschollenen“ der österreichischen Literatur. Selbst das Verdienst, die bosnisch-herzegowinische Landschaft und ihre pittoresken muslimischen Bräuche für die österreichische Literatur entdeckt zu haben, wurde über den engeren Kreis der Gönner und wenigen Leser hinaus substanziell nie wahrgenommen. Ziel dieser Neuauflage des Romans „Die Häuser an der Džamija“ soll es sein, dem Vergessen ein wenig entgegenzuarbeiten – die Konturen dieser am Rande der österreichischen Literaturgeschichtsschreibung gebliebenen Figur wieder zum Leben zu erwecken.
Mag. Sabine Wimmer
Erstes Kapitel
„Mu-har-rem!“ – Die Silben klangen hoch und schmetternd wie aus dem metallenen Schlund einer Trompete. Mit dieser Stimme hätte man eine ganze Heerschar befehligen können; so heldenhaft sicher war ihr weitschallender Klang. Der Steinmetz Nurija Sekirija, der gerufen hatte, hielt zu einer Pause inne. Als dürfe er diese Augenblicke nicht ungenützt verstreichen lassen, schnellte er mit den Fingerspitzen von der roten Gürtelschärpe und von den dunklen Pluderhosen die Steinsplitter ab, die bei der Arbeit dort haften geblieben waren. Auch stampfte er mit jedem Fuß einmal auf den harten Boden, daß der steinige Staub von den Opanken fiel. Dann richtete er seinen Körper hoch auf, schob mit den Handflächen die langen grauen Schnurrbartspitzen seitwärts, und durch den Schalltrichter der hohlen Hände klang es noch einmal mit gleicher Kraft: „Mu-har-rem!“ Dieses unsichtbare Lebendige, das Nurijas Brust und Kehle und Mund ausgestoßen hatten, lief beschwingt über die flachen Steindächer des unteren Dorfes und über die ganze stille steinige Landschaft hin, ohne sich an den spitz aufragenden Steinblöcken zu zerreißen. Es lief auch bergwärts und nach allen anderen Seiten des Hanges; es sprang aber nicht über die verschluchteten Einrisse hinweg, sondern schmiegte sich in klingenden Wellen in jede einzelne Falte, bis er endlich von dem eiligen Tun entkräftet rings in der Ferne ins Nichts verzitterte.
Muharrem hatte sich mit der Schafherde zur Mittagsruhe in eine felsige Schlucht zurückgezogen.