Tod des Verlegers. Christina Wermescher
entweder war ich mit den Jahren abgestumpft, oder die Attraktionen hatten an Qualität verloren, denn seit einiger Zeit jagte mir hier nichts mehr einen Schrecken ein. Die Freakshows und Kuriositätenkabinette, selbst die berühmt-berüchtigten Vorführungen der Hexer zauberten mir höchstens ein Gähnen aufs Gesicht. Dass ich in diesem Herbst den Jahrmarkt überhaupt wieder besuchte, war wohl eher der Nostalgie als wirklichem Interesse geschuldet.
Ich trank einen Schluck meines Blutorangensafts und tauchte in das Gewimmel ein. Zwischen den ganzen Goth-Queens und Vampirverschnitten in Designer-Anzügen, die von Zelt zu Zelt pilgerten, um gestellte Selfies vor den Attraktionen zu schießen, kam ich mir in meinen ausgeblichenen Jeans komplett verloren vor. Wann war eigentlich der Jahrmarkt zu einem Laufsteg für die neueste Mode geworden? Noch vor der Dämmerung hatte ich das Ende des Geländes erreicht. Lediglich der Kauf eines wunderschönen Klappmessers tröstete mich über die neuerlichen Enttäuschungen hinweg. Ich hatte mich sofort in die filigranen Silberverzierungen am Griff des Messers verliebt und spürte dessen Gewicht bei jedem Schritt schwer in meiner linken Hosentasche. Obwohl der Verkäufer mir deutlich mit dem Preis entgegengekommen war, hatte es mich immer noch fast ein halbes Monatsgehalt gekostet. Aber das war es mir wert, so konnte ich doch noch eine positive Erinnerung aus diesem Jahr mitnehmen.
Gerade, als ich mich dem Ausgang zuwenden wollte, fiel mir ein schmuckloses, großes Zelt auf, das sich an die Mauer, die den Jahrmarkt umgab, quetschte, und das ich bisher noch nie bemerkt hatte. Interessiert ging ich darauf zu. Als ich nur noch wenige Schritte vom Eingang entfernt war, konnte ich ein unscheinbares Schild mit der Aufschrift Spiegelkabinett – Verlieren Sie sich in unendlichen Welten ausmachen. Ich grinste ob des Slogans – er war deutlich geistreicher als der schlechte Wortwitz Nicht nur für Geisterfahrer!, mit dem die Geisterbahn um Kunden warb. Daher wunderte es mich umso mehr, dass sich hier kein anderer Besucher herumtrieb.
Eine erste Erklärung dafür bot sich mir bereits, als ich das Kassenhäuschen im Eingangsbereich des Zeltes erreichte. Hinter der Theke schlief laut schnarchend ein untersetzter Mann. Speichelfäden rannen aus seinen Mundwinkeln, und wenn ich mir die Flecken auf seiner Jacke so ansah, schien ihn schon längere Zeit niemand mehr geweckt zu haben. Kurz geriet mein Entschluss, das Spiegelkabinett zu besuchen, ins Wanken. Aber mir war klar: Bis zum nächsten Jahr würde ich mich täglich fragen, ob ich nicht doch etwas verpasst hätte.
Entschlossen räusperte ich mich. Nichts geschah. Ratlos sah ich mich um, entdeckte eine Glocke neben dem Eingang und läutete sie. Ein ohrenbetäubendes Dröhnen hallte durch die Luft und ließ meine Ohren klingeln. Während mein Gehör sich nur langsam wieder normalisierte, räkelte sich der Mann hinter der Kasse und schaute sich verwirrt um. Schließlich fiel sein Blick auf mich. Unverschämt lange musterten seine kalten Augen meinen Körper. Nicht, dass ich dies nicht gewohnt wäre, ab und an genoss ich sogar die bewundernden Blicke, aber diese Situation war … anders. Sein Blick war kalt, berechnend, ohne jegliches Interesse. Mit jedem Augenblick, der verstrich, fühlte ich mich unwohler.
Bereits seit einigen Sekunden verweilten die Augen des Mannes auf meiner Hüfte. Durch den Stoff der Jeans spüre ich das kalte Silber des Messergriffs auf meiner Haut.
»Was hast du da in der Tasche?«
Ich erschrak. Woher wusste er …? Ich war mir sicher, dass sich die Konturen des Messers nicht durch die Tasche abzeichneten.
»Das geht Sie gar nichts an!«, antwortete ich, trotz meines Unbehagens mit fester Stimme. Obwohl er so klein war, jagte mir der Mann Angst ein, was objektiv betrachtet lächerlich schien – schließlich hatte ich ein Messer. Verstohlen tastete ich mit meinen Fingern in der Tasche nach dem Schaft und … griff ins Leere.
»So eine Waffe ist doch nichts für junge Frauen.« Mit einem lauten Plopp sprang die eingeklappte Klinge aus dem Schaft.
Meine Nackenhaare stellten sich auf.
Ohne sich von der Stelle bewegt zu haben, hielt der Zwerg das Messer in der Hand und betrachtete es mit einem Stirnrunzeln. Zärtlich glitten seine Finger über die Intarsien am Griff. »Bezaubernd«, flüsterte er. »Und ziemlich wertvoll.«
Langsam stieg Panik in mir auf. Wie war das Messer in die Hände des Mannes gelangt?
»Ein wunderschönes Stück!« Der kleine Mann seufzte, stand auf und schlurfte mit langsamen Schritten auf mich zu, das ausgeklappte Messer erhoben.
Noch während ich überlegte, ob ich umdrehen und wegrennen oder versuchen sollte, mir das Messer zurückzuholen, klappte er die Klinge mit einem Klick zurück in den Griff.
»So eine meisterhafte Arbeit habe ich schon lange nicht mehr gesehen.«
Mit einem Satz, den ich ihm nicht zugetraut hätte, überwand er den Abstand zwischen uns und schob das Messer zurück in meine Hosentasche, wobei seine Hand einen Augenblick länger als nötig auf meinem Oberschenkel verharrte.
Er grinste. »Ich würde beim nächsten Mal besser auf das gute Stück aufpassen.«
Meine Finger schlossen sich um den Messergriff in meiner Tasche. Das Metall unter meiner Haut zu spüren, beruhigte mich und gab mir ein wenig Sicherheit zurück.
»Was willst du eigentlich hier, Schätzchen?« Der Mann hatte sich mittlerweile wieder hinter seinen Tresen gesetzt und gähnte ungeniert. »Zu Moriartys monsterhafter Mode hättest du links am Zelt vorbeigemusst.« Seine Augen glitzerten vor Abscheu. »Wenn es dir nichts ausmacht, dann schlag doch die Plane beim Rausgehen zu, damit ich nicht erneut beim Schlafen gestört werde.«
»Ich will ins Kabinett!«, antwortete ich.
Schlagartig verschwand das Grinsen von seinem Gesicht. »Wirklich? Das ist nichts für dich, Kleine. Schon viel stärkere und cleverere Leute vor dir haben sich in den unendlichen Welten der Spiegel verloren.« Erneut glitt sein Blick über meine Figur. »Allerdings selten hübschere.«
Von Minute zu Minute fühlte ich mich unwohler in meiner Haut, aber da ich bereits bis hierher gekommen war, wollte ich nun sehen, was sich hier verbarg. Da ich ohnehin maßlos enttäuscht vom Jahrmarkt war, konnte es nicht mehr schlimmer werden.
Ich straffte meine Schultern, zog einen Fünfeuroschein aus der Tasche und knallte ihn auf die Theke.
»Es interessiert mich nicht, was Sie sagen. Ich will zu den Spiegeln.«
Langsam griff der Zwerg nach dem Geldschein und zerrte an der altmodischen Kasse, die erst nach einigen Versuchen mit einem lauten Knarren aufsprang. Wie lange hatte er sie nicht mehr geöffnet?
»Mir soll’s egal sein.« Der Mann seufzte. »Ich werde dich nicht aufhalten. Sag nachher aber nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
Ich ignorierte ihn und betrat das Kabinett. Es war, wie ich zähneknirschend zugeben musste, viel besser, als es von außen den Anschein machte. Im ganzen Zelt herrschte ein pulsierendes, intensives Licht, das sich in den Dutzenden, wenn nicht Hunderten mannshohen Spiegeln brach, die den Weg durch das Labyrinth markierten. Die Glasflächen waren makellos, warfen die Bilder in allen denkbaren Formen gestaucht, verzerrt oder umgedreht zurück. Bereits nach wenigen Schritten hatte ich im Labyrinth der Spiegel die Orientierung verloren. Was das Ganze jedoch auf einem Mystery-Jahrmarkt zu suchen hatte, war mir schleierhaft. So interessant es hier auch war, mit Horror hatte es nichts zu tun.
Dennoch hob sich meine Laune merklich, als ich von Spiegel zu Spiegel ging und versuchte, meinen Weg aus dem Labyrinth zu finden. Doch egal, wie viele Gänge ich entlang lief, es tauchte einfach kein Ausgang auf. Panik drohte mich zu übermannen, als ich immer schneller durch die Gänge hastete, auf der Suche nach dem rettenden Ausgang.
Schließlich blieb ich ausgepumpt und verwirrt stehen. Das Zelt war zwar groß, aber nicht gigantisch. Es war schlichtweg unmöglich, dass ich das Ende des Labyrinthes verfehlen würde, wenn ich konzentriert an die Sache heranging. Um mich besser orientieren zu können, beschloss ich, mich rechts an der Spiegelwand entlang zu tasten, bis ich auf den Ausgang oder den Eingang stoßen würde. Mit neuer Entschlossenheit ging ich auf den Spiegel zu, streckte die Hand aus und … schrie auf. Das Glas unter meinen Fingern fühlte sich glühend heiß an. Ich fuhr zurück und blinzelte die Tränen des Schmerzes aus den Augen.