Winterthur 1937. Eva Ashinze

Winterthur 1937 - Eva Ashinze


Скачать книгу

      «Gibt es denn da jemanden?»

      «Ich … ich weiss nicht», stottert Emil.

      «Ich sag Ihnen was, Kern.» Schäppi beugt sich vor. «Erst einmal konzentrieren Sie sich auf die Arbeit. Sie sind clever und fleissig. Ihre Jahre als Gefreiter haben Sie bald beisammen. Bei den nächsten Ernennungen zum Korporal haben Sie gute Chancen. Danach heiraten Sie, gründen eine Familie. Alleinstehende werden auf hohen Posten nicht gern gesehen.»

      Emil nickt und glüht innerlich vor Stolz. Die gelbe Korporalschnur ist in Griffweite. Er wird dem Korpskommandanten Hauptmann Müller in Zürich beweisen, dass er das Zeug für eine Polizeilaufbahn hat.

      «Ohne Frau wäre ich verloren, Kern. Verloren. Sehen Sie mich an. Meine Frau ist für ein paar Tage bei ihren Eltern, und schon sitze ich morgens im Café. Zu Hause allein Kaffee trinken, das ist nichts für mich. Der Mensch braucht Gesellschaft, Kern. Der Mensch braucht einen Gefährten.»

      Emil hat plötzlich das Bild seines Vaters vor Augen, wie er in der dämmrigen Küche allein am Tisch sitzt, eine Suppe löffelt. Er muss leer schlucken. «Sie haben recht», sagt er. «Der Mensch ist nicht zum Alleinsein geboren. Ich …»

      «Adolf, auch hier?» Ein schlanker Endfünfziger in elegantem grauem Anzug, ein farblich passendes Einstecktuch in der Brusttasche, viel Pomade im dunklen Haar, ist neben dem Tisch stehen geblieben.

      «Conrad.» Schäppi nickt grüssend.

      «Hast du das gelesen?» Conrad Schwarz nimmt das Neue Winterthurer Tagblatt, das er unter den Arm geklemmt hat, zur Hand und liest vor. «Ein Skandal. Gestern fand in Zürich das Fussballländerspiel Deutschland-Schweiz statt. Es war seit vier Jahren die erste deutsch-schweizerische Begegnung in Zürich und eine sportliche Veranstaltung erster Ordnung: Mehrere zehntausend Zuschauer umsäumten den grünen Rasen, darunter ein Drittel deutsche Gäste. Sie waren auf der Zürcherstrasse, als …»

      «Kenn ich», unterbricht ihn Schäppi. «Du kannst aufhören.»

      «Angefangen hat es bei der ‹Krone› in Töss, das Auspfeiffen der Deutschen, als sie abends nach sechs Uhr in ihren vielen Gesellschaftswagen von Zürich her kamen», liest Schwarz unbeirrt weiter. «Es fielen auch zahlreiche beleidigende Zurufe, geballte Fäuste wurden gereckt. Den Fahrgästen wurden Fähnchen aus der Hand gerissen und zerfetzt. Am unrühmlichsten aber war die Rolle der Polizei. Der ganze Skandal spielte sich unter ihren Augen ab, …»

      «Ich habe gesagt, du kannst aufhören», sagt Schäppi aufgebracht.

      «Kommt nicht gut weg, die Polizei.» Schwarz steckt sich eine Brissago in den Mund. «Anscheinend haben die sogenannten Freunde und Helfer tatenlos zugesehen, als die Roten aus Töss unsere deutschen Gäste angepöbelt und beleidigt haben.»

      «Das ist eine Angelegenheit der Stadtpolizei.» Schäppi wischt einen imaginären Krümel von seinem Hemd.

      «Es geht ums Prinzip, Adolf. Es kann nicht sein, dass die Polizei die sozialistischen Lausebengel schalten und walten lässt.»

      «So ist es nicht, Conrad, und das weisst du. Ich sage nur Tössemer Krawall. Da habt ihr Frontisten mit eurer demonstrativ in Töss durchgeführten Generalsversammlung die Arbeiter provoziert. Die Polizei musste euch da rausholen.»

      Schwarz’ Miene verfinstert sich. «Ich wurde damals schwer verletzt, vergiss das bitte nicht. Die Roten haben mich beinahe umgebracht.»

      Schäppi seufzt unhörbar, wendet sich Emil zu, der dem Wortwechsel stumm gefolgt ist. «Kern, das ist Doktor Schwarz, Arzt und Ortsgruppenleiter der Nationalen Front. Conrad, das ist Emil Kern, seit Kurzem am Neumarkt stationierter Gefreiter. Doktor Schwarz und ich kennen uns von der Vitodurania. Das ist die Mittelschulverbindung hier in Winterthur», schiebt er auf Emils fragenden Blick erklärend nach. «Schwarz ist politisch aktiv und mischt sich gern in diverse Angelegenheiten ein, unter anderem auch in polizeiliche. Nicht wahr, Conrad?»

      Schwarz ignoriert die Spitze. «Ich mache, was notwendig ist, damit unser Land eine blühende Zukunft hat. Und wenn die Polizei nicht für Ordnung sorgt, wird der grosse Nachbar im Norden den roten Lümmeln irgendwann mit Granaten den nötigen Anstand beibringen.»

      Schäppi nickt ergeben, erhebt sich. «Wir müssen los.»

      «Wir sehen uns. Adolf. Herr Kern.» Conrad tippt grüssend an seine Stirn.

      Schäppi strebt dem Ausgang zu. Emil greift sich seine Ordonnanz-Mütze, folgt ihm, eilt dann an ihm vorbei und hält die Tür auf.

      «Ich weiss nicht, wie Sie es mit der Politik halten, Kern», knurrt Schäppi, während er seinen Uniformrock zuknöpft. «Ich bin wahrlich kein Linker, Gott bewahre. Aber mit den Frontisten habe ich es auch nicht. Blühende Zukunft für unser Land, bah. Das glaubt denen mittlerweile auch niemand mehr.» Er schnaubt abfällig. «Frontisten, Faschisten, Nationalsozialisten – die sind doch alle aus dem gleich faulen Holz geschnitzt. Aber Schwarz’ Familie besitzt eine grosse Textilfabrik, schafft Arbeitsplätze, hat Verbindungen. Man will es sich mit ihr nicht verderben.»

      Emil tritt hinter seinem Vorgesetzten auf die Strasse, bleibt abrupt stehen.

      «Herr Kern! Wie gut, dass ich Sie noch erwische.» Eine junge Frau eilt herbei. Ihre Wangen sind gerötet, braune Locken umgeben das Gesicht mit den grossen, ausdrucksvollen Augen. Sie bleibt dicht vor Emil stehen.

      «Fräulein Altherr!» Emil kann seine Freude nicht verbergen. «Ich dachte schon, Sie kämen nicht mehr.»

      Schäppi, der ein paar Schritte voraus ist, räuspert sich vernehmlich. «Ich geh schon mal vor, Kern. Fünf Minuten!» Ohne eine Antwort abzuwarten, marschiert er davon. Emil folgt der untersetzten Gestalt einen Moment mit den Augen und schaut dann wieder Elli an.

      «Meine Schicht beginnt auch gleich», meint diese. «Begleiten Sie mich zur Post?»

      Emil ist es nicht gewohnt, in weiblicher Gesellschaft unterwegs zu sein. Soll er Elli seinen Arm anbieten? Oder ist das zu forsch? Sie nimmt ihm die Entscheidung ab und hakt sich bei ihm unter.

      «Bei uns in Töss war gestern der Teufel los, das haben Sie wohl mitbekommen.» Das hat Emil nicht, aber dank diesem Doktor Schwarz weiss er, dass es einen Aufruhr gegeben hat. Er nickt wissend. Sie schlendern am Restaurant Gotthard vorbei, dem Flaggschiff der Brauerei Hürlimann. Ein Tram kommt quietschend um die Kurve, hält an, Menschen auf dem Weg zur Arbeit strömen auf den Bahnhofplatz.

      «So etwas habe ich noch nie erlebt. Hunderte, nein Tausende von Autos, so viele Menschen! Die Tössemer haben gegen die deutschen Faschisten demonstriert, die aus ihren Autos heraus heilhitlerten. Heute Morgen ging es gleich weiter. Rund um das Bürgerheim Brühlgut ist die Polizei unterwegs. Und dann gab es auch noch eine technische Störung am Tram, deswegen bin ich so spät gekommen. Man könnte meinen, es sei Vollmond.» Elli neigt den Kopf ein wenig zur Seite, lächelt ihn spitzbübisch an. Emil lächelt zurück, mustert sie. Sie ist nicht schön im eigentlichen Sinn, dafür ist ihre Stirn zu hoch und das Kinn zu eckig. Trotzdem hat sie es ihm angetan. Sie ist selbstbewusst und warmherzig und hat eine Leichtigkeit an sich, die ihm abgeht. Irgendwie erinnert sie ihn an seine Mutter, auch wenn diese Erinnerungen schon sehr verblasst sind.

      «Schön, dass wir uns heute trotz allem noch sehen.»

      «Leider sind wir schon da.» Elli deutet auf das mächtige Gebäude der Post, wo sie als Telefonistin auf Abruf arbeitet. Daneben versucht sie sich als Journalistin, schreibt sozialpolitische Artikel, die sie an Zeitungen und Zeitschriften sendet, meist erfolglos. Man hat ihr geraten, sich auf Frauenthemen wie Haushalt und Kindererziehung zu spezialisieren, aber das ist nicht das, was ihr vorschwebt, so viel hat Emil bereits mitbekommen. «Und die fünf Minuten sind auch beinahe um. Sie müssen sich beeilen, um rechtzeitig am Neumarkt zu sein.»

      «Ich habe etwas für Sie.» Emil kramt in seiner Tasche, dann drückt er ihr das Päckchen Muratti in die Hand. «Die mögen Sie doch so gern.»

      «Ach, Herr Kern. Die sind furchtbar teuer.» In ihrer Stimme schwingt sowohl Freude als auch Unbehagen mit. «Sie sollen für mich nicht so viel Geld ausgeben.»


Скачать книгу