Tod des Verlegers. Christina Wermescher
das Herz in ihrer Handfläche. Es pulsierte warm, als wäre es lebendig. Ihre Handfläche pochte.
»Das dürfte reichen«, unterbrach er ihre Gedanken und ließ los.
Misstrauisch faltete Marleen die Finger auseinander und stieß einen kleinen Schrei aus. Ihre Handfläche war nicht blutverschmiert, wie sie erwartet hatte. Stattdessen leuchtete das Herz, das sie für einen einfachen Bergkristall gehalten hatte, in reinem, klarem Rubinrot. Der Alte nickte zufrieden.
»Das ist unmöglich. Ich meine, wo ist das Blut? Ist das ein Trick? Ich verstehe nicht …«
»Sie halten das für einen Trick? Ah ja! Sie denken an diese Metalle, die ihre Farbe je nach Temperatur ändern. Das ist Kinderkram! Dieser Stein jedoch«, wieder schloss er ihre Finger um den Anhänger, »dieser Stein hat Ihre Lebenskraft aufgenommen.«
Marleen öffnete den Mund, doch er hielt abwehrend die Hand in die Luft. »Nicht alle. Fünf Jahre, würde ich schätzen. Solange Ihr Verlobter diesen Stein trägt, wird Ihre Kraft, Ihre Lebensenergie, auf ihn übergehen. Fünf Jahre, die Sie Ihrem Patrick geschenkt haben, und die Sie kürzer leben werden.«
»Fünf Jahre, die ich ihm geschenkt habe«, flüsterte sie. Ungläubig strich sie über den Handteller, in dem die Wunde weder zu sehen noch zu fühlen war. Ein Stück Leben, das dir genommen wurde, raunte eine kleine, böse Stimme in ihren Gedanken. Sie schüttelte den Kopf, als müsste sie eine lästige Mücke verscheuchen.
»Also, der Kristall ist mit meinem Blut – meinem Leben? – rot geworden? Was, wenn ich ihn …?«
»Er wird dunkler, je länger Sie ihn in der Hand halten, ja. Und umgekehrt …« Er brach ab.
»… verblasst er, je mehr von dem darin gespeicherten Leben verbraucht ist«, beendete Marleen den Satz. »Wie eine Batterie.«
Er nickte.
Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Das war – ungeheuerlich! Wahnsinnig und furchtbar zugleich.
»Sie sind ein Monster«, flüsterte sie. »Das heißt: Ich schenke ihm fünf Jahre und müsste dafür dabei zusehen, wie sein Leben wieder zu Ende geht? Noch einmal könnte ich das nicht ertragen!«
»Es liegt an Ihnen, diese Batterie wieder aufzuladen«, bemerkte er kalt.
»Und jedes Mal verliere ich einen Teil meiner eigenen Lebensjahre?«
Er lachte. »Sie waren bereit, für ihn zu sterben. Nun, das werden Sie. Aber schließlich sterben wir alle irgendwann. Sie eben ein bisschen früher, als die Natur vorgesehen hatte.«
Das blutrote Herz lag in ihrer Hand wie eine offene Wunde. Heiße Wellen schossen durch ihren Körper.
»Das … ist grotesk! Abnorm! Ich gebe ihn zurück. Hören Sie? Ich will ihn nicht. Ich mache den Deal rückgängig.«
Sie legte den Anhänger auf die Theke.
Er schüttelte den Kopf. »Einen Vertrag, der mit Blut geschlossen wurde, kann man nicht einfach auflösen. Sie müssen den Stein zertrümmern, wenn Sie Ihre Jahre zurückhaben wollen. Doch in dem Fall …«, er kam um den Tresen herum und baute sich unmittelbar vor ihr auf, »… würde Ihr Geliebter umgehend sterben.«
Was habe ich getan?
Sie wich zurück, bis sie das Regal im Rücken spürte. Mondstein beobachtete sie mit kalten, schwarzen Augen, als wäre sie eine Fliege in seiner Suppe.
Du feilschst mit dem Tod. Hast du erwartet, er würde es dir leicht machen?, raunte die kleine Stimme in ihrem Kopf. Patrick wird leben, nur das zählt!, widersprach eine andere. Wenn er hört, was du für ihn getan hast …
Auf dem Gesicht des Alten breitete sich ein Grinsen aus wie ein Pilzgeflecht, das nur die Augen freiließ. »Bevor ich es vergesse: Sie dürfen Ihrem Verlobten keinesfalls von unserem kleinen Abkommen erzählen. Niemals, das wäre sein Tod. Und die Jahre, die in dem Stein gespeichert sind«, er richtete seinen spitzen Zeigefinger auf Marleen wie einen Dolch, »diese Jahre gehören dann mir!«
Marleen kämpfte eine Welle von Übelkeit nieder, als ihr das wahre Ausmaß ihres Handels bewusst wurde. »Davon leben Sie, richtig? Von verzweifelten Menschen, enttäuschter Liebe und von Geheimnissen, die nicht lange geheim bleiben«, wisperte sie.
Er zuckte die Schultern. »Unterschätzen Sie niemals die menschliche Eitelkeit.«
»Wer. Sind. Sie?«
Er schlenderte zu seinem Tresen zurück. »Das wollen Sie nicht wissen. Nur so viel: Ich handle mit Zeit. Eine Ressource, die Menschen zuweilen reichlich geschenkt wird, und die sie wenig zu nutzen wissen. Auch Sie werfen etliche Jahre weg, weil Sie einem Traum hinterherjagen. Aber ein ganzes Leben ist eine verdammt lange Zeit, um ein Geheimnis zu bewahren. Deshalb wird auch Ihre Lebenskraft am Ende mir gehören.«
»Niemals!«, schrie Marleen. »Sie haben keine Ahnung von echter Liebe, Sie, Sie Zeitvampir!«
Er lachte. »Glauben Sie mir: Wahre Liebe ist noch viel seltener als Mondsteine, deshalb gewinne ich am Ende immer.«
Marleen schnappte den Stein vom Tresen und jagte zur Tür hinaus, verfolgt von dem krächzenden Lachen eines Monsters, dem sie Patricks und ihr Leben zum Fraß vorgeworfen hatte.
***
Übermütig warf sie die Tür hinter sich zu.
»Patrick? Ich war im Reisebüro. Schau mal, lauter Prospekte über Australien. Du, das wird fantastisch. Patrick?«
Drei Monate waren seit seiner Spontanheilung vergangen. Jeden Tag kontrollierte Marleen, ob er den Glücksbringer trug, wie sie den Stein nannte. Mit den Haaren kehrte auch sein Lebensmut zurück, und doch – manchmal erschien es Marleen, als würde sich langsam eine Wand zwischen ihnen aufbauen, die mit jedem Tag höher wurde.
Mit einem Geschirrtuch in der Hand kam er aus der Küche. »Marleen, ich muss mit dir reden. Setz dich bitte.«
»Du bist so ernst. War was bei der Nachsorge? Musst du wieder ins Krankenhaus?«
Er schüttelte den Kopf, wich ihrem Blick aber aus. »Nein, alles in Ordnung. Die Ärzte sprechen von einem Wunder, einem geschenkten Leben. Genau das ist es, worüber ich mit dir reden möchte.«
Behutsam legte sie die Prospekte auf den niedrigen Wohnzimmertisch und sank in einen Sessel. Das einsetzende Dröhnen ihres Pulses in ihren Ohren ignorierte sie.
»Die Ärzte sprachen von einer zweiten Chance. Das stimmt. Ich hatte im Krankenhaus genug Zeit, mir Gedanken zu machen. Es ist doch so: Australien … das war eigentlich immer dein Traum, nicht meiner. Und mir ist klar geworden, dass ich viel lieber eine Familie gehabt hätte.«
Patricks Worte tropften wie Salzsäure in ihre Gedanken, wo sie den Traum von Sand und Meer unaufhaltsam zerfraßen und eine stinkende Pfütze zurückließen. »Du – Familie? Seit wann das denn? Und du willst Vater werden? Auf einmal? Wie? Du weißt genau, dass ich keine Kinder haben kann - haben will, das war für dich immer in Ordnung. Und plötzlich ist alles anders? Du hast mich die letzten Monate glauben lassen, alles wird wieder gut, und jetzt heißt es: April, April? Antworte mir!«
Das Tuch in seinen Händen zitterte leicht. »Es tut mir leid. Das Leben kann überraschend schnell vorbei sein, das weiß ich jetzt. Daher will ich keine Minute mehr davon verschwenden. Ja, ich will Papa sein.« Er zögerte einen Moment und schluckte schwer, bevor er sich verbesserte: »Ich werde Papa sein.«
Die einsetzende Stille konnte man fast mit Händen greifen. Marleens Gehirn weigerte sich, die letzten Worte ihres Verlobten zu verarbeiten. Schließlich würgte sie nur ein Wort hervor. »Wer?«
Er sah sie unglücklich an. »Bitte, Marleen, das spielt doch keine Rolle. Ich habe mich neu verliebt, und ich werde neu anfangen. Mach es uns nicht unnötig schwer.«
»Wer?«, wiederholte sie.
»Du kennst sie: Susanne. Schwester Susanne, wenn du es genau wissen willst.«
Marleen nickte, als