Winterthur 1937. Eva Ashinze

Winterthur 1937 - Eva Ashinze


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hin.

      Emil verzieht keine Miene, zuckt mit den Schultern.

      «Bist du eingeschnappt, weil ich dich ehrgeizig genannt habe? Sei ehrlich, Kern, du bist ehrgeizig. Du hast dieses hagere Äussere, diesen gehetzten Blick des ehrgeizigen Mannes. So was erkenne ich sofort.»

      Nun bleibt Emil stehen; sie befinden sich im Entrée des Bezirksgebäudes. «Dieser Fall ist wichtig für mich, Wunderlin», sagt er. «Ich will nicht ewig Gefreiter bleiben.»

      In diesem Moment reisst Schäppi die Tür auf, sein Gesicht ist gerötet, er mustert Wunderlin mit hochgezogenen Augenbrauen. «Ich muss wohl nicht fragen, wo Sie gesteckt haben, Korporal.» Er schnüffelt. «Das riecht man.»

      «Ich habe meine Fühler ausgestreckt», sagt Wunderlin, nicht im Geringsten beschämt. «Ich wollte hören, ob der Tote vom Brühlbergpark schon Thema an den Stammtischen ist.»

      Emil wirft Wunderlin einen erstaunten Blick zu. Ist das eine Ausrede, oder steckt tatsächlich mehr hinter dem Beizenbesuch als die Lust auf ein Bier?

      «Das Gerücht über einen möglichen Mord macht tatsächlich bereits die Runde.» Wunderlin räuspert sich. «Es wird gemunkelt, dass in der Hitze der gestrigen Auseinandersetzungen an der Zürcherstrasse ein roter Tössemer auf einen Nazi losgegangen sei.»

      «War der Ritter ein Nazi?», wirft Schäppi ein.

      «Soweit wir wissen nicht. Die Ehefrau meint, er sei kein politischer Mensch gewesen. Aber Ehefrauen wissen nicht immer alles. Oder sie lügt.»

      «Gehen Sie dem nach», befiehlt Schäppi, während er sich umdreht und zurück in sein Büro steuert. Wunderlin und Emil folgen. «Das passt zu dem, was mir gemeldet worden ist.» Schäppi lässt sich schwer in seinen Sessel fallen und heisst die beiden Polizisten, ihm gegenüber Platz zu nehmen. «Höchst unangenehme Neuigkeiten.» Er streicht mit Zeigfinger und Daumen über seinen Schnauzbart. «Ein weiterer Deutscher ist angegriffen worden. Er hat zum Glück überlebt und liegt verletzt im Spital.»

      «Was?» Emil kann seine Überraschung nicht verbergen.

      «Wann ist das passiert?», fragt Wunderlin. «Und wer hat Bescheid gegeben?»

      «Ihr Kollege, Korporal Bischof, ist wegen eines Unfalls – ein Kind ist angefahren worden – im Spital; er hat die Einlieferung des Deutschen mitbekommen und mich sofort angerufen.»

      «Hat Bischof mit dem Verletzten gesprochen?»

      «Nein», antwortet Schäppi auf Emils Frage. «Ich habe ihn zurückgepfiffen. Besser, das bleibt alles in den gleichen Händen.» Er trommelt mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte. «Ich habe Bischof absolutes Stillschweigen verordnet. Das gilt auch für Sie beide! Diese Sache ist explosiv. Wenn bekannt wird, dass in Winterthur jemand Jagd auf Deutsche macht, dann gute Nacht.» Er schüttelt das kahle Haupt. «Deutschland wird so etwas auf keinen Fall auf sich beruhen lassen. Die deutsche Gesandtschaft wird in Bern intervenieren. Und die Schweiz ist auf eine gute Beziehung zum grossen Nachbarn angewiesen, nicht zuletzt wegen der Wirtschaft. Wir müssen die Angelegenheit rasch klären. Sonst haben wir bald die Bundespolizei im Haus. Ich hoffe, ich kann mich auf Sie beide verlassen. Privates muss zurückstehen. Verstanden?»

      «Verstanden, Herr Leutnant».

      «Also ab ins Spital.» Schäppi entlässt Wunderlin und Emil mit einer Handbewegung. «Ich will über jeden Schritt informiert werden.»

      Die Polizisten radeln hintereinander die Stadthausstrasse hinauf, queren die Tramschienen, biegen nach rechts in die Lindstrasse ein. Vom Pausenplatz des Altstadtschulhauses ertönt Geschrei, Buben toben umher, Mädchen sitzen auf der Treppe. Auf der anderen Strassenseite thront das Stadthaus, ein imposantes Sandsteingebäude mit Freitreppe, schräg dahinter das Museum. An dieser Ecke hat Winterthur etwas Grossstädtisches, das Emil an Zürich erinnert. Damit hat es sich aber auch schon mit der Ähnlichkeit.

      Auf der Höhe des Bezirksgerichts bremst Emil ab, vor ihnen fährt der Haldengut-Zweispänner; er hat wohl seine Lieferrunde für heute beendet und ist auf dem Weg zurück in die Fabrik. Sie fahren hinter dem Wagen her, bis er in die Haldenstrasse einbiegt. Wunderlin und Emil verlassen die Lindstrasse, nehmen das schmale, von Bäumen gesäumte Strässchen, das quer durch die weitläufige Grünfläche zum Haupteingang des Kantonsspitals führt. Vor dem langgestreckten Gebäude mit dem Giebeldach parkieren sie die Velos.

      Im Innern herrscht ein geschäftiges Treiben: Frauen in Schwesterntracht und mit weissen Hauben sind unterwegs, stützen Patienten oder eilen zur nächsten Verpflichtung, dazwischen der eine oder andere Arzt im weissen Kittel. Emil hält Ausschau nach dem Kollegen Bischof, entdeckt ihn in einer Ecke an die Wand gelehnt.

      «Wo ist unser Deutscher?»

      «Zimmer 207, zweiter Stock», liest Bischof von einem Zettel ab.

      «Kannst du uns etwas sagen?»

      «Nicht viel. Auf dem Flur habe ich gehört, wie eine Schwester zu einer Kollegin etwas über einen Deutschen mit Kopfverletzung gesagt hat. Auf meine Frage, worum es gehe, meinte sie, er sei wohl angegriffen worden.» Bischof zuckt mit den Schultern. «Ich habe das von eurem toten Deutschen mitbekommen, da habe ich zwei und zwei zusammengezählt und sogleich den Leutnant alarmiert.»

      «Name?»

      «Schäfer. Bernd Schäfer.»

      Wunderlin nickt geschäftig. «Dann schauen wir uns das Opfer mal von Nahem an.»

      «Soll ich euch begleiten?»

      «Nicht nötig. Sollten wir uns verlaufen, fragen wir eine der netten Schwestern nach dem Weg.» Wunderlin klopft Bischof gönnerhaft auf die Schulter.

      Bischof schaut ihn mit säuerlicher Miene an. «Hat anscheinend seine Vorteile, wenn man mit einer Cou-Cousine des Chefs verheiratet ist.» Er faltet seine Zeitung. «Dann werden einem die grossen Fälle zugeteilt.»

      Wunderlin erstarrt für einen Moment, dann dreht er sich zu Emil um. «Komm, Kern», meint er und eilt voraus, ohne Bischof eines weiteren Blickes zu würdigen. Emil folgt verwirrt. Wunderlins Frau ist also eine entfernte Verwandte von Schäppi. So gesellig Wunderlin sich gibt, so zurückhaltend ist er mit persönlichen Informationen. Über sein Privatleben weiss Emil so gut wie nichts.

      Vor Zimmer 207 bleibt Wunderlin stehen, klopft an und tritt ein, ohne die Antwort abzuwarten. Es riecht nach Karbol und Putzessig; Emil schüttelt es innerlich. Der Geruch ist ihm ein Graus. Vier Betten stehen im Zimmer, an jeder Längswand zwei. In dreien liegen Männer verschiedenen Alters, alle tragen das gleiche weisse Nachthemd, der eine schaut aus dem Fenster, zwei dösen. Das Eintreten der Polizisten lässt sie hochschrecken, neugierig sehen sie den Besuchern entgegen. Wunderlin mustert einen nach dem andern, tritt dann ans Bett eines Mannes Ende zwanzig mit turbanartigem Kopfverband.

      «Bernd Schäfer?»

      Der nickt, stöhnt leise. Unter seinem rechten Auge hat sich ein grosser, dunkelrot verfärbter Bluterguss gebildet, das Auge ist zugeschwollen.

      «Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen.»

      «Ich bin ziemlich fertig», murmelt Schäfer und lässt sich tiefer in die Kissen sinken.

      «Wir wollen herausfinden, wer Sie so zugerichtet hat», meint Wunderlin. Er schaut sich suchend um. «Kern, treib uns eine Sitzgelegenheit auf. Ich will den Mann nicht im Stehen befragen.» Er wirft den beiden anderen Zimmergenossen einen finsteren Blick zu. «Sie beide kümmern sich um ihre eigenen Angelegenheiten. Das hier ist vertraulich.»

      Emil tritt auf den Korridor. Dass er immer als Laufbursche herhalten muss, geht ihm gegen den Strich. Wenn er Korporal ist, wird es damit ein Ende haben. Er schaut sich suchend um, doch hier gibt es weit und breit keinen Stuhl. Stattdessen taucht unvermittelt eine Schwester auf. Sie sieht kompetent aus in ihrer gestärkten Uniform, das graue Haar streng zurückgenommen, die Haube blütenweiss, eine Brille mit schmalem Goldrahmen auf der Nase. Kompetent und einschüchternd.

      «Kann ich Ihnen helfen?»

      Emil fragt nach Stühlen.


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