Tod des Verlegers. Christina Wermescher

Tod des Verlegers - Christina Wermescher


Скачать книгу
habe ich nachgedacht. Sie hatten recht mit dem Zettelchen. Ich entschuldige mich für mein garstiges Benehmen.«

      Mrs. Swanson strahlt übers ganze rosige Gesicht. »Mein lieber Willard! Ich wusste, dass man Sie nicht aufgeben darf.«

      Willard kommt mit dem Drahtkorb zu ihr. »Erlauben Sie, dass ich mich mit einem bescheidenen Geschenk bei Ihnen bedanke?«

      »Wenn ich so charmant gefragt werde, kann ich nicht ablehnen«, erwidert Mrs. Swanson kokett.

      Er reicht ihr den Korb über die Pforte. Darin liegt eine einzige Kartoffel von der Größe eines Kürbisses.

      »Du meine Güte!« Mrs. Swanson quellen die Augen über. »Darf ich die mit zum Markt nehmen? Bestimmt gewinne ich damit das Preiswiegen!«

      Willard lacht bei der Vorstellung. »Warum nicht? Aber falls jemand nach Ihrem Geheimnis fragt, sagen Sie besser, Sie hätten Pferdemist genommen.«

      Sie zwinkern einander zu.

      »Und falls ich Sie nach Ihrem Geheimnis frage, Willard?«

      Er lächelt. »Dann würde ich sagen, dass zwanzig Jahre genug sind.«

      Unter der

      Weltenesche

      Veronika Lackerbauer

      Der Wetterbericht hatte im Verlauf des Tages verbreitet Niederschläge prognostiziert, von Norden kommend bis an den Alpenrand. Noch war davon allerdings nichts zu spüren. Der schwere Duft von Flieder in voller Blüte, vermischt mit Waldmeister, hing in der Luft, und die frisch ausgetriebenen Blätter entfalteten sich zögerlich im wärmer werdenden Sonnenlicht. Noch schwirrten emsige Bienen und Hummeln durch die beinahe sommerliche Abendluft, doch bald schon würde sich der träge Spätfrühlingstag seinem Ende zuneigen.

      Allenfalls die Geschäftigkeit der brummenden, summenden Insekten hätte ein Hinweis darauf sein können, dass dieser Abend noch für Überraschungen gut sein würde.

      ***

      Annika saß am geöffneten Fenster ihres Zimmers und ließ den Blick über den übervollen Fliederbusch hinweg in den Garten und zum Waldrand schweifen. Für Annika war schon der Weg hinunter in den Garten unerreichbar weit. Sehnsüchtig betrachtete sie die hohen, schlanken Fichten, die verheißungsvoll mit ihren nadeligen Ästen zu winken schienen. Den wolkenlosen Himmel zerschnitten nur die Kondensstreifen zweier Flugzeuge, die sich in unterschiedlicher Richtung kreuzten. Wohin ihre Reise wohl ging?

      Für Annika blieb nur der Blick aus dem Fenster. Nicht nur, weil sie, an ihren Rollstuhl gefesselt, gezwungen gewesen wäre, jemanden um Hilfe zu bitten, um die Stufen von der Terrasse hinunter auf den Kiesweg zu bewältigen, sondern auch und vor allem deshalb, weil sie einen Berg von Aufgaben vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte, der erledigt werden wollte.

      Hier im Institut traute man ihr zum ersten Mal in ihrem Leben etwas zu – anders als zu Hause, wo ihr Vater sie umsorgt und verhätschelt hatte, als wäre sie mit ihren dreizehn Jahren immer noch ein Wickelkind. Viele Krankenhausaufenthalte hatten einen regelmäßigen Schulbesuch unmöglich gemacht, auch wenn sie zu Hause und im Krankenbett viel selbstständig nachgeholt hatte. Ihre Lehrer waren nachsichtig gewesen, doch auch einig in der Überzeugung, dass es bei ihr nicht allzu viel Sinn hatte, Leistung einzufordern. Und ihre Mutter … Sie hingegen hatte sich mehr und mehr von Annika zurückgezogen. Am Anfang stand der Schock nach Annikas Geburt, als man ihrer Mutter noch im Kreißsaal gesagt hatte, dass eine Bürde auf ihr lastete, die ihr ganzes Leben prägen würde. Zunächst ließ sich vielleicht noch hoffen, dass das Kind sich fangen würde, später einmal in der Lage wäre, ein eigenständiges Leben zu führen. Doch mit jedem Jahr, das Annika älter wurde, schwand die Hoffnung. Als die Prognose der Ärzte, dass sie nie richtig laufen lernen würde, sich bewahrheitete, begann ihre Mutter sie abzulehnen. Die Mutter sah in ihr immer nur das, was sie seither den Fluch nannte.

      Die Ärzte hatten dafür einen lateinischen Begriff, der nüchterner beschrieb, was Annika fehlte: Spina bifida – ein offener Rücken. Etwa einmal unter tausend Geburten trat diese oft weitreichende Fehlentwicklung im Rückenmark auf. Die Frage, warum sie ausgerechnet Annika getroffen hatte, war müßig, trotzdem wurde ihre Mutter nicht müde, sie immer wieder zu stellen und mit dem Schicksal ihres Kindes, das gleichzeitig das ihre war, zu hadern.

      Hier im Institut, das Internat und Behandlungszentrum in einem war, konnte Annika zum ersten Mal ohne das Gefühl leben, eine Enttäuschung zu sein. Hier war sie nicht die andere. Jedes Kind, das hierher kam, hatte mit dem einen oder anderen Problem zu kämpfen, ein Rollstuhl schien dabei noch nicht das Schlimmste zu sein, was einen treffen konnte. Obwohl sie glücklich war, einmal nicht aus der Masse herauszustechen, und trotz ihres Ehrgeizes, das Abitur aus eigener Kraft zu machen, sehnte sie sich an diesem herrlichen Frühlingstag wieder einmal nach dem Unerreichbaren: Wie mochte es wohl sein, wenn man einfach aufstehen und hinüber zum Waldrand laufen konnte?

      ***

      Weshalb tust du es nicht einfach?, flüsterte ein zartes Stimmchen in Annikas Ohr.

      »Weil ich es nicht kann«, erwiderte Annika ohne Nachdenken. Es war die Antwort, die sie auf so vieles in ihrem bisherigen Leben bekommen hatte: Du kannst das nicht. So lange hatte sie diesen Satz gehört, bis sie ihn zu ihrem eigenen gemacht hatte.

      Der Vater hatte ihn liebevoll gesagt, tröstend. »Mach dir nichts daraus. Du kannst dafür andere Sachen.« Was genau sie konnte, was andere nicht auch oder sogar besser beherrschten, diese Antwort war er ihr schuldig geblieben. Am Ende blieb die Gewissheit, dass sie wieder einmal vor einer unüberwindbaren Hürde stand, und die konnte schon eine Stufe oder eine Unebenheit sein. Auf dem Spielplatz hatte es für sie keine Schaukeln gegeben, keine Wippe und schon gar kein Klettergerüst. Im Sommer gab es kein Schwimmbad, keinen Baggerweiher und keine Strandparty. Es gab kein Beach-Volleyball und kein Leistungsturnen für sie, auch wenn sie den Mädchen ihrer Klasse sehnsüchtig von der Tribüne aus zugesehen hatte, wie sie Handstandüberschlag auf dem Schwebebalken geübt hatten. Sie lernte nicht Schwimmen und nicht Radfahren. Sie bekam keine schmutzigen Hosen und keine aufgeschlagenen Knie. Für die Kinder in ihrer Nachbarschaft und ihre Klassenkameraden wurde sie irgendwann unsichtbar. Anfangs hatten sie nach ihr gefragt, hatten sogar versucht, sie trotz ihres Rollstuhls mitzunehmen, doch es war zu mühsam, sie war eine Last, ohne sie ging es leichter. Da waren die Einladungen seltener geworden. Und ihr Vater hatte nur wieder gesagt: »Macht doch nichts. Du kannst doch sowieso nicht mitspielen.« Er hatte versucht, sie aufzuheitern, indem er ihr Berge von Büchern kaufte. Lesen, ja, das konnte sie. Ausdauernd, weil ihr das Stillsitzen nicht schwerfiel. Oder malen. Er kaufte ihr Leinwand und Pinsel. Und eine Geige. Alles, was man im Sitzen tun konnte, wozu nur Denken und Konzentration nötig waren.

      Wenn ihre Mutter sagte: »Das kannst du nicht!«, dann fühlten sich die Worte für Annika wie Schläge an. Es schwang immer ein Vorwurf mit, so als ob es ihre Schuld wäre, wenn sie wieder einmal die Erwartungen ihrer Mutter enttäuschte. Und aus »Das kannst du nicht!« wurde »Das lohnt sich nicht!« Schwimmtherapie für den Bewegungsapparat – lohnt sich nicht. Reitstunden auf dem Therapie-Pony – was soll das bringen? Ein Spezialrollstuhl für Sport, wozu denn das? Es lohnt sich nicht. Du kannst das nicht.

      Unsinn, kommentierte die kaum hörbare Fistelstimme und riss Annika aus ihren Gedanken.

      »Ich kann aber nicht laufen«, wiederholte Annika.

      Wer spricht denn vom Laufen? Wer will denn laufen, wenn er fliegen kann?

      ***

      Gerade, als Annika einwenden wollte, dass sie doch auch des Fliegens keineswegs mächtig war, spürte sie, wie sie den Kontakt zu Sitz und Lehne ihres Rollstuhls verlor. Etwas zog sie mit enormer Macht durch das offene Fenster hinaus in die fliederschwere Abendluft. Aus ihrer neuen Perspektive sah sie, dass sich im Westen bereits Wolken türmten, und hörte ein leises Grollen, das das nahende Gewitter ankündigte. Den Weg zum Waldsaum, der ihr vom Fenster aus eben noch unüberwindlich erschienen war, legte sie in einem Wimpernschlag zurück. Nach der flirrenden Vorgewitterschwüle fühlte sich die Kühle des schattigen Blätterdachs angenehm auf der Haut an.

      Annika


Скачать книгу