Tod des Verlegers. Christina Wermescher
nie fortbewegt. Unzählige Male hatte sie sich ausgemalt, wie es wäre zu gehen. Doch wie viel besser noch als jede Fantasie war dieses Gefühl: Sie flog!
Behände wie ein kleiner Vogel schlängelte sie sich zwischen Ästen hindurch, tauchte in frisches Blätterwerk ein und landete schließlich auf einer sonnengefluteten Lichtung. Von oben sah sie Dinge, die sie hauptsächlich aus Büchern kannte: Im weichen, saftigen Gras wuchsen leuchtendgelbe Butterblumen, üppiger Löwenzahn und noch eine Menge von anderen weißen, violetten, blauen und gelben Wiesenblumen. In der Mitte der Lichtung ragte eine riesige, uralte Esche in den Himmel.
Der Baum schien Annika magisch anzuziehen. Sie wollte in seiner Nähe sein, die raue Borke seines Stamms mit der Hand berühren. Annika landete und ließ sich im Schatten der Esche nieder.
Sie lehnte sich mit ihrem schmerzenden Rückgrat gegen den aufrechten Stamm und folgte mit ihrem Blick, den Kopf weit in den Nacken gelegt, dem Baum bis in die feinen Verästelungen seiner ausladenden Krone. Aus dieser Perspektive erschien es ihr, als ob das Blätterdach des Baumes den Himmel abstützte und seine weiten Äste die ganze Erde umspannten.
***
Da nahm Annika wieder eine leise, flüsternde Stimme wahr. Sehnst du dich nicht nach der Zeit zurück, zischte die, als du noch ein kleines Kindchen warst? Das Leben war so viel einfacher damals, nicht?
Annika dachte daran, wie sie auf den Schultern ihres Vaters durch die Welt geritten war. Seine kräftigen Beine hatten die ihren ersetzt. Sie waren wie ein seltsames Wesen mit einem Unterleib und zwei Köpfen gewesen, das lachte und sang. Dort oben hatte Annika sich unverwundbar gefühlt. Doch inzwischen war sie ihrem Vater viel zu schwer, er konnte sie nicht mehr so auf dem Rücken tragen. Je älter sie geworden war, desto seltener wurde der Klang ihres Lachens.
Die Leichtigkeit des Moments war mit einem Mal verflogen, so als hätte das Stimmchen mit seinem Einwurf alle Fröhlichkeit und Unbeschwertheit von der Lichtung gesogen.
Als kleines Kind war ihr Leben leicht gewesen, ja, weil sie so viel von dem noch nicht gekannt hatte, was man ihr später verwehren würde. Weil sie noch nicht hatte ermessen können, wie anders sie war.
Annikas Blick glitt an ihren Beinen entlang und ihr Magen verkrampfte sich. Sie packte mit beiden Händen ihre Oberschenkel und rüttelte daran. Von einer plötzlichen Wut gepackt, griff sie nach einem Stöckchen, das sie im Gras fand, und warf es nach ihren eigenen Füßen.
Ach, könnte sie sie doch ausreißen, diese dummen, nutzlosen Stelzen!
***
Da vernahm sie eine weitere krächzende Stimme. Und wie wird das wohl weitergehen? Hämisch setzte sie hinzu: Eine Last bist du, dein Leben lang. Allen, die du liebst!
Annika erinnerte sich daran, was ihre Mutter oft seufzend sagte: dass sie sie ihr Leben lang brauchen würde. Sie würde immer auf die Hilfe anderer angewiesen sein. Was nützte es da schon, wenn sie jetzt lernte und übte, um einen guten Schulabschluss zu bekommen? Am Ende würde sie doch nie so leben können wie normale junge Frauen.
Angst ergriff Annika und schnürte ihr die Kehle zu. Eine Angst, die sie bereits oft verspürt hatte, wenn sie sich ihr späteres Leben ausmalte. Sie glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Die Furcht verdrängte die Wut und verdeckte jeden positiven Gedanken, so wie die größer werdenden Wolkentürme die Sonne verdunkelten. Die ersten Regentropfen platschten schwer auf die Blätter der Esche und fielen hinunter in das hohe Gras. Sie trafen ihre nackten Arme und die feinen Härchen sträubten sich. Gleich würde sie richtig nass werden.
Mach dich nicht schmutzig. Pass auf, dass du nicht nass wirst. Bleib im Haus. Die gut gemeinten Ratschläge, die die engen Grenzen ihres bisherigen Lebens noch enger gefasst hatten, gellten automatisch in Annikas Kopf wider. Nur ja nicht noch mehr Arbeit machen. Ohnehin schon hatten ihre Eltern genug mit ihr zu tun. Nicht das auch noch. Vorsichtig sein. Achtsam. Eine Erkältung steckte ihr ohnehin geschwächtes Immunsystem schlecht weg, wie schnell wurde daraus Schlimmeres. Ans Bett gefesselt, nicht nur an den Rollstuhl, und gezwungen, noch mehr Hilfe in Anspruch zu nehmen. Doch warum eigentlich? Wenn sie jetzt durchnässt wurde und eine Lungenentzündung bekam, dann ging es vielleicht zu Ende. Dann fiele sie endlich niemandem mehr zur Last. Und Annika überlegte, dass sie vielleicht besser einfach hier sitzen bleiben sollte, durchweicht vom Regen. Was spielte es schon für eine Rolle?
***
Da meldete sich die erste Stimme wieder zu Wort. Eindringlich sagte sie:
Woher kommst du?
Wohin gehst du?
Was ist dein Glück?
»Glück!« Annika spie das Wort förmlich aus. »Wer redet denn von Glück? Wie könnte jemand wie ich je wirklich glücklich sein?«
Das Stimmchen piepste: Wie viel braucht es denn dazu?
Annika schwieg. Mindestens, so dachte sie trotzig, braucht es dazu Beine!
Deine Beine sind nicht das Problem, fuhr die leise Stimme sie so scharf an, als hätte sie jedes ihrer gedachten Worte genau gehört. Du bist blind und taub! Sieh hin!
Annika blickte sich irritiert um, denn die Lichtung hatte sich nicht verändert. Das emsige Summen der Bienen hatte allerdings aufgehört, auch die Insekten zogen sich vor dem Regen zurück. Die goldgelben Blütenköpfe der Butterblumen wippten auf ihren dünnen Stängeln, wenn ein Wassertropfen sie traf. Sie beugten kurz die Köpfchen, dann richteten sie sich selbstbewusst wieder auf.
Zögerlich streckte Annika ihre Arme aus und strich über das feuchte Gras auf dem Boden. Jetzt prasselte der Regen bereits mit dicken Tropfen auf das Blätterdach der Esche nieder. Ein großer, brauner Vogel, der unter dem Baum Schutz gesucht hatte, ließ einen krächzenden Laut vernehmen. Es roch nach feuchter Erde.
In Annika reifte ein Entschluss. Sie wusste nicht, woher er plötzlich kam, doch er war da und er ließ sich nicht mehr abschütteln. Entschlossen stemmte Annika ihre Füße in den weichen Waldboden und schob sich, mit dem Rücken fest an den Stamm der Esche gedrückt, hoch. Es kostete sie große Anstrengung, bis sie auf ihren wackeligen Beinen stand. Der harte Baumstamm stützte sie. Jetzt regnete es in Strömen. Ohne Unterlass fielen die Tropfen auch durch die schützenden Blätter der Esche. Annika fing einen Regentropfen mit der Zunge und ließ die kalte Flüssigkeit im Mund zergehen. Ein Grinsen glitt unwillkürlich über ihre Lippen.
Sie wusste nicht, wie lange sie dort gelehnt hatte. Annika verlor jedes Gefühl für Raum und Zeit, vielleicht stand der Moment auch einfach still unter der Esche. Obwohl es immer noch regnete, fühlte Annika, dass es an der Zeit war zurückzukehren. Womöglich sorgte man sich bereits um sie.
***
Als die besorgten Betreuer Annika völlig durchnässt und fröstelnd vom Regen auf den Stufen zur Terrasse fanden, fürchteten sie bereits das Schlimmste. Der umgestoßene Rollstuhl lag am Fuß der steinernen Treppe.
Doch Annikas Augen strahlten.
Sie bestand darauf, auf den Arm ihrer Erzieherin gestützt, selbst zum Haus hinauf zu steigen. Ihre Schritte waren ungelenk und langsam, glitten auf den nassen Stufen mehrmals ab, aber Annika ließ sich endlich einmal nicht davon beirren. An diesem Frühlingsabend hatte Annika unter der Weltenesche etwas erfahren, was ihr niemand mehr würde nehmen können:
In der Vergangenheit zu leben, machte traurig.
In der Zukunft zu leben, machte Angst.
Aber wenn du glücklich sein willst, genieße das Hier und Jetzt.
Und: Glücklichsein hängt nicht davon ab, ob man seine Beine bewegen kann.
Spiegelwelten
Erik Huyoff
Gelangweilt ließ ich meinen Blick über das Gelände schweifen. Seit ich ein kleines Kind gewesen war, mochte ich den Halloween-Jahrmarkt, der jedes Jahr im Oktober mit seinen Attraktionen alle Kinder und Erwachsenen zu erschrecken versuchte.
Noch genau erinnerte ich mich an meinen ersten Besuch vor zwölf Jahren,