Die Häuser an der Dzamija. Robert Michel
den Steinen. Muharrem lag auf dem Rücken und schlief; er hatte den einen Arm auf das Gesicht gelegt und schützte sich so vor dem grellen Licht und den brennenden Strahlen. Die Schafe hatten sich zur Ruhe nicht niedergelegt, weil es ihnen auf dem Boden zu heiß war; sie standen schlafend aufrecht, und jedes hielt den Kopf tief in den Schatten unter den Bauch eines benachbarten Schafes. Nur ein Mutterschaf, das am selben Morgen ein Junges zur Welt gebracht hatte, war auf dem Boden hingestreckt.
Als Nurijas Ruf das erstemal bis hierher klang, hob ein Widder seinen Kopf aus dem Schatten empor und blinzelte in die Sonne; dabei schlug der Klöppel seiner Glocke einmal an die metallene Wand. Muharrem zog den Arm von seinem Gesicht und mußte ihn gleich wieder vorhalten, so grell war das Licht für die Augen. Als sein Name zum zweitenmal erklang, wurde sich Muharrem dessen bewußt, daß ihn sein Herr rief. Er streckte seine jungen Glieder weit von sich, daß es in den Gelenken knackte, dann zog er die Füße ein wenig näher, stemmte sich gegen die Sohlen und wölbte den Körper mit durchgebogenem Rücken wohlig empor wie einen Brückenbogen. Schließlich aber sprang er so heftig auf, daß sich die Köpfe der Schafe erschreckt empor richteten. Muharrem beschwichtigte die Tiere mit einigen trauten Zurufen, so daß ein Kopf nach dem anderen wieder den Schatten aufsuchte. Dann trat er seitwärts, wo seine Jacke lag. Erst zog er eine Kürbisflasche unter ihr hervor und tat einen langen Schluck. Hieraufhängte er sich die Flasche um, und nun wickelte er aus der Jacke vorsichtig ein junges Lamm. Die Jacke warf er über die Schulter und das Junge nahm er in einen Arm, und so ging er. Die Schafe waren mittlerweile wieder eingeschlafen; nur der Widder mit der Glocke und das liegende Mutterschaf schauten dem Hirten mit schläfrig zwinkernden Augen so lange nach, bis er plötzlich ihren Blicken entschwand, als hätte ihn die mittagheiße Erde eingesogen wie einen Tropfen Wassers.
Muharrem galt als Mohammedaner, obwohl er von christlichen Eltern abstammte und die heilige Taufe empfangen hatte. Durch Aberglauben bestimmt, hatten ihn die Eltern von klein auf mit dem mohammedanischen Namen Muharrem gerufen. Als kleiner Waisenknabe wurde er dann von Nurija Sekirija als Hirte in Dienst genommen und dem Namen gemäß für ein mohammedanisches Kind gehalten. Damals ließ es Muharrem in kindlicher Sorglosigkeit geschehen, daß ihn sein Dienstherr als einen Glaubensbruder aufnahm. Später paßte sich Muharrem in Sitte und Brauch seiner Umgebung an und hielt es weiterhin geheim, daß er einer anderen Religion angehörte.
Muharrem stieg quer über den steinigen Hang dem Dorfe zu. Er kam nur langsam vorwärts, weil der Weg durch das Gewirre der großen und kleinen Steine, zwischen denen hin und wieder dorniges Buschwerk wuchs, sehr beschwerlich war. Er konnte sich den Weg nicht wie sonst erleichtern, indem er immer von einem hohen Stein auf den andern sprang; denn diesmal trug er doch ein junges Lamm, das er nicht gefährden durfte. Mit der freien Hand stützte er sich manchmal hangwärts gegen einen Stein, um den Füßen die Arbeit zu erleichtern, oder er bog mit ihr das hinderliche Gestrüpp beiseite. Schon sah er die Dächer des unteren Dorfes, die nur durch das Grün der kleinen Gärten aus dem allgemeinen Grau des Karsthanges kenntlich wurden; denn auch sie waren grau, da ihre großen, schweren Steinplatten aus dem Gestein des Hanges gewonnen waren. Vom oberen Dorfteil, auf der hohen vorspringenden Terrasse, die von starken Felsensäulen gestützt war, sah Muharrem nur die graue Spitze des steinernen Minaretts und die Wipfel der schlanken Pappeln, die neben der Džamija in das Himmelsblau ragten. Noch der Sprung über einen Steinriegel, dann stand Muharrem auf dem schmalen, steilen Weg, der vom unteren Dorf zu den Häusern an der Moschee führte. Nach dem beschwerlichen Übersetzen des Steinhanges wurde auf diesem Wege Muharrems Gang leicht und elastisch, als schritte er auf einem ebenen, geglätteten Weg. Er begann trotz der drückenden Hitze ein Lied zu singen; indessen dämpfte er den Gesang allmählich, so daß er nur noch als ein tönendes Summen ihm allein vernehmlich war.
Bald war Muharrem bei dem ersten Haus des oberen Dorfteiles angelangt. Da wohnte der wohlhabende Moslem Jašarbegović mit seiner Tochter Aiša, die Muharrem, seit sie erwachen war, nie zu sehen bekommen hatte. Das Nachbarhaus war das einzige christliche unter den Häusern an der Džamija. Es gehörte dem Bauer Mitar Boro; aber die Felder, die er bebaute, gehörten ihm nicht, die zählten zum Eigentum des Jašarbegović, und Mitar Boro war sein Kmet. Das nächste Haus war von der Familie Škeho bewohnt. Hier versäumte Muharrem im Vorübergehen nie, zu den Erkern des Fensters hinauf zu schauen. Denn wenn sich auch das Holzgitter vor seinen Blicken verschloß, so war er doch sicher, dahinter werde sich die rothaarige Zahida so nahe zeigen, daß er zwischen den Gitterstäben hindurch das Schimmern des Haares und der weißen Wangen und das Leuchten der dunklen Augen erkennen würde. Auch heute hatte sie das Gitterfenster lärmend zugeschlagen, drückte aber nun das Gesicht dicht an das Holz des Gitters. Muharrem verlangsamte den Schritt und sagte mit leiser, spottender Stimme: „Heute muß man die Blumen in den Schatten stellen.“ Und Zahida zahlte ihm den Spott zurück: „Aber die Disteln können in der Sonne bleiben.“ Er wäre wohl auch ein Weilchen stehen geblieben, aber vom Hofe her hörte er die Stimme Hassans, des jüngeren Bruders der Zahida; so ging er lieber weiter. Nach einigen Schritten klopfte er an das Tor seines Herrn, des Steinmetz Nurija Sekirija.
Szene aus Bosnien zur Zeit der österreichisch-ungarischen Herrschaft
Nachdem Nurija Sekirija den Muharrem ein zweites Mal gerufen hatte, ging er zum Haus zurück. Vor seiner Werkstatt im Schatten einer Weinrebe hockte er sich wieder zu dem Grabstein, an dem er schon früher gemeißelt hatte. Mit kraftvollen Schlägen hieb er mit dem Hammer auf den Meißel, dessen Schärfe aus einer Längsseite des Grabsteines Splitter um Splitter herausbrach; die ausgeschonten Stellen zeigten die verschnörkelten Züge einer türkischen Inschrift. Es lagen auch noch andere größere und kleinere halbfertige Grabsteine umher und einige lehnten seitlich an dem Steinriegel, jenseits dessen sich der Vorhof der Moschee breitete.
Aus diesem Hof der Džamija herüber hörte Nurija zwischen seinen Hammerschlägen das leise Plätschern des Bachwassers, das durch eine steingefaßte Rinne dorthin geleitet war. Er hörte aber nicht, daß sich über den Vorhof der Hodža Adem Jazvin näherte; denn Adem hatte weiche Saffianschuhe, und seine Schritte waren nicht so laut, daß sie das Plätschern des Wassers übertönt hätten.
Adem Jazvin war ein alter Mann mit weißem Bart und Haar, aber seine blauen Augen waren wie aus einem Kindesantlitz. Er war aus seinem Hause jenseits der Moschee gekommen. Der Hodža lebte da ohne Weib und Kind, denn der Vakuf, aus dem diese Dorfdžamija erhalten wurde, war sehr gering, so daß sein Ertrag kaum einen Menschen allein ernähren konnte. So kam es auch, daß Adem alle Dienste der Moschee in eigener Person versehen mußte; er hatte niemanden, der ihm die Gläubigen zu den Andachten herbeirief, er war Hodža und Muezzin zugleich. Man sah aber Adem Jazvin die Armut nicht an; sein grüner, ausgebleichter Kaftan war zwar geflickt, aber er war rein, und sein Aussehen war der geistlichen Würde nicht abträglich; und die weiße Turbanbinde um seinen Fes war wie frisch gefallener Schnee. Bei aller Armut war Adem so reich, daß er noch viel an andere abgeben konnte, wenn auch nicht in klingender Münze. Sein Rat war im Dorfe von jedermann gesucht und geschätzt. Für seine Bedürfnisse genügte ihm ein kleiner Raum zum Wohnen; alle übrigen Räumlichkeiten des Hodžahauses hatte er als Schule eingerichtet, und er selbst war der Lehrer. Die Kinder des Dorfes hätten bis nach Mostar zur Schule gehen müssen; der Weg dorthin war aber beschwerlich und für einen Erwachsenen in nicht viel weniger als drei Stunden zu bewältigen; so wäre ohne das verdienstliche Wirken des Hodžas den Kindern des Bergdorfes die Kenntnis des Schreibens und Rechnens zeitlebens schwerer erreichbar geblieben als etwa die Bekanntschaft mit dem Grabe des Propheten.
Adem Jazvin lehnte sich vorsichtig auf den Steinriegel und schaute der Arbeit Nurijas zu. Endlich sagte er: „Gott grüß dich, Nurija!“
Nurija hielt in der Arbeit inne und blickte auf Adem. Dabei sänftigte sich der Ausdruck seines Gesichtes, dessen Furchen und Falten während der Arbeit so tief und starr waren, als hätte sie selbst der Meißel eines Bildhauers eingegraben; und er erwiderte den Gruß: „Gott grüß dich, Adem, ich habe dich gar nicht bemerkt. Wie geht es dir?“ Er sprach dies mit einer tiefen, weichen Stimme, von der man nicht vermutet hätte, daß sie sich zu hohem und schmetterndem Rufe wandeln könne.
Adem vergaß auf die höfliche Frage zu antworten; er blickte vor sich hin und hatte die verlegene Miene