Political Scholar. Alfons Söllner

Political Scholar - Alfons Söllner


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die den zwölf Essays einen neuen und gemeinsamen Charakter verleiht. Sie sind zu verschiedenen Anlässen und oft sogar beiläufig entstanden: als Vortrag auf einer Konferenz, als Beitrag zu einem Lexikon oder als nur mehr privat motivierte Reflexion. Sie folgen keiner einheitlichen Darstellungsweise, sondern variieren die Form der ideengeschichtlichen Portraitskizze. Dennoch ist aus ihrer thematischen Ordnung und ihrer Zusammenstellung zu den vier Kapiteln so etwas wie ein historisches Mosaik entstanden, das der unübersichtlichen Intellektuellengeschichte des 20. Jahrhunderts eine erhellende Perspektive hinzufügt.

      Die Anregung zu diesem Buch stammt von Irmela und Axel Rütters, bei der Erstellung des Druckformats hat mir Mareike Fricke tatkräftig geholfen. Die im Anhang aufgeführten Verlage haben mir durch ihre zuständigen Lektoren freundlicherweise die Nachdruckerlaubnis erteilt. Ihnen allen möchte ich einen herzlichen Dank aussprechen.

       I. Ursprünge: Religion und Politik in der Weimarer Republik

       „Angelus Novus“ – Ein Versuch über „Benjamins Politik“

      „Walter Benjamins ,Angelus Novus‘“ – das war für mich lange Zeit nur mehr ein politischer Erinnerungsrest aus der Dämmerung der Studentenbewegung. Doch als ich vor einigen Jahren zum Kongress der Internationalen Walter-Benjamin-Gesellschaft in Frankfurt1 eingeladen war, machte ich die ziemlich deprimierende Erfahrung einer Insider-Gemeinde aus theologisch interessierten Jungakademikern, emeritierten Salonmarxisten und immerhin neugierigen Philosophiestudierenden. Und als ich mich davon durch den Blick in die Benjamin-Literatur etwas erholen wollte, fand ich mich schnell in einem wahren Labyrinth wieder. Ich sah mich konfrontiert mit einer hochtourigen akademischen Deutungsindustrie, die bereits mehrere Konjunkturen durchlaufen hatte und zuletzt, im Zuge der kulturwissenschaftlichen Institutionalisierung des postmodernen Zeitgeistes sogar in eine Schleife der Repolitisierung eingetreten war.

      Ist der „Angelus Novus“ zu einer Ikone geworden, die aus einem jüdischen Intellektuellenschicksal der Zwischenkriegszeit den Mut der Verzweiflung schöpft und daraus akademisches Kapital für die Gegenwart schlagen will – oder taugt er auch als Überbringer von Lichtblicken? Gibt es einen Ariadnefaden, der wenigstens aus dem Labyrinth der Benjamin-Literatur herausführt? Ich vermute ihn in der Suche nach möglichen Alternativen zu der geschichtsphilosophischen Grundierung, die Benjamins Denken damals geprägt hat und die es heute – vielleicht aus anderen Gründen – so unwiderstehlich wie missverständlich macht. Diese Suche wird freilich nur dann erfolgreich sein, wenn man sich eingesteht, dass Benjamins Denken selber nichts weniger als ein Labyrinth war, so unheimlich, dass vielleicht nur kritische Engelsgeduld aus dem herausführt, was man „Benjamins Politik“ nennen könnte.

       Konjunkturen der Benjamin-Rezeption

      Man kann die mittlerweile unüberschaubare Wirkungsgeschichte Benjamins kaum aus der Eindeutigkeit eines Flüchtlingsschicksals erklären, das durch einen selbstmörderischen Kurzschluss an der Grenze nach Spanien sein Ende fand und über dessen Symbolkraft natürlich kein Zweifel besteht. Offensichtlich war es aber neben der disziplinären Fülle und der programmatischen Multimedialität seines Werks auch eine fundamentale Zweideutigkeit, die dem Faszinosum Benjamin immer neue Nahrung zugeführt hat. Im Zentrum von Benjamins Leben und Schaffen stand, so werde ich im Folgenden behaupten und mich dabei der Blickbeschränkung des politischen Ideenhistorikers schuldig machen, eine philosophische Auffassung von Geschichte, die sich zwischen Marxismus und Theologie nicht entscheiden konnte und deren Aufklärungspotential sich – möglicherweise deswegen – in der Zwischenkriegszeit bereits erschöpft hatte. Dass er den analogen Widerspruch zwischen politischem Handlungswillen und messianischer Heilserwartung auch nicht lösen wollte, ist eine Behauptung, die vor einem auf der Hut sein muss: vor dem Zynismus des Überlebens, der zu verkennen droht, wie dicht das jüdische Exil gerade in seiner französischen Endphase vor dem Holocaust zu stehen kam.

      Kristallisiert findet sich diese verzweifelte Konstellation bekanntlich an exponierter Stelle, in den berühmten Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ von 1940, die Benjamins letzte Aufzeichnungen waren.2 Sie sind sein Testament geworden und ein Schlüssel für seine Wirkungsgeschichte. In diesen Thesen wiederum, die Benjamin Gretel Adorno mit dem ihm eigenen Charme als einen „auf nachdenklichen Spaziergängen eingesammelten Strauss flüsternder Gräser“ ankündigte, aber ausdrücklich nicht publiziert haben wollte, weil sie „dem enthusiastischen Missverständnis Tor und Tür öffnen würden“, 3 findet sich unter der Ziffer Neun der einigermaßen rätselhafte Passus, in dem Benjamin den „Angelus Novus“ von Paul Klee als Vorlage nimmt, um seine Auffassung von Geschichte in einer Allegorie zu verdichten. So wurde aus einer Zeichnung, die Benjamin im Jahr 1921 selber erworben und seitdem auf allen weiteren Lebensstationen mit sich geführt hatte, der „Engel der Geschichte“.

      Die Deutungen dieses Denkbildes sind Legion. Dennoch gibt es – offen oder verschwiegen – einen Konsens, der sich als eine Art Generalklausel für die Interpretation der „Thesen“ festgesetzt hat. Danach steht der „Angelus Novus“ nicht nur für eine Kritik der Fortschrittsidee, die von Benjamin mit dem sozialdemokratischen Reformglauben und der Kontinuitätsvorstellung des Historismus identifiziert wird, sondern verkörpert ein katastrophisches Geschichtsbild: Die Apokalypse ist bereits eingetreten; denn in den schreckensgeweiteten Augen der Engelsfigur stellt sich die Geschichte insgesamt als eine einzige Serie von Katastrophen dar. Zwar beschwört der Text an anderer Stelle eine Gegenkraft, ein „Katechon“, könnte man in theologischer Terminologie sagen, nämlich den revolutionären Kampf des Proletariats und die dazugehörige Theorie des historischen Materialismus. Aber dessen Aussichten bestehen eigentlich nur in der pathetischen Beschwörung eines wenig konkreten „Ausnahmezustandes“, der in der „messianischen Stillstellung des Geschehens […] eine revolutionäre Chance im Kampf für die unterdrückte Vergangenheit“ sucht, aber sich des Sieges ebenso wenig sicher sein kann wie des Zieles. Zwar gibt es eine „messianische Kraft“ in der Geschichte, aber sie ist schwach und nur „als Splitter in die revolutionäre Jetztzeit eingesprengt“, ebenso wie dem historischen Materialismus auch durch die Theologie nicht mehr auf die Beine zu helfen ist; denn die ist „heute bekanntlich klein und hässlich und darf sich ohnehin nicht mehr blicken lassen“.4

      So unwiderstehlich die in diesen Formulierungen wirksame Strahlkraft war, so verschieden gestaltete sich ihre Brechung in den drei Phasen der Benjamin-Rezeption, die sich mittlerweile unterscheiden lassen: Für die Ausgangslage, sozusagen die heroische Phase geht man nicht fehl, wenn man die posthume Wirkung Benjamins durch den erbitterten Erbschaftsstreit zwischen Adorno einerseits und Hannah Arendt andererseits charakterisiert, sekundiert und schließlich in gewisser Weise geschlichtet durch die biographischen Interventionen von Gershom Scholem, des engsten der Freunde von Walter Benjamin. Spielte hier der „Angelus Novus“ eine Art Vermittlerrolle, die sich dann nicht zufällig in der Titelgebung für den zweiten Band der deutschen Erstausgabe niederschlug,5 so setzte in der zweiten Phase der Benjamin-Rezeption eine forcierte Politisierung ein. Jetzt tritt die marxistische Seite an Benjamins Geschichtsauffassung hervor, die nicht in der Engelsgestalt selber, aber in anderen – und durchaus gewichtigen Passagen der „Geschichtsphilosophischen Thesen“ greifbar ist und in der Regel auf den Einfluss von Bertolt Brecht und der Lettin Asja Lacis zurückgeführt wird.

      In einer dritten Phase schließlich, die durch die kritische Gesamtausgabe und eine immer detailliertere Werkphilologie geprägt ist, zeigt sich eine Entwicklung, die nichts weniger als ein Paradox darstellt, jedenfalls wenn man an Benjamins eigene Auffassung des „dialektischen Bildes“ zurückdenkt, deren vielleicht eindrucksvollste Verkörperung eben der „Engel der Geschichte“ selber ist: Waren die „Geschichtsphilosophischen Thesen“ mit „Jetztzeit“ aufgeladen, d. h. auf die Aktualität des antifaschistischen Kampfes zu Beginn des Zweiten Weltkrieges hin geschrieben, so ergab sich aus der Logik der akademischen Rezeption eine Kanonisierung, die eine beinahe unendliche Differenzierung nach innen mit einer zunehmenden Glättung der Außenwirkung erkaufte. So ist es kein Zufall, dass die vielbändige und jetzt abgeschlossene „Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur“ ein eigenes und sogar ausführliches Stichwort „Angelus Novus“ aufführt,6 ebenso wie den Autoren des voluminösen Benjamin-Handbuchs


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