Tod des Verlegers. Christina Wermescher
dabei einige Eselsohren produziere, verschafft mir eine grimmige Befriedigung.
Mit dem unheilvollen Ticken im Ohr fange ich an zu lesen.
Märchenhaft
1. Kiste
Herzen und
Mondsteine
Renée Engel
Neugierig drückte sie die Nase gegen das Fenster. Das spärliche Licht des Winternachmittags reichte nur wenige Meter in den Laden, vorbei an nahezu antiken Holzregalen rechts und links, in dem sich zerfledderte Bücher, alte Töpfe und Holzspielzeug stapelten.
Unsicher schob Marleen eine Strähne hinter das Ohr und trat ein paar Schritte zurück. Bestimmt war sie schon hundertmal an dieser schmalen Gasse vorbeigekommen, ohne sie zu beachten. Sie war so eng, dass der Übergang vom Bürgersteig zur Straße lediglich durch eine gemauerte Rinne markiert wurde, durch die das Regenwasser ablief. Kopfsteinpflaster machte den Boden uneben und das Gehen mühsam. Die ganze Straße wirkte dermaßen aus der Zeit gefallen, dass Marleen nicht mal über Gaslaternen als Beleuchtung überrascht gewesen wäre.
Ihr Blick kletterte die Fassade hinauf. Kleine Erker hier und da versperrten dem Licht den Weg, und stumpfe Fenster starrten blind auf die gegenüberliegende Hauswand. Kein Anwohner kontrollierte, wer sich in dieses abgelegene Viertel verirrt hatte, keine Gardine bewegte sich. Einzig die Briefkästen, die nicht überquollen, deuteten auf einen Rest von Leben.
Der Laden bot das gleiche, trostlose Bild. Der Zahn der Zeit hatte am Putz und einem Teil der Hausnummer genagt, und der verbliebene Rest war so dunkel, dass er mit der schmutzigen Fassade quasi verschmolz.
Ein letztes Mal suchten ihre Augen nach Hinweisen, ob sie wirklich an der richtigen Adresse stand. ALBERT NICOLAS MONDSTEIN, AN- UND VERKAUF, stand in grauen Lettern auf der vor Schmutz nahezu undurchsichtigen Scheibe. Der Name, der sie aus dem Albtraum, zu dem ihr Leben geworden war, befreien sollte.
Was ist jetzt? Reingehen oder verschwinden?, dachte sie.
Der Wind trieb ein paar tote Blätter vor sich her, vereinzelte Schneeflocken trudelten zu Boden. Ihre Fingernägel waren blau vor Kälte. Seit Tagen hatte sie das Gefühl, nie wieder warm zu werden. Genaugenommen seit dem Morgen, als der Arzt meinte, es gäbe für Patrick keine Hoffnung mehr.
Damals hatte sich dieser Eisklumpen in ihrem Herzen gebildet, der mit jedem einzelnen Tag, der ungenutzt verstrich, weiter wuchs. Wie lange war das her? Sechs Tage? Eine Woche?
Eine Ewigkeit, wenn man dabei war, das Liebste zu verlieren, was man auf der Welt besaß.
***
Sanft strich sie über die eingefallene Wange. Man konnte förmlich zusehen, wie der Krebs ihm das Fleisch von den Knochen nagte. Die Chemos trugen ihren Teil dazu bei, einen ehemals sportlichen jungen Mann in ein bleiches Wrack zu verwandeln.
So viel hatten sie noch vorgehabt: die Tauchtour am Great Barrier Reef, der Segeltörn die Westküste Australiens hoch. Seit dem Studium hatten sie davon geträumt – und jetzt das.
Marleen schluckte. Nein, es ging nicht um Australien. Es ging um Patrick. Ihren Patrick, der seit Monaten um sein Leben kämpfte. Was würde sie nicht alles tun, um …
»Frau Hoffmann?«
Marleen schrak zusammen. Die blonde Schwester legte Marleen behutsam die Hand auf die Schulter. »Die Visite kommt gleich.«
»Was? Oh ja, natürlich.« Zögernd stand sie auf. »Wissen Sie schon etwas von dem neuen Medikament? Doktor Kurz wollte sich mit einer Klinik in den USA in Verbindung setzen.«
Die Schwester sah sie aus großen, blauen Augen an. Das Namensschild mit der Aufschrift Schwester Susanne hob und senkte sich gleichmäßig auf ihrem ausladenden Busen.
»Ich darf Ihnen darüber keine Auskunft geben. Fragen Sie bitte Doktor Kurz. Nach der Visite hat er sicher Zeit für Sie. Sie können draußen warten. Im Aufenthaltsbereich gibt es einen Kaffeeautomaten.«
»Ich weiß«, schnappte Marleen. Sie hasste das mütterliche Getue der Schwester, die gedämpfte Stimme, das beruhigende Lächeln; sie hasste es, weil sie es verabscheute, nur herumzusitzen und nichts unternehmen zu können.
Ihre Schuhe quietschten auf dem gebohnerten Linoleum. Der Aufenthaltsbereich bestand aus einer Sitzgarnitur mit abwaschbaren Polstern, einem niedrigen Tisch, einem mannshohen Hydro-Ficus und dem Kaffeeautomaten. Bei gutem Wetter genoss gelegentlich ein Besucher die Aussicht in den angrenzenden Park, doch diesmal hatte Marleen den Bereich für sich.
Mit einem Kaffee Latte in der Hand setzte sie sich ans äußerste Ende des Sofas und starrte aus dem Fenster. Der Latte schmeckte wässrig, aber er war heiß. In den letzten Wochen hatte sie gelernt, für die kleinsten Annehmlichkeiten dankbar zu sein. Immerhin durfte sie hier sitzen und schlechten Kaffee trinken, während Patrick …
Ihre Sicht verschwamm. Trotzig wischte sie sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Fang bloß nicht an zu heulen!, schalt sie sich.
»Geht es um Ihren Mann?«
Auch das noch! Eine Dame um die achtzig hatte sich in einem Sessel niedergelassen und schaute sie über die aufgeschlagene Tageszeitung hinweg an.
Marleen nahm einen Schluck, um die Tränen runterzuspülen, und schüttelte den Kopf. »Mein Verlobter«, sagte sie schroff und wandte sich wieder ab. Es war ihr egal, ob die Frau sie für unhöflich hielt.
»Das tut mir leid. Sie sind noch so jung«, plapperte die Alte weiter.
Marleen verdrehte die Augen. Mitleid war das Letzte, was sie jetzt ertragen konnte. Noch dazu von einer wildfremden Frau. Sie stand auf.
»Wissen Sie, mein Mann – Herbert – ist vor drei Wochen gestorben. Auf dieser Station.«
Marleen erstarrte.
Zum ersten Mal sah sie die Frau direkt an. Sie war klein, krumm und unglaublich faltig. Doch in ihren blauen Augen funkelte ein Feuer, das angesichts ihres Verlustes überraschte.
»Herbert hätte schon vor sechs Jahren gehen sollen, aber ich habe dem Tod ein paar Jahre abgetrotzt.« Sie zwinkerte Marleen zu.
»Sie haben – was?«
»Dem Tod ein paar Jahre abgeschwatzt. Doch jetzt war seine Zeit eben abgelaufen. Das macht aber nichts. Ich werde ihm bald folgen.«
Sie plauderte in dem Ton, in dem sie auch vom Gewinn des ersten Preises für das beste Käsekuchenrezept auf einem Hausfrauenbasar hätte erzählen können. Dabei lächelte sie glücklich, als stünde ihr eine aufregende Reise bevor.
»Sie können ihm helfen, Ihrem Verlobten. Wenn Sie ihn lieben.«
Trotz des Kaffees brauchte Marleen einen Moment, um den Sinn dieser Worte zu erfassen. »Wie bitte?«
Die alte Dame schob die Anzeigenseite über den Tisch und deutete auf eine kleine Annonce rechts unten in der Ecke.
Albert Mondstein, An- und Verkauf
Verschwenden Sie keine Zeit, horten Sie sie!
»Das ist ein Scherz!«, sagte Marleen.
Die Alte schüttelte den Kopf. »Sechs weitere Jahre mit meinem Herbert. Das verdanke ich Mondstein.«
Marleen schob die Zeitung zurück. »Vielen Dank. Aber ich vertraue doch lieber den modernen Therapien«, sagte sie.
Die Frau schien nicht beleidigt. »Wie Sie wollen«, meinte sie. Dann riss sie vorsichtig die Anzeige aus dem Blatt und hielt sie Marleen hin.
»Stecken Sie das ein. Na los! Denken Sie in Ruhe darüber nach, und wenn Sie nicht überzeugt sind, schmeißen Sie sie weg.«
Marleen wollte wieder ablehnen, besann sich dann aber eines Besseren. Was konnte es schon schaden, der Frau den Fetzen abzunehmen? Wenn es sie glücklich machte? Sie stopfte die Anzeige in ihre Hosentasche und die