Winterthur 1937. Eva Ashinze

Winterthur 1937 - Eva Ashinze


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Elli sich vor. «Danke», flüstert sie ihm ins Ohr. Ihr Haar kitzelt an seiner Wange, und er hat ihren Duft in der Nase; sie riecht nach einem blumigen Parfum und ganz leicht nach Zigarettenrauch.

      Als Emil schon einige Meter weiter ist, ruft Elli ihm hinterher: «Ich habe übrigens heute um sechs Uhr Feierabend.»

      3«War was los in der Nacht?» Emil setzt sich an den Schreibtisch, nimmt das Rapportbuch zur Hand.

      «Das Übliche. Eine Schlägerei mit Körperverletzung, zwei haben wir einkassiert, die hocken oben in der Arrestzelle.» Sein Kollege von der Nachtschicht kratzt sich gähnend am unrasierten Kinn.

      «Doppelbelegung?»

      «Dreifach. Wir platzen aus allen Nähten.»

      Emil nickt zustimmend. Er war ziemlich erschrocken, als er die beengten Verhältnisse im Bezirksgebäude kennengelernt hatte. Das Gefängnis – in Erinnerung an den ersten, wohl ziemlich gemütlichen Gefängnisdirektor auch Kafi Bänz genannt –, Bezirksanwaltschaft, Statthalteramt, Kantonspolizei, alles befindet sich unter einem Dach, was sicherlich Vorteile hat. Aber die Kapo hat nur drei Büroräume für insgesamt neun Mann plus Postenchef zur Verfügung. Der Schlafraum ist eine winzige Kammer, in die kaum zwei Betten passen.

      «Auf jeden Fall habe ich mehrere Stunden am Stück durchschlafen können», meint Widmer. «Mehr Schlaf, als ich momentan zu Hause bekomme.»

      Widmer ist vor Kurzem Vater geworden. Er beklagt sich zwar gern über die durchwachten Nächte, aber wenn er vom lauten Brüllorgan seines Sohnes berichtet, ist ihm der Vaterstolz nur zu gut anzumerken. Emil neidet ihm das Familienglück ein wenig, wenn er lange Abende allein in seinem Zimmer verbringt.

      «Heute früh war auch nichts?», hakt Emil nach. «Anscheinend ist rund um das Bürgerheim Brühlgut die Polizei im Einsatz.»

      «Hier ist nichts gemeldet worden.» Widmer zuckt mit den Schultern. «Sicher ein Fall für die Stapo.»

      «Sei froh, müssen wir nicht ausrücken.» Korporal Gottlieb Wunderlin betritt das Büro im Parterre des Gebäudes. Sein Uniformrock spannt über dem Bauch; ein Wunder, dass noch kein Knopf abgesprungen ist. Wie der ehemals fesche Polizeiaspirant Wunderlin in den Krisenjahren so massig werden konnte, fragen sich manche.

      «Ich habe lieber zu tun, als nur herumzuhocken», meint Emil. Seine Eltern waren beide Krampfer. Der Vater führte eine eigene Schreinerei mit Angestellten, die Mutter erledigte den Haushalt und die ganze Büroarbeit. Es wurde selten ausgeruht, ausser sonntags. Das hat auf Emil abgefärbt.

      «Hier, da hast du was zu tun.» Wunderlin wirft Emil den «Landboten» zu. «Lies und schweig.» Emil verdreht die Augen, macht sich dann aber an die Lektüre. Vielleicht erfährt er mehr über den gestrigen Skandal an der Zürcherstrasse. Tatsächlich, das muss ziemlich wild zu- und hergegangen sein in dem sonst so ruhigen Winterthur. Von Pfui- und Schmährufen gegenüber den Deutschen ist die Rede, gereckten Fäusten, Gespucke und Rotfront-Rufen. Und die Polize wird wegen fehlender Präsenz kritisiert. Emil denkt an die Szene im Café Kränzlin.

      «Kennst du einen Conrad Schwarz?», fragt er Wunderlin, der am Schreibtisch gegenüber sitzt. Wunderlin ist gebürtiger Winterthurer und seit Jahren auf dem Posten am Neumarkt stationiert, der weiss eine Menge.

      «Der Arzt?»

      Emil nickt.

      «Den kennt jeder. Er ist Anführer der lokalen Frontisten. Sitzt seit ’36 für die Nationale Front im Gemeinderat. Wahrscheinlich träumt er von einer Führungsposition, wenn wir erst einmal ein Gau des Deutschen Reiches sind.»

      «Ich kenne solche Typen von Rafz», meint Emil düster. «Die Nationale Front war da so beliebt wie nirgends sonst im Kanton. Je näher man zur Grenze kommt, desto brauner wird es.»

      Wunderlin nickt zustimmend. «Sie geben sich alle Mühe, sich als aufrechte Patrioten zu inszenieren. Aber ideologisch sind sie auf der gleichen Schiene wie die Nationalsozialisten. Marschieren mit Fackeln und Fahnen auf und beten Hitler nach.» Er verzieht verächtlich die Mundwinkel.

      «Himmelhergott noch mal, das kann doch nicht sein! Ihr wisst genau, dass das unsere Zuständigkeit ist», dringt da Adolf Schäppis Stimme in einem unangenehm lauten, krächzenden Ton durch die geschlossene Tür des Nebenzimmers.

      Wunderlin und Emil schauen sich an.

      «Der Chef eifert seinem deutschen Namensvetter nach», meint Wunderlin. Emil grinst.

      «Kennst du den schon», flüstert Wunderlin, während Schäppi im Büro nebenan noch immer telefoniert. «Durch Berlins Strassen läuft ein Betrunkener. ‹Erst komm ick und dann kommt Hitler, erst komm ick und dann kommt Hitler!›, lallt er ununterbrochen. Der Mann wird auf die Polizeiwache gebracht, lässt sich aber nicht beirren. Ein Polizist durchsucht seine Brieftasche, um den Namen festzustellen. Der Mann heisst: Heil.»

      «Verordnung … Stunden später … Mord …» Emil erhascht nur einzelne Gesprächsfetzen aus dem Büro des Leutnants.

      «Kapierst du nicht?», hakt Wunderlin nach, als Emil nicht auf den Witz reagiert. «Heil heisst er, wie ‹Heil Hitler›. Habe ich aus dem Nebelspalter.»

      «Wir haben vielleicht einen Mord!», ruft Emil aufgeregt. In seiner bisherigen Laufbahn hat Emil erst einmal mit einer Mordermittlung zu tun gehabt, das war noch in seiner Zeit als Rekrut im Büro des Bezirksanwalts in Zürich. Wunderlin seufzt angewidert. Emil wirft dem älteren und höher dekorierten Kollegen einen scheelen Blick zu. Wie der es zum Korporal geschafft hat, ist ihm schleierhaft. Klug ist er ohne Frage. Aber er macht keinen besonders tüchtigen Eindruck, trinkt gern einen über den Durst. Emil hat andere Pläne: Korporal, dann Wachtmeister und irgendwann einen eigenen Posten übernehmen.

      Die Verbindungstür wird aufgerissen, Schäppi erscheint im Türrahmen. Er hat nichts mehr von der jovialen Geselligkeit an sich, die er Emil gegenüber im Café Kränzlin gezeigt hat. «Wunderlin, Kern – sofort ausrücken. Und holt Hess vom Erkennungsdienst dazu. Ein Toter im Park des Bürgerheims Brühlgut – Sie wissen schon, das Pfrundheim draussen an der Zürcherstrasse. Ob Unfall, Totschlag oder Mord ist unklar. Die Stapo ist bereits vor Ort; die haben wieder mal die Zuständigkeiten nicht beachtet.»

      «Was ist mit mir?» Widmer hat seine Tasche mit den Übernachtungsutensilien aus dem Nachtquartier geholt.

      «Ihre Schicht ist zu Ende, Widmer. Gehen Sie nach Hause zu Ihrer Familie, ruhen Sie sich aus. Wenn es sich tatsächlich um Mord handelt, ist in den nächsten Tagen nichts mit geregelten Arbeitszeiten.» Er klopft Emil auf die Schulter. «Das ist Ihre Chance, Kern.» Schäppi macht rechtsumkehrt, geht zurück in sein Büro.

      «Ich sag Hess Bescheid», meint Emil. Widmer schaut finster, murmelt etwas von ungerecht.

      «Sei froh», blafft Wunderlin. «Mordermittlungen sind kein Spaziergang.»

      Die Verbindungstür öffnet sich ein zweites Mal. «Der Tote ist wohl Deutscher. So viel haben die Kollegen von der Stapo schon herausbekommen. Gestern die Ausschreitungen gegen die Deutschen, heute ein toter Deutscher.» Schäppi schüttelt das kahle Haupt. «Ich hoffe, da gibt es keinen Zusammenhang. Auf jeden Fall ist saubere Arbeit gefragt, verstanden?»

      Emil und Wunderlin nicken unisono.

      «Berichterstattung ist um zwei.» Mit diesen Worten verschwindet Schäppi definitiv in seinem Büro.

      4«Na, ausgeschlafen?»

      Emil ignoriert den Kollegen von der Stapo, steigt vom Velo und stellt es an den Wegrand. Wunderlin ist am Eingang zum Park des Bürgerheims abgestiegen, stösst das Velo mit gerötetem Kopf über den Kiesweg. Hinter ihm taucht auch schon Hess auf, den Untersuchungskoffer in der Hand.

      Wunderlin parkiert sein Velo, wischt sich mit einem Taschentuch den Schweiss von der Stirn und nimmt die Fotoausrüstung zur Hand, die er transportiert hat. «Genug amüsiert?», fragt er den Stadtpolizisten, der das Trio feixend betrachtet. «Ich glaube, wir kennen uns. Gefreiter Stäubli, korrekt?»

      Stäubli


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