Die lange Nacht. Ernst Israel Bornstein
Skepsis, die die jüdische Gemeinschaft hier in München Ende der Vierziger- und zu Beginn der Fünfzigerjahre der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft entgegenbrachte. Vorfälle wie die Auerbach-Affäre als Kulminationspunkte der nahezu täglichen Erfahrung, dass der Antisemitismus in Deutschland eben nicht im Mai 1945 verschwunden war, verstärkten bei vielen den Eindruck, im »Land der Mörder« könne es für jüdische Menschen keine Zukunft geben. Viele setzten diese Überzeugung auch in die Tat um und wanderten aus, sobald es ihnen rechtlich und praktisch möglich war. Zurück blieb eine kleine Gemeinschaft von wenigen Tausend, deren Verbleib zumeist mehr eine Folge äußerer Umstände als innerer Überzeugungen war.
Unter ihnen war auch Ernst Israel Bornstein, dessen Geschichte als in Polen Geborener und in Deutschland Hängengebliebener typisch war für viele Mitglieder der jüdischen Gemeinden in der frühen Bundesrepublik. Während der NS-Zeit überlebte Bornstein nicht weniger als sieben Konzentrationslager und einen Todesmarsch. Nach seinem Studium der Zahnmedizin wurde er in München bald zu einem beliebten Arzt und einem angesehenen Mitglied der hiesigen Kultusgemeinde, in deren Vorstand er neben seinen zahlreichen anderen Verpflichtungen über Jahre tätig war. Die Akkuratesse und Genauigkeit, die die Beschreibungen in seinem Buch prägen, machten ihn auch als Person aus. Auch wenn ein uneingeweihter Beobachter ihm in jenen Jahren kaum etwas hätte anmerken können, vermochte er der gewaltigen Last des Erlebten doch nie zu entkommen. »Das KZ«, so schrieb er, »hält mich immer noch umklammert.«
Zur Zeit dieser Neuauflage seines Buches wirft bereits der 75. Jahrestag des Kriegsendes seine Schatten voraus. Die Zahl der Überlebenden sinkt mit jedem Tag, und viele der wichtigsten Stimmen der Erinnerung an die Gräuel der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft sind inzwischen verstummt. Menschen, deren Worte in der öffentlichen Debatte Gewicht hatten, sind heute nicht mehr unter uns – und werden schmerzlich vermisst.
Als Folge dieser Entwicklung offenbart sich mir bei meinen zahlreichen Besuchen in Schulen etwas, das man das Paradoxon der Demokratie nennen kann: In einer Zeit, da nicht nur die heutigen Schüler, sondern auch ihre Eltern und oft sogar Großeltern nichts anderes kannten als den Frieden und Wohlstand einer liberalen und offenen Demokratie, wird es immer schwieriger – und damit auch dringender – den Beweis für deren Notwendigkeit zu führen.
Die Zeitzeugen, die aus eigener Anschauung davon berichten können, wie es ist, wenn vorgeblich unantastbare Menschenrechte plötzlich außer Kraft gesetzt werden und wenn das eigene Leben aufgrund der jüdischen Herkunft nichts mehr gilt, vermitteln ein Gefühl dafür, warum es sich lohnt, immer und überall gegen Antisemitismus und damit gegen Unfreiheit, Intoleranz und Hass einzutreten. Es ist auch kein Zufall, dass politische Kräfte, die wie bereits im 20. Jahrhundert an die niedrigsten und zerstörerischsten Instinkte im Menschen appellieren, just dieser Tage wieder Erfolge feiern: Fast ein Menschenleben nach dem Holocaust verblasst die Erinnerung immer mehr, und manch einer meint heute sorg- und verantwortungslos, seine Stimme an Nationalisten und Menschenfeinde verschwenden zu können.
Die lange Phase von Frieden in Freiheit ist eine epochale Errungenschaft und zugleich eine große Herausforderung, denn was der Mensch nicht selbst erlebt hat, das kann er sich auch nicht vorstellen. Um unsere Demokratien zu erhalten, stellt sich für uns mit umso größerer Dringlichkeit die Aufgabe, Erinnerung und Gedenken in neuer, dauerhafter Form weiterzutragen und dafür zu sorgen, dass die Berichte der Überlebenden weiter gehört und gelesen werden. Die aktuelle Neuauflage ebenso wie die erst vor wenigen Jahren erstmals erfolgte Übersetzung ins Englische zeigen dabei deutlich die nochmals gewachsene Bedeutung der persönlichen Erinnerungen von Überlebenden. »Die lange Nacht« ist in ihrer schonungslosen Klarheit ein Dokument von besonderem Wert, dem jeder von uns nur eine möglichst große Verbreitung bei Jung und Alt wünschen kann. Ernst Israel Bornsteins Schilderungen haben gerade in der heutigen Zeit das Potenzial, von oberflächlichen Erinnerungsritualen zu einem Gedenken zu führen, das für jeden einzelnen mit einer tiefen, individuellen Einsicht und Bedeutung verbunden ist. Nur so können wir bewahren, was wir heute genießen und für dessen Erhalt auch Dr. Bornstein eintrat. Nur wer weiß, was geschehen ist, kann verhindern, dass es sich wiederholt; und wer dieses Buch liest, der kann nicht länger sagen, dass er nichts wisse.
Einleitung zur Erstausgabe
An einem für die Jahreszeit ungewöhnlich sonnigen Dezember Tag des Jahres 1956 begegnete ich in der Münchner Universität meinem verehrten Lehrer Professor Mikorey. Bis jetzt hatte ich mich noch für keines der von ihm vorgeschlagenen Themen für meine Doktorarbeit entscheiden können, und ich nutzte die Gelegenheit, ihn darauf anzusprechen. Als Student der Zahnheilkunde hörte ich die Abendvorlesungen Mikoreys in der Nervenklinik, und gleich vielen meiner Mitstudierenden war ich von seiner menschlichen Ausstrahlung tief beeindruckt. Das Wissen, dass ich hier gewann, half mir auch bei meinen weiteren Studien, und als ich später allgemeine Medizin studierte, begegnete ich Professor Mikorey wieder in seinen Vorlesungen.
Als ich mich nun um eine Doktorarbeit bei ihm bemühte, kamen wir auch auf die Judenverfolgungen zu sprechen, und er regte mich an, meine eigenen Erlebnisse aus jener Zeit niederzuschreiben. Mit 19 Jahren hatte man mich ins KZ gesperrt und in vier Jahren und drei Monaten war ich durch zwölf verschiedene Lager gegangen. Ich sei geistig reif genug, so meinte Mikorey, mein Schicksal nun noch einmal zu durchleben und als Augenzeuge von dem Leidensweg meines Volkes zu berichten.
Zu jener Zeit war ich noch Mitarbeiter des Jüdischen Wissenschaftlichen Instituts in New York und damit beschäftigt, die Erlebnisse junger Menschen, die die Jahre der Haft hinter sich hatten, zu sammeln. Meine Aufgabe bestand darin, diese Aufzeichnungen in der Sprache der Augenzeugen niederzulegen und sie von literarischen Zutaten freizuhalten. In dieser Art, so meinte Professor Mikorey, sollte ich auch meine Erlebnisse beschreiben, Begebenheiten einer Zeit, in der der Mensch seine humanen Grundeigenschaften soweit verlieren konnte, bis er sein menschliches Wesen ganz abgelegt hatte. In der Medizin weiß man von Versuchen, bei denen durch Hormongaben die menschliche Physis beeinflusst wird – unter dem nationalsozialistischen Terror aber wandelte sich die Psyche des Menschen total bis zur Auflösung oder Verkehrung der Persönlichkeit. Unter seinem Terror sank der Mensch von Stufe zu Stufe, der Mensch wurde zum Unmenschen. Die natürlichen Gefühle des Menschen wurden systematisch zerstört. So konnte z. B. eine Mutter ihr Kind weggeben, um sich selbst zu retten, ein bisher gutartiger Mensch wurde unter dem Einfluss von Angst und Hunger zum bösartigen Tier. Mancher verwandelte sich zum unterwürfigen Sklaven, der dem gleichen Herrn diente, der ihn später kaltblütig ermordete.
In diesem Bericht soll versucht werden, rückschauend das Erlebnis zu sehen und nur die Tatsachen sprechen zu lassen ohne Kommentar, ohne den Leser mit persönlichen Emotionen zu belasten. Dennoch wird es schwerfallen, meinen Worten immer Glauben zu schenken. Kann man heute nach so vielen Jahren Ereignisse, Gedanken und Empfindungen noch so schildern, wie man sie damals gesehen, gedacht, empfunden hat? Wohl kaum. Was z. B. fühlt ein Mensch, wenn er unterwegs merkt, dass ihn die Füße nicht mehr tragen, dass er nur noch wenige Schritte weitergehen kann und dabei sieht, wie sein Nachbar, der nicht mehr zu gehen vermag, beim Zurückbleiben erschossen wird? Freilich, zunächst versucht er weiterzugehen, er will leben, greift nach der Hand des Nachbarn, um sich an ihm festzuhalten. Doch der ist selber am Ende seiner Kräfte, er stößt die Hand weg und will den Zurückbleibenden nicht weiterschleppen. Der Schwache bleibt hinter den anderen zurück – aber das muss man selbst gesehen haben. Dies erlöschende Gesicht, die flackernden Augen eines Menschen, der meint, kurz vor dem Ziel zu sein. Da erreicht die Kugel seinen Nachbarn – gleich kann sie auch ihn treffen. Wer kann sagen, was solch ein Mensch erlebt, während er die letzten Schritte seines Lebens tut? Wer kann beschreiben, was er in diesen Sekunden fühlt, leidet.
Und was habe ich selbst an diesem Tage erlebt? Als »auserwählter« Häftling musste ich dem Kapo den Brotsack tragen und als Letzter in der Reihe neben ihm und dem SS-Mann marschieren. Der SS-Mann erschoss alle, die zurückblieben, und der Kapo musste die KZ-Nummer der Erschossenen notieren. Ich schaute in den Pistolenlauf, bevor die Kugel dem schwankenden Menschen vor mir ins Genick gejagt wurde, schaute auf den dünnen Strahl Blut, der noch langsam lief, als das Leben den Körper schon verlassen hatte. Ich beobachtete den SS-Mann, sah, wie er trotz seiner blutigen Arbeit mit gutem Appetit im Gehen die sorgfältig belegten Brote aß. Auf den