Winterthur 1937. Eva Ashinze

Winterthur 1937 - Eva Ashinze


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wirft Tschopp ein.

      Hess mustert ihn mit offensichtlicher Geringschätzung. «Unwahrscheinlich», murmelt er. «Oder sehen Sie eine Blutspur?»

      «Tschopp, wann und von wem wurde die Leiche gefunden?», geht Wunderlin dazwischen.

      «Die Meldung kam kurz nach sieben von …»

      Tschopp nickt einem seiner Uniformierten zu, der übernimmt. «Sophie Burger. Küchenhilfe im Bürgerheim. Sie wohnt im Schöntal, also ist sie vermutlich von da gekommen.» Der Uniformierte deutet mit dem Arm Richtung Lokomotivfabrik.

      «Vom Weg aus ist die Leiche nicht zu sehen», unterbricht Wunderlin ungeduldig. «Was hat sie veranlasst, hinter die Büsche zu schauen?»

      «Sie wollte Bärlauch pflücken für die Kartoffeln am Mittag. Dabei ist sie auf den Toten gestossen.»

      Hess hat mit der Untersuchung der Umgebung begonnen, hebt nun ein paar lose, abgeschnittene Bärlauchblätter auf. «Passt», meint er. «In der Panik hat sie die dann fallenlassen.»

      «Wo ist die Zeugin jetzt?»

      «Oben.» Tschopp nickt Richtung Pfrundhaus. «Der Heimleiter kümmert sich um sie. Heute ist wohl nichts mit Bärlauchkartoffeln.» Niemand reagiert auf seinen lauen Scherz.

      Wunderlin klatscht in die Hände. «Also gut. Kern, wir machen uns auf die Suche nach der Zeugin. Hess, bist du fertig mit dem Toten?»

      «Kann abtransportiert werden. Die Kleidung hole ich später im Spital. Während ihr euch im Pfrundhaus herumtreibt, schaue ich mir die Umgebung an. Spuren zu sichern wird schwierig auf der Wiese, aber ich steche hier die Erde aus.» Er deutet auf die Stelle unter dem Kopf des Toten. «Hoffentlich haben die Regenwürmer noch nicht das ganze Blut gegessen.»

      Emil verspürt eine Welle der Übelkeit; er atmet tief durch, versucht sich nichts anmerken zu lassen.

      «Und ich fertige eine Blutskizze an. Eines kann ich euch bereits sagen: Derjenige, der Ritter den Schädel eingeschlagen hat, wird mit Sicherheit auch etwas vom Blut des Opfers abbekommen haben.» Hess nimmt Zeichenpapier aus seinem Koffer.

      «Ihr habt’s gehört», sagt Wunderlin zu Tschopp und seinen ihm Unterstellten. «Sanität benachrichtigen und ab zur Sektion mit ihm. Ab jetzt übernehmen wir.» Er überlegt es sich anders. «Tschopp, lassen Sie einen Ihrer Männer hier, bis ich eine Ablösung organsiert habe. Allenfalls kommt der Täter zurück, um Spuren zu legen oder zu verwischen. Dann soll er uns nicht durch die Lappen gehen.»

      5Zwanzig Minuten später verlassen Wunderlin und Emil das Bürgerheim über die Eingangstreppe, die auf den gekiesten Vorplatz führt. Es hat zu nieseln begonnen.

      «Neues haben wir nicht erfahren», meint Emil.

      «Es geht nicht immer um das, was gesagt wird, Kern», sagt Wunderlin. «Du musst auf die Zwischentöne achten. Auf das Ungesagte.» Er bleibt auf der letzten Stufe der Treppe stehen, schaut auf die Uhr. «Nach zehn. Zeit für eine kleine Stärkung.» Er zieht einen Flachmann aus der Tasche, hält ihn Emil hin. Der schüttelt den Kopf. Er könnte zwar eine Stärkung gebrauchen, denkt dabei aber an das Butterbrot, das er auf dem Posten hat liegen lassen.

      Wunderlin nimmt einen grossen Schluck, schraubt den Deckel wieder zu. «Der Heimleiter ist die ganze Zeit um uns herumgewuselt. Der magere Spitzbart wollte uns keine Sekunde mit Sophie Burger allein lassen. Ist dir das nicht aufgefallen?»

      Emil hat sich nichts dabei gedacht, schliesslich hatte Frau Burger einen Schock erlitten.

      «Vielleicht wollte er hören, was sie uns zu sagen hatte. Ist übrigens auch ein Deutscher, der Heimleiter.»

      «Meinst du?»

      «Ich bin mir ziemlich sicher. Hast du den Einschlag in seinem Dialekt nicht bemerkt? Und dann der Name. Bosch, nicht besonders schweizerisch.»

      Emil zuckt die Schultern. «Kann sein», murmelt er.

      Sie gehen nebeneinander, der Kies knirscht unter den Sohlen, die Feuchtigkeit des Nieselregens benetzt ihre Gesichter. Emil hängt seinen Gedanken nach. Herr Bosch schien ehrlich besorgt zu sein und ergänzte auf Nachfrage, dass am frühen Morgen niemand aus dem Heim den Park betreten habe, auch er nicht. Er muss es wissen, schliesslich wohnt er mit seinen Bewohnern unter einem Dach. «Ich glaube, der Heimleiter ist einfach in Sorge um seine Bewohner.»

      «Ah bah. Der ist höchstens in Sorge wegen seines Budgets. Wenn Sophie Burger für ein paar Tage ausfällt und ein Ersatz her muss, ist das für ihn eine Katastrophe. In solchen Institutionen ist das Geld immer knapp.»

      «Sieht man gar nicht.» Emil deutet auf die weitläufige Parklandschaft.

      «Tja, der Gartenarchitekt hat fantastische Arbeit geleistet. Aber Parkpflege und Altenpflege – das sind zwei verschiedene Töpfe, aus denen das Geld kommt. Für repräsentative Blümchen wird wohl mehr abfallen als für ein paar Alte.»

      Emil weiss nicht, ob er lachen oder entsetzt sein soll. Wunderlin kann mitunter ganz schön zynisch sein.

      Mittlerweile sind sie bei ihren Velos angekommen.

      «Jetzt müssen wir Frau Ritter informieren, bevor sie es von jemand anderem erfährt», sagt Wunderlin. «Schlechte Nachrichten machen schnell die Runde.»

      Sie radeln die Zürcherstrasse entlang bis zur oberen Schöntalstrasse. Es hat ganz schön Verkehr, vier, fünf Autos fahren auf der kurzen Strecke an ihnen vorbei. Aus den hohen Schornsteinen der Lokomotivfabrik steigt dunkler Rauch in den grauen Himmel. Sie lassen ein Tram passieren und wechseln auf die andere Strassenseite, wo Hausfrauen mit Regenschirmen und Kopftüchern unterwegs sind, um in den Geschäften an der Zürcherstrasse ihre Besorgungen zu erledigen.

      Vor dem Restaurant Braustube bleiben sie stehen. «Sieht neu aus, der Bau.» Emil betrachtet das auffällige Wandbild über der Eingangstür: ein überlebensgrosser Braumeister mit Fass auf der Schulter.

      «Wurde vor ein paar Jahren fertiggestellt.» Wunderlin lehnt sein Velo an die Wand, wischt sich Regentropfen aus dem Gesicht. «Dort drüben ist die Nummer 63.» Er deutet auf den Eingang zu seiner linken. Emil stellt sein Velo neben das von Wunderlin, trocknet sich ebenfalls mit einem Taschentuch ab und zieht den Uniformrock gerade.

      «Na dann los.» Wunderlin öffnet die Haustür. «Ich rede, du schreibst, wenn es was zu schreiben gibt.»

      Auf dem Treppenabsatz vor dem dritten Stock hält er inne, dreht sich zu Emil um. «Jetzt kommt das, was ich wirklich hasse. Die schlechteste aller Nachrichten überbringen, daran gewöhnst du dich nie.»

      Eine Frau öffnet auf ihr Klingeln. Sie ist jünger, als die Polizisten erwartet haben, Ende zwanzig, unscheinbar, das Hauskleid mit Kragen hängt wie ein Sack an ihrer schmächtigen Gestalt, die blonden Haare sind stumpf. Vielleicht ist sie einmal hübsch gewesen, aber nun sieht das ungeschminkte Gesicht verhärmt aus, verbraucht vom Leben. «Frau Ritter?»

      Sie registriert die Polizeiuniformen, die grauen Augen weiten sich, alles Blut weicht aus ihrem Gesicht. «Ist etwas mit dem Margritli?»

      Sie meint sicherlich ihr Kind. Die erste Frage gilt immer dem Kind. Eine Tochter also.

      «Mit dem Margritli ist nichts», sagt Wunderlin beruhigend. «Dürfen wir hereinkommen?»

      «Dann also mit dem Ottmar?» Die Frau deutet Wunderlins Miene richtig, ihre Hand fährt zum Mund. «Was ist passiert?»

      «Am besten gehen wir hinein und setzen uns.» Es scheint, als wolle die Frau noch etwas sagen, aber dann macht sie einen Schritt zur Seite, lässt die beiden Polizisten eintreten. Vom engen Eingangsbereich gehen mehrere Türen weg, die bis auf eine alle offen stehen. Emil erhascht einen Blick in die Küche, das Kinderzimmer und in ein kleines Bad. Eine Wohnung mit eigenem Badezimmer, das hat Seltenheitswert hier im Arbeiterquartier. Wird nicht günstig sein, die Miete, denkt er.

      Frau Ritter geht voran, führt sie ins Wohnzimmer, bleibt hilflos stehen.

      «Setzen Sie sich.»


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