Political Scholar. Alfons Söllner
müßig sein. War es nicht gerade seine Bereitschaft, die widersprüchlichsten Impulse aufzunehmen und zu neuen Synthesen zu bringen, seine Fähigkeit, hochabstrakte und wenig greifbare und in dem Sinne „irrationale“ Denkmotive zusammenzuführen, woraus sich die schier unerschöpfliche Fülle seiner intellektuellen Produktion und vor allem ihre atemberaubende Dynamik ergab? Die Rückbindung seines Denkens an theologische Motive, der vom Anfang bis zum Ende durchgehaltene Bezug auf ein messianisches Ende der Geschichte gehörte dazu ebenso wie die Orientierung an einem paradoxen Motto wie dem Satz von Karl Kraus: „Ursprung ist das Ziel!“ Dennoch gibt es im Geschichtsdenken von Walter Benjamin problematische Ambivalenzen und Indifferenzen, die auch in den „Thesen zum Begriff der Geschichte“ nicht etwa gelöst sind, sondern verstärkt wiederkehren. In der Tat ist gerade für die geschichtsphilosophische Grundierung von „Benjamins Politik“ eine hohe Kontinuität zwischen Anfang und Ende der sog. Zwischenkriegszeit anzunehmen.
Vielleicht kommt man in der Auseinandersetzung mit Benjamins Geschichtsphilosophie am besten voran, wenn man sie in den Horizont der frühen Weimarer Republik rückt und dort den Vergleich mit anderen, ähnlich gelagerten Problemstellungen sucht. Tatsächlich wird man da rasch fündig, war doch der religionsphilosophische „Diskurs“, wie man das heute nennt, nicht nur weit verbreitet, sondern im jüdischen Milieu geradezu konzentriert. Dazu gehört die religionsphilosophische Wendung, die der führende Vertreter des Neukantianismus, Hermann Cohen mit seiner nachgelassenen „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“ macht,28 ebenso wie Franz Rosenzweigs fulminanter „Stern der Erlösung“ 29 oder selbst Ernst Blochs „Geist der Utopie“,30 sofern man sich an seine theologischen Untertöne hält. Ihnen allen liegt neben einer schmerzlichen Krisenempfindung das starke Verlangen zugrunde, aus dem „Tal der Tränen“ in eine lichtere Zukunft zu blicken, und welche Denkfigur konnte sich dafür besser eignen als eine Geschichtskonstruktion, die auf das Kommen des Messias hoffte.
Ein bislang wenig beachteter Repräsentant dieser Tendenz zu einer jüdischen Geschichtsphilosophie ist Leo Löwenthal, der später als Literatursoziologe der sog. Frankfurter Schule Karriere gemacht hat. Er empfiehlt sich als Vergleichsfigur zu Walter Benjamin zunächst aus einem biographischen Zufall: Benjamin wohnte nämlich in eben dem kritischen Sommer, in dem der „Angelus Novus“ in sein Leben eintrat, für ein paar Wochen in Löwenthals Heidelberger „Studentenbude“31, dort konzipierte er sein Zeitschriftenprojekt und wartete auf die Publikation der „Kritik der Gewalt“. Während Benjamin in der Folgezeit hauptsächlich an seinem Goethe-Essay arbeitete, kam Löwenthal in der Festschrift für den Frankfurter Rabbiner Nehemias Nobel mit seiner ersten Publikation heraus, die unter dem Titel „Das Dämonische“ den ziemlich abenteuerlichen Entwurf einer messianischen Geschichtsspekulation vorlegte.32 1923 besann er sich dann auf einen akademischen Abschluss und promovierte an der Universität Frankfurt mit einer Arbeit über Franz von Baader, die das Kunststück fertigbrachte, aus einem katholisch-restaurativen Ordnungsdenken den Funken einer kritischen Religionssoziologie zu schlagen, die sich der „sozialen Frage“ nicht verweigerte – und er konnte dies mittels einer rationalen Rekonstruktion, die noch den „theologischsten“ Elementen von Baaders System einen diskursiven Sinn abzugewinnen verstand.33
Wirklich interessant wird es, wenn man Löwenthals weiteren Denkweg in die 1920er Jahre hinein verfolgt: Nach einer Phase des sozialen Engagements für ostjüdische Emigranten verfasste er nämlich 1926 eine Staatsexamensarbeit für den Preußischen Gymnasialdienst, die sich genau demselben Thema wie Benjamins „Kritik der Gewalt“ stellte, es aber auf eine ganz andere Art zu bearbeiten wusste: „Gewalt und Recht in der Staats- und Rechtsphilosophie Rousseaus und der deutschen idealistischen Philosophie“ – so der lange Titel – ist eine knappe, aber höchst instruktive Abhandlung, die von einer soliden Bestandsaufnahme der rechtsphilosophischen Debatte ausgeht, sodann aus dem Rousseau’schen Freiheitsgedanken eine vertragstheoretische Begründung des Staates entwickelt, in der das Recht die zentrale Instanz darstellt. Die Schlussfolgerung ist ganz eindeutig, aber geradezu konträr zu Benjamin: „Gewalt begründet nie Recht; rechtsbegründende Gewalt ist eine contradictio in adjecto“ – und umgekehrt: „Recht allein kann Gewalt begründen.“34
Dieser Grundsatz, der dann über Kant und Fichte fortgeführt und modifiziert wird, bedeutet keineswegs die umstandslose Anerkennung aller positiven oder historischen Rechtssetzungen, ganz im Gegenteil: Er dient zu deren Kritik. Dennoch geht die Rechnung nicht in einer einfachen, d. h. idealistischen Vorstellung vom Fortschritt des Menschengeschlechts mittels Freiheit und Recht auf. Löwenthal verweist sowohl auf Goethe als auch auf Marx als kritische Instanzen für den Verlauf der bürgerlichen Gesellschaft und kommt am Ende doch ohne messianische Heilserwartung nicht aus, die in der „Ahnung von einem völlig gewaltfreien Zustand“ besteht.35 Löwenthals letzter Satz liest sich fast wie ein wörtliches Zitat aus Benjamins dämonischer Reduktion des Rechts auf den Mythos: „Die Geschichte der Korrelation ,Gewalt und Recht‘ von Rousseau bis Fichte ist zugleich die Geschichte der immer anwachsenden Aktualisierung der rechtsphilosophischen Probleme.“36 Aber nicht Benjamins apokalyptische Vision ist damit gemeint, vielmehr hatte er dessen Versuch, dem „Problem mit messianischen Kategorien beizukommen“, schon in der Einleitung mit der ironischem Bemerkung beiseitegeschoben, dass sie „etwas gewalttätig“ sei.37
Sieht man sich die Schriften an, mit denen sich Walter Benjamin akademisch qualifiziert hat oder qualifizieren wollte und von denen die „Kritik der Gewalt“ gleichsam eingerahmt wird: die Dissertation zur Romantik (1919/20)38 und die (abgelehnte) Habilitationsschrift über das barocke Trauerspiel (1925),39 so fällt schon von den Themen her auf, dass genau die geistesgeschichtliche Epoche ausgespart ist, von der her Löwenthal seine rechtsphilosophische Fragestellung entwickelt: die Aufklärung, ihre radikale französische Variante zumal. Das mag dazu beigetragen haben, dass sein religionsphilosophischer Diskurs gewissermaßen den Weg der „Säkularisierung“ einschlagen konnte und schließlich in die Bahn einer „kritischen Theorie der Gesellschaft“ einmündete. Benjamin hingegen ging einen ganz anderen Weg, der sich der Faszination der Ästhetik und parallel dazu der ästhetischen Moderne auslieferte, aber auf dem Gebiet von Politik und Gesellschaft wenig wissenschaftlichen Ehrgeiz entwickelte. Dass er dennoch ein „politischer Autor“ wurde, steht außer Zweifel, besonders in den Pariser Jahren nach 1933 wird die Politik zur entscheidenden Schubkraft. Was aber die spätere Entwicklung der Frankfurter Schule betrifft, ist ebenso wenig zweifelhaft, dass ohne Benjamins „Geschichtsphilosophische Thesen“ Horkheimer und Adorno die „Dialektik der Aufklärung“ nicht hätten schreiben können.
Paul Klees „Angelologie“
Folgt man der Spur, die Paul Klees „Angelus Novus“ durch Leben und Werk von Walter Benjamin zieht, so ist eine gewisse Verdunkelung, eine schicksalhafte Verwicklung nicht zu übersehen: Die freundlich-ironische Intonation des Anfangs wird Schritt für Schritt überlagert von persönlichen Enttäuschungen und beruflichen Misserfolgen bis hin zur erzwungenen Flucht aus Hitler-Deutschland, den Entbehrungen im Pariser Exil und schließlich dem Endpunkt, wie er tragischer nicht sein konnte: Das Bild, das ihn seit 1921 begleitet hatte, das alle Umzüge miterlebt hatte, musste von seinem Besitzer im Sommer 1940 aus dem Rahmen geschnitten und von Georges Bataille in der Bibliotheque Nationale vor dem Zugriff der Nazis versteckt werden. Und während die mit ihm verwobenen „Geschichtsphilosophischen Thesen“ noch von Benjamin selber auf den Weg in die Freiheit gebracht wurden, nahm sich ihr Verfasser das Leben, kurz bevor er die rettende Grenze nach Spanien hätte überschreiten können. Wenn die Formulierung nicht zynisch klänge, könnte man von einer tragischen Mimesis sprechen, die sich in dieser Beziehungsgeschichte ereignete. Dass sie hochproduktiv war, bedeutet keinerlei Trost: Der „Angelus Novus“ wurde tatsächlich zum Boten des Untergangs.
Gibt es einen Ausweg aus dem Sog, der in dieser Assoziationskette steckt? Er könnte greifbar werden, wenn man den „Angelus Novus“ in den Kontext des originären Schaffensprozesses stellt, aus dem er als Bildkunstwerk hervorgegangen ist. Offensichtlich gibt es eine ganze Reihe von Parallelen zwischen Benjamin und dem Maler und Zeichner Paul Klee – sie reichen von der Prägung durch das bürgerliche Herkunftsmilieu und die Erfahrung von Diskriminierung und Exil über ein mehr oder weniger hintergründiges Interesse an religiösen und theologischen Motiven