Winterthur 1937. Eva Ashinze

Winterthur 1937 - Eva Ashinze


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anderen Strassenseite liegt. «Soll ich Sie hinbringen?»

      Ottmar schüttelt den Kopf und macht seinen Arm los. Sie mustert ihn zweifelnd.

      «Ich gehe ein paar Schritte neben Ihnen her, bis es Ihnen besser geht.» Ihr Tonfall ist bestimmt.

      Ottmar erwidert nichts, geht weiter, an der Fabrikpforte vorbei. Die Frau bleibt an seiner Seite. Nach einigen Metern bleibt Ottmar schwer schnaufend stehen, übergibt sich, wischt sich den Mund mit dem Jackenärmel ab.

      Seine Begleiterin wendet sich angewidert ab. Von wegen Hilfe benötigen, denkt sie. Der Kerl ist einfach nur total besoffen.

      «Ritter, du Saukerl.» Ein junger Bursche hat sich genähert, mustert Ottmar mit blanker Wut in den Augen und versetzt ihm einen Stoss.

      Der hebt abwehrend die Hände. «Nicht. Ich habe solche Schmerzen», murmelt er kraftlos.

      Das beeindruckt den Burschen nicht; er boxt ihn mit der Faust in die Magengegend. Ottmar stöhnt auf, krümmt sich. Der Angreifer will nachlegen, aber er wird an der Schulter zurückgehalten.

      «Jakob, was machst du denn da?» Die junge Frau mustert ihn entsetzt. «So kenne ich dich gar nicht.»

      Ottmar nutzt die Gelegenheit, taumelt auf die Strasse, zwängt sich zwischen zwei Wagen durch. Eine Kuhglocke läutet neben seinem Ohr. Er zuckt zusammen, stolpert. Mit Mühe hält er sein Gleichgewicht, drückt die Hände an den Kopf.

      «Ruhe. Ich will nur Ruhe.» Er taumelt weiter, kämpft sich in Richtung des grünen Laubwerks des Parks des Bürgerheims. Alles an ihm ist nur noch Schmerz.

      Mit letzter Kraft schleppt er sich durch den Parkeingang und auf die Wiese, übergibt sich erneut. Er macht noch einige Schritte und lässt sich dann unter einem Busch auf den weichen Rasen fallen, presst seine Stirn auf den kühlen Boden und schliesst die Augen. Der Geruch der Erde erinnert ihn an seine bayerische Heimat, an seine Mutter, die Tag für Tag draussen gearbeitet hat. Wie oft hat er ihr als Kind dabei geholfen, Karotten oder Kartoffeln zu ernten. Sie war eine schweigsame Frau, die Mutter, mit schönen Augen. Augen wie Greta sie hat. «Greta», flüstert er. Seine Finger krampfen sich um ein Büschel Gras. «Greta.»

Montag, 3. Mai 1937

      2Emil schliesst den letzten Knopf des weissen Hemdes, zieht den einreihigen Waffenrock über. Er betrachtet sich im runden Spiegel über dem Waschbecken. Der Seitenscheitel sitzt. Das Kinn ist glatt, die Haut sieht gepflegt aus. Die neue Gibbs-Rasiercréme scheint ihr Versprechen zu halten. Nur die Narbe, die bringt er auch mit der teuersten Salbe nicht weg. Er streicht mit dem Finger über die Wulst, die sich entlang seines Kiefers bis zum Kinn zieht. Schön ist anders, aber immerhin verleiht sie ihm etwas Verwegenes.

      «Helden haben Narben», hat ihn die Mutter damals nach dem Velounfall getröstet. Und mit den feinen blonden Haaren, den blauen Augen und der schmalen Nase ist er trotz Narbe noch einigermassen ansehnlich. Emil reisst sich von seinem Spiegelbild los, überprüft den Sitz des Pistolenhalfters, greift nach der Ordonnanzmütze. Dann öffnet er die oberste Schublade der Kommode, nimmt eine Packung Zigaretten heraus, steckt sie in die Brusttasche. Muratti, Elli Altherrs Lieblingsmarke. Beim Gedanken an Fräulein Altherr muss er lächeln. Er verlässt das Zimmer, zieht die Tür hinter sich zu und nimmt beschwingt die Treppe nach unten.

      «Frühstück, junger Mann?» Seine Vermieterin, eine adrette Dame Ende fünfzig, streckt den Kopf aus der Küche im ersten Stock.

      «Nein danke, Frau Büelhof.»

      «Aber Sie können doch nicht mit leerem Magen aus dem Haus! Trinken Sie wenigstens eine Tasse Kaffee.» Fanny Büelhof hat drei Söhne grossgezogen, so leicht gibt sie nicht auf. Die Vermietung des Zimmers im obersten Stock war als Überbrückung gedacht, als die Wirtschaft nach der grossen Krise am Boden lag und die Leute sich keine neuen Möbel leisten konnten. Aber für Fanny Büelhof sind ihre Mieter mehr als eine Geldquelle, der eine oder andere ist ihr richtiggehend ans Herz gewachsen.

      «Ich bin spät dran.»

      «Dann nehmen Sie wenigstens ein Butterbrot mit.» Sie geht in die Küche, er hört, wie sie den Brotkasten öffnet. Emil weiss, wann Widerstand zwecklos ist. Er lehnt sich an den Türrahmen und wartet geduldig.

      Draussen atmet Emil die noch kühle Mailuft ein. Der Himmel ist bedeckt, es sieht nach Regen aus. Er eilt raschen Schrittes die Metzggasse entlang. Bevor er nach links in die Marktgasse abbiegt, ruht sein Blick einen Moment auf dem Ozeandampfer; so nennt er das Gebäude des Eisenwarengeschäftes Hasler. Im Gegensatz zu vielen Altstadtbewohnern gefällt ihm der schnörkellose, elegante Neubau mit seinem runden Bug und den langen Fensterbändern gut.

      Die Marktgasse ist noch ruhig um diese Uhrzeit, die Geschäfte sind geschlossen. Wie Emil sind einige andere Passanten auf dem Weg zur Arbeit. Ein Fuhrwerk liefert Waren aus, bei der Kreuzung zum Neumarkt lässt Emil einem Wagen den Vortritt. Vor dem Café Kränzlin bleibt er stehen, nimmt die Ordonnanzmütze vom Kopf, streicht seine Haare glatt. Er durchquert den Confiserie-Laden, geht ins Café dahinter. Es ist gut besucht, Geschäftsleute, Handwerker und Anwälte sitzen an den runden Tischchen, trinken den ersten Kaffee des Tages, tauschen sich über Neuigkeiten aus. Emil schaut sich um. Elli Altherr ist nicht zu sehen. Er ist enttäuscht. Vergangene Woche hat er es wegen seines Nachtdienstes nie ins Café geschafft; heute scheint sie verhindert. Nach ihrer letzten Unterhaltung hat er eigentlich fest mit ihr gerechnet.

      «Dann also bis am Montagmorgen in einer Woche, Herr Kern», hat sie gesagt und ihm zum Abschied die Hand gereicht. Die hat er ein wenig länger als üblich festgehalten.

      «Kern, hierher!» Emil wird aus seinen Gedanken gerissen, schaut in die Richtung, aus der der Ruf kommt.

      «Mist», flüstert er. Er geht zur Nische, in der sein Vorgesetzter, Leutnant Adolf Schäppi, auf einem gepolsterten Stuhl sitzt.

      «Herr Leutnant.» Emil grüsst und bleibt verunsichert stehen.

      «Was stehen Sie so herum? Müssten Sie nicht längst auf dem Posten sein, Kern?»

      «Ich …» Emil schaut verstohlen auf seine Uhr. «Ich dachte, ich habe noch eine halbe Stunde, Herr Leutnant.»

      «Ha, ha …» Schäppis massige Gestalt bebt vor Lachen. «Jetzt hätten Sie mal Ihr Gesicht sehen sollen, Kern.» Schäppi beisst von seinem Hefegebäck ab. «Natürlich haben Sie noch eine halbe Stunde. Dienstbeginn der Tagesschicht ist um acht.»

      Emil kennt seinen Vorgesetzten noch nicht lange genug, um auf solche Spässe zu reagieren. Erst seit knapp zwei Monaten ist er auf dem Posten der Kantonspolizei am Neumarkt stationiert. Vorher war er in Rafz. Er ist froh, von dort weg zu sein, er ist und bleibt ein Stadtjunge, und viel los war in Rafz auch nicht. Von Winterthur erhofft Emil sich mehr, auch wenn es im Vergleich zu seiner Heimatstadt Zürich recht provinziell daherkommt.

      «Nun setzen Sie sich Kern, setzen Sie sich schon.» Schäppi wedelt ungeduldig mit der Hand, schiebt sich den Rest des Gebäcks in den Mund.

      Emil faltet seinen langen Körper und nimmt Schäppi gegenüber Platz. «Einen Kafi Crème bitte», bestellt er bei der Bedienung.

      «Darf es auch etwas zu essen sein? Ein Canapé vielleicht?»

      Emil lehnt ab. Er muss sein Geld zusammenhalten; sein Lohn als Gefreiter ist nicht besonders hoch, und Quartiergeld erhält er als Unverheirateter auch nicht.

      «Sie sind wohl öfter hier.» Schäppi mustert Emil.

      Der zuckt mit den Schultern. «Ab und zu, wenn es der Dienstplan erlaubt. Ich wohne möbliert, ohne Küche.»

      «Können Sie nicht mit den Vermietern essen?»

      «Doch schon.» Das Fräulein stellt den Kaffee und das Rahmkännchen vor ihn hin. «Aber …» Emil lässt den Satz unvollendet und trinkt einen Schluck.

      «Verstehe. Manchmal muss ein junger Mann raus unter die Leute.» Schäppi streicht sich über den Schnurrbart. «Wie alt sind Sie gleich, Kern?»

      «Zweiunddreissig.»


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