Political Scholar. Alfons Söllner
Gedächtniskultur? Und sein „Angelus Novus“ als Ikone einer weihevollen Verehrung, die längst internationale Ausstrahlung erreicht hat? In der Tat möchte man fragen, ob nicht mittels der hochgehängten Figur Walter Benjamins so etwas wie ein korrekt-linkes Geschichtsbild festgeschrieben zu werden droht, ob im „Angelus Novus“ nicht zum Erinnerungsbild erstarrt ist, was am wenigsten der intellektuellen Intention entsprach, die Benjamin 1940 mit ihm im Sinn hatte. Wenn der „Angelus Novus“ tatsächlich zur Ikone geworden ist – muss sie nicht entsakralisiert, in Benjamins Worten „entauratisiert“ werden? Diese Frage gewinnt in jüngster Zeit an Dringlichkeit, weil sich im Zuge der postmodernen Benjamin-Lektüre eine erneute Politisierung abzeichnet, die zuerst über Jacques Derrida vermittelt und dann durch den italienischen Philosophen Giorgio Agamben zur Mode geworden ist.8
Auffällige Merkmale dieser Reaktualisierung sind ihre dezidiert internationale Ausrichtung, die Gleichzeitigkeit mit dem Aufkommen der militanten globalisierungskritischen Bewegungen sowie eine hohe Internetpräsenz des damit verbundenen Diskurses, die heute als besonders sensibler Seismograph für die Veränderungen des politischen Bewusstseins zu gelten hat. Noch auffälliger aber und eine signifikante Verschiebung des Blicks auf Walter Benjamin ist die penetrante Fixierung auf das Problem der Gewalt, was sich nicht zuletzt darin ausdrückt, dass Walter Benjamin regelmäßig als eine Art intellektueller Zwillingsbruder von Carl Schmitt figuriert. Die politische Gegenwart erscheint als die Wiederholung der „geistesgeschichtlichen Lage“ der Weimarer Republik, genauso düster und ähnlich krisensüchtig, nur eben globalisiert. Der dazu passende Text stammt nicht mehr aus den Thesen von 1940, sondern findet sich in Benjamins „Kritik der Gewalt“ von 1921, der einzigen längeren Abhandlung zur Politik, die er geschrieben hat.9
Gershom Scholem – Fürsprecher des „Angelus Novus“
„Wenn man von einem Genius Walter Benjamins sprechen darf, so war er in diesem Engel konzentriert, und in dessen saturnischem Lichte verlief Benjamins Leben selber, das auch nur aus ,Siegen im Kleinen‘ und ,Niederlagen im Großen‘ bestand […].“10 Was die Stellung von Klees Engelsbild in Benjamins Lebensgeschichte betrifft, so ist Gershom Scholem die nicht zu übertreffende Informationsquelle, er ist zugleich die maßgebliche Interpretationsautorität vor allem für den jüdisch-theologischen Resonanzraum seines Werks. Scholem hat Benjamins Werdegang bis zu seiner Emigration nach Palästina aus größter Nähe begleitet, er blieb mit ihm in intensivem Briefwechsel über alle Stationen der Wanderjahre vor und nach 1933 ebenso verbunden, wie er den Kontakt in der späteren Pariser Zeit nicht abreißen ließ, auch wenn ihn jetzt Benjamins Sympathien zu kommunistischen Intellektuellen zunehmend irritierten.
Vielleicht wird man der ganz besonderen Beziehung zwischen dem angehenden Kaballaforscher in Jerusalem und dem in jeder Hinsicht „freischwebenden Intellektuellen“ (Karl Mannheim), zu dem Benjamin nach dem Scheitern seiner Habilitation 1925 geworden war, am ehesten gerecht, wenn man sich vor Augen hält, dass Scholem ihm Ende der 1920er den Ausweg nach Palästina ganz konkret vorbereitet hat. Die Wahrnehmung dieses Angebots hätte Benjamin vermutlich das Leben gerettet. Wie berechtigt Scholems Fürsorge war, hinter der die Einfühlung in Benjamins ausgesprochen prekäre Lebensverhältnisse stand – die lange Abhängigkeit von den Eltern, das Scheitern seiner Ehe, der Kampf ums finanzielle Überleben als Journalist –, ist z. B. daraus ersehen, dass er der einzige war, der von Benjamins ersten Selbstmordplänen im Jahr 1932 Kenntnis erhielt. Kein Zufall auch, dass er bei dieser dann abgewendeten Existenzkrise den „Angelus Novus“ als Erbstück zugewidmet bekam.11
Aus solcher Intimität ergaben sich die höchst aufschlussreichen Deutungen der Engelsfigur, die Benjamins persönliche Tragik betonten, einschließlich des Blicks hinter die Fassade eines Charakters, der zu Geheimniskrämerei und zu produktiver, aber auch destruktiver Selbstmystifikation neigte. Scholem ist sicherlich darin zuzustimmen, dass es über alle Schaffensperioden hinweg – oder besser: unter ihnen hindurch – eine kontinuierliche Unterströmung an Themen, Motiven und Denkfiguren aus der Tradition der jüdischen Theologie gab, die natürlich durch Scholems Forschungen zur jüdischen Mystik gefärbt waren. Nicht zu unterschätzen ist aber auch das Fortwirken der religiösen oder quasi-religiösen Überzeugungen aus der Jugendzeit vor und nach 1914, die durch eine Fülle von Kontakten zu jüdischen Studentenzirkeln dokumentiert sind und sich in den meist unpubliziert gebliebenen „metaphysisch-geschichtsphilosophischen Schriften“ der Zeit um 1920 niedergeschlagen haben.12
Wie aber steht es um Scholems Zeugenschaft für Benjamins politische Ansichten, für das, was ich „Benjamins Politik“ genannt habe? Ich möchte diese Frage nicht an den späten „Thesen über den Begriff der Geschichte“ diskutieren, sondern an den Ausgangspunkt zurückgehen, an dem Klees Engelsbild in Benjamins Lebensgeschichte sozusagen eintritt. Aus dem Briefwechsel mit Scholem ergibt sich, dass Benjamin, der bereits vorher ein Faible für den Maler Paul Klee hegte, im Frühsommer 1921 den „Angelus Novus“ in München erwarb. Sofort wird das ebenso kryptische wie erklärungsheischende Engelsbild zum Anlass einer lebhaften „Angelologie“, teils um die bereits im Gang befindlichen philosophischen Debatten fortzuführen und theologisch zu vertiefen, teils auch um sich in ironisch-liebenswürdigen Frotzeleien zu ergehen, die zwischen den ungleichen Freunden wieder die gebotene Distanz herstellen. Nicht zu vergessen auch das lange und recht eingängige Gedicht, mit dem Scholem dem Älteren den theologischen Sinn der Engelsfigur nahebringen will (eine Strophe daraus wird Benjamin 1940 seiner Neunten These voranstellen!).13
Dieses Werben fruchtet auch wirklich, freilich auf einem anderen Gebiet, auf dem der Jüngere noch nicht mithalten kann: Der „Angelus Novus“ beflügelt Benjamins Publikationspläne – der Name, den Klee seiner Zeichnung gegeben hat, wird titelgebend für ein ehrgeiziges Zeitschriftenprojekt, das bekanntlich unrealisiert geblieben ist. Erhalten ist aber der Prospekt dieses „Angelus Novus“, in dem Benjamin sich in ebenso allgemeinen wie esoterischen Spekulationen darüber ergeht, wie er seine Zeitschrift aufzumachen gedenkt und vor allem, was er damit bewirken will. Auffällig an Benjamins Programmatik ist ein seltsames Gemisch: einerseits höchste Ansprüche an die philosophische Kritik, andererseits starke Reserven gegenüber dem Publikumsgeschmack, ein Widerspruch, der durch den beschwörenden Rekurs auf eine wenig konkrete „Aktualität“ geschichtsphilosophisch aufgelöst, oder besser: eingelöst werden soll. Benjamin spricht von „dem Ephemeren“ und illustriert es durch den flüchtigen Charakter der talmudischen Engel, von denen es heißt, dass sie „nachdem sie vor Gott ihren Hymnus gesungen, aufhören und in Nichts vergehen“.14
Gedankengänge wie diese, vor allem die Gleichzeitigkeit von angestrengter Argumentation und dunkler Anspielung haben als typisch für Benjamins Denkstil um die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zu gelten. Und vielleicht kann man die Texte aus diesen Jahren insgesamt durch eine merkwürdige Widerspruchskonstellation charakterisieren: Angefangen von dem noch in das Jahr 1917 zurückreichenden „Programm der kommenden Philosophie“ und eindringlich verdichtet in der Studie zu „Schicksal und Charakter“ (1919) sieht man ein Denken am Werk, das vom Methodenideal des Neukantianismus ausgeht, diesem eine überscharfe Pointe gibt, um von hier aus den Absprung in eine „andere Wirklichkeit“ zu machen, d. h. „eine noch kommende neue und höhere Art der Erfahrung“ einzuklagen15, die regelmäßig und vergleichsweise unvermittelt in theologische Gefilde führt. Da ist die Rede von der „reinen Erkenntnis“, als deren „Inbegriff die Philosophie Gott denken kann und muss“16, da wird eine pathetische Charakterlehre entworfen, die zwischen mythischer Schuldverstrickung und schicksalhaftem Glück aufgespannt ist17. In der Einleitung zu den Baudelaire-Übersetzungen von 1923 wird die „hohe“ Lyrik (wie die von Hölderlin, George oder eben Baudelaire) durch ihre Beziehung auf die „reine Sprache“ definiert, die ihrerseits auf die „Offenbarung“ verweist.18 Am rätselhaftesten aber, weil bis zur Unkenntlichkeit verknappt liest sich das sog. „Theologisch-politische Fragment“, in dem die Kategorie des „Messianischen“ an oberster Stelle rangiert19. Dieser apokryphe Text von 1920 ist deswegen von besonderem Interesse, weil er manche der späteren geschichtsphilosophischen Gedanken beinahe wörtlich vorwegnimmt. Nicht umsonst hat Adorno, auch gegen den Einspruch Scholems, der es besser wusste, auf der zeitlichen Nähe dieses frühen Fragments zu den späten „Thesen zum Begriff der Geschichte“ beharrt. Und wenn Benjamin