Winterthur 1937. Eva Ashinze

Winterthur 1937 - Eva Ashinze


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verwickelt gewesen, falls Sie das meinen», meint der Wirt mürrisch. «Aber ich habe keine Ahnung, was er sonst so getrieben hat.» Er wischt sich mit einem Tuch über die Stirn, dann stampft er davon.

      «Das war ja ganz interessant», sagt Wunderlin. Er hat die letzte Kartoffel aufgegessen, legt das Besteck hin und greift nach seinem Bier. Emil macht sich derweil daran, den Knochen abzunagen.

      «Was für Schlüsse ziehst du aus unserer kleinen Unterhaltung mit dem Fräulein Christel und ihrem Gatten?»

      Emil überlegt. «Christel mochte Herrn Ritter sehr gern. Die Nachricht seines Todes hat sie getroffen, das hat man gemerkt.»

      «Der Meinung bin ich auch. Ich denke sogar, diese Nachricht hat sie sehr getroffen. Ich frage mich, ob zwischen den beiden nur eine harmlose Schwärmerei war oder mehr.» Er greift nach einem Zahnstocher, stochert damit in seinen Zähnen. «Der Wirt ist auf jeden Fall nicht gut auf Ritter zu sprechen. Und er hat angefangen zu schwitzen, als er mit uns geredet hat.»

      Emil macht sich eifrig Notizen, hält Wunderlins Vermutungen fest.

      «Lass uns gehen. Hier werden wir im Moment nichts mehr in Erfahrung bringen können. Am besten wir gehen auf direktem Weg zurück aufs Revier, dann können wir vor der Besprechung mit Schäppi den Papierkram erledigen.»

      Dann kann ich noch den Papierkram erledigen, meinst du, denkt Emil, denn die Schreibarbeit bleibt meist an den Dienstjüngsten hängen. Er sagt nichts, nickt nur mit vollem Mund. Wunderlin zieht derweil sein Portemonnaie aus der Tasche und legt ein paar Münzen auf den Tisch.

      «Das nächste Mal bist du dran», sagt er zu Emil und zündet sich eine Zigarette an. «Was war eigentlich los vorhin da oben in der Wohnung?», fragt er beiläufig.

      «Was meinst du?»

      «Jetzt tu nicht so. Zwischendurch hast du ganz schön die Fassung verloren. Als du nach dem Alter von Ritters Tochter gefragt hast.»

      «Es war nichts.» Emil schiebt mit dem Messer den Knochen auf dem Teller hin und her. «Nur eine Erinnerung.»

      «Ein Elternteil zu verlieren, ist nie einfach. Aber als Kind ist es besonders schwierig.» Wunderlin bläst Rauch aus. «Oder als Jugendlicher.» Nun schaut er Emil an, schiebt das Zigarettenpäckchen in seine Richtung. Der greift dankbar zu. «Die Polizei ist wie eine grosse Familie: Wenn du lange genug dabei bist, erfährst du alles über jeden.» Er nimmt einen Zug. «Die spanische Grippe, hm? Diese verdammte Seuche hat mehr Opfer gefordert als der Krieg. Morgens krank und abends tot. Allein im Kanton Zürich starben jeden Monat über zweihundert Menschen.»

      Emil konzentriert sich darauf, das Streichholz an die Zigarette zu halten, verdrängt die Erinnerung an die Mutter, die blass und fiebrig im Bett gelegen und ihm zugeflüstert hat, es werde alles wieder gut. Er nimmt einen tiefen Zug.

      «Wenn ich dir einen Rat geben darf, Emil», Wunderlin klopft Asche ab, «vermische nie Berufliches und Privates. Weder bei den Erinnerungen noch bei den Gefühlen. Das trübt dein Urteilsvermögen.» Er schiebt seinen Teller von sich. «Und nun lass uns gehen.»

      Sie erheben sich, setzen die Mützen auf. Wunderlin klopft Emil auf die Schulter. Emil ist gerührt. Der Korporal mag behäbig sein und zu viel saufen, fähig ist er aber allemal, das hat er in den letzten Stunden gezeigt. Und das Herz hat er auch auf dem rechten Fleck.

      «Schönen Tag, die Herren», ruft Wunderlin in den Saal. Niemand erwidert seinen Gruss. Er tritt an den Tresen, wo Christel ein Bier zapft, drückt seine Zigarette im Aschenbecher aus. «Auf Wiedersehen, Frau Christel», sagt er, und fügt leise an: «Ich bin Korporal Gottfried Wunderlin vom Kantonspolizeiposten Neumarkt. Nur für den Fall, dass Ihnen noch irgendetwas zu Ottmar Ritter in den Sinn kommen sollte.»

      Christel stellt das Glas ab, greift nach dem nächsten und füllt auch das. «Adieu, Herr Korporal Wunderlin», sagt sie, ohne ihn anzuschauen.

      7«Wunderlin, Kern, in mein Büro. Es gibt Neuigkeiten.» Schäppi steht unter der Tür, sein Gesichtsausdruck verheisst nichts Gutes. Emil, der gerade konzentriert das Protokoll des Leichenfundes tippt, erschrickt und drückt so fest auf das A, dass der Typenhebel im Papier stecken bleibt.

      «Wo ist Wunderlin?» Schäppi schaut sich suchend um.

      «Er musste kurz austreten.»

      «Sofort zu mir, wenn er auftaucht. Beide.» Schäppi will wieder in seinem Büro verschwinden, hält inne. «Kern, hat Hess etwas zur Todesursache sagen können?»

      «Schlag auf den Hinterkopf, meint er. Sturz sei so gut wie ausgeschlossen.»

      «Kein Unfall also.» Schäppi seufzt. «Wär auch zu schön gewesen.» Er wirft die Tür hinter sich ins Schloss.

      Emil löst den verklemmten Hebel, tippt weiter, aber mit seiner Konzentration ist es dahin. Er schaut auf die Uhr. Es ist eine halbe Stunde her, seit Wunderlin zur Toilette gegangen ist. Lange wird der Leutnant nicht mehr warten wollen. Emil greift zum Telefon und wählt die interne Kurznummer des Bezirksgefängnisses.

      «Kern hier. Ist Wunderlin bei euch oben?» Der Gefängnisaufseher erteilt ihm eine abschlägige Antwort. Emil versucht es im Büro des Bezirksanwalts, aber auch da hat keiner seinen Kollegen gesehen. Emil steht seufzend auf. Wohl oder übel muss er sich selbst auf die Suche machen, auch wenn er sich über Wunderlins Verhalten ärgert; er will schliesslich bei Schäppi einen möglichst guten Eindruck hinterlassen. Er verlässt das Zimmer, nimmt den Durchgang nach hinten in den Innenhof und schaut sich suchend um. Kein Wunderlin. Stattdessen trifft er auf den Erkennungsdienstler Hess, der, eine Zigarette im Mund, Löcher in die Luft starrt.

      «Hast du Wunderlin gesehen?», fragt er.

      Hess wird aus seinen Gedanken gerissen. «Erinnerst du dich an die Hände des Toten, Kern?», fragt er zusammenhangslos. «Da waren keine Abwehrspuren erkennbar. Die Kleidung war nicht zerrissen.» Er schüttelt den Kopf. «Irgendetwas ist merkwürdig an diesem Tatort, das sage ich dir.»

      Emil hört nicht richtig zu, murmelt etwas Unverbindliches. «Weisst du, wo Wunderlin ist?», hakt er ungeduldig nach.

      «Der wollte in den ‹Metzgerhof›. Hatte Durst.»

      Emil macht rechtsumkehrt und geht den Weg zurück, den er gerade gekommen ist, verlässt das Bezirksgebäude über den Vorderausgang. Die Wirtschaft zum Metzgerhof liegt direkt gegenüber; sie ist bekannt für ihre Blut- und Leberwürste. Emil hat da auch schon mit einem Kollegen ein Feierabendbier getrunken. Zügigen Schrittes überquert er den Neumarkt. Heute ist kein Markttag, sonst wäre kein so leichtes Durchkommen. Die Luft im Innern des «Metzgerhofs» ähnelt derjenigen in der «Braustube», aber sie scheint noch verrauchter zu sein. Emils Blick fällt sofort auf Korporal Wunderlin. Er sitzt, die Uniformjacke aufgeknöpft, in Gesellschaft von zwei Männern in Anzügen am runden Tisch in der Mitte, vor sich eine halbvolle Stange und ein leeres Schnapsglas.

      «Wunderlin!», ruft Emil und hebt die Hand. Der Korporal schaut auf, nickt ihm zu, macht jedoch keine Anstalten aufzustehen. Genervt nähert sich Emil seinem Kollegen. «Du musst sofort mitkommen. Wir sollten längst im Büro vom Chef sein.»

      «Ah bah, Rapport ist um zwei. Jetzt haben wir noch nicht mal halb.» Wunderlin schaut Emil mit glasigen Augen an. «Daran erkennst du die Ehrgeizigen», sagt er zu seinen Tischgenossen. «Sie sind nie pünktlich, sondern immer zu früh.» Die beiden lachen.

      «Es geht nicht um den Rapport», entgegnet Emil beherrscht und beugt sich vor. «Anscheinend hat es eine neue Entwicklung in unserem Fall gegeben», sagt er leise. «Schäppi will uns sofort sehen.»

      «Eine Entwicklung, so, so. Na, dann muss ich wohl.» Wunderlin steht auf, kippt den Rest seines Biers in einem Zug hinunter.

      Auf dem Neumarkt wirft Emil einen seitlichen Blick auf den Korporal. «Die Jacke», sagt er leise und bleibt stehen.

      Wunderlin schaut an sich hinab und macht sich daran, die Knöpfe zu schliessen. Dann setzt er seine Mütze auf. «Bin ich jetzt präsentabel genug?»

      Emil nickt und


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