10 SHERLOCK HOLMES – Die neuen Fälle Box 4. divers
zu einem Wohnhaus, wie mir Holmes wispernd erklärte, die zweite hingegen zum Hintereingang eines Pubs.
Die Zeit verging. Wir standen in der Enge und Kälte und nun wurden meine Glieder tatsächlich steif. Dennoch konnten wir uns nicht rühren, denn jederzeit konnte geschehen, worauf Holmes wartete.
Nach mehr als fünfzehn Minuten hörten wir Schritte und bald darauf sahen wir eine blondhaarige Frau an uns vorbeigehen. Wir hatten uns so tief in den Eingang zurückgezogen, dass sie an uns vorbeihastete, ohne uns zu bemerken.
Kaum war sie ein paar Schritte weiter, als wir erneut hinüber zu dem Hof schauten.
Zu meinem Erstaunen sah ich, dass sich unser Verdächtiger seines Mantels entledigte. Dann streifte er sich etwas Langes, Dickes über und im fahlen Licht einer Lampe sah ich, dass er sich tatsächlich in einen Wolf verwandelt zu haben schien.
Die Blondhaarige hatte ihn noch nicht entdeckt. Sie ging auf jene Tür zu, die zum Pub führte. Plötzlich aber nahm sie den Mann wahr, der sich nun mit einem seltsamen Brüllen auf sie stürzte.
Starr vor Entsetzen hielt die Frau inne, die Hände auf den Mund gepresst. Sie schrie nicht, sie floh nicht – sie starrte lediglich das Wesen an, das sich auf sie stürzen wollte.
»Kommen Sie!«, rief Holmes und sprang aus unserem Versteck.
Rasch zückte ich meinen Revolver. »Stopp! Wagen Sie es nicht, die Dame anzugreifen!«
Der Mann blickte sich gehetzt um und tat, womit ich nicht gerechnet hatte – er griff uns an.
Mit großen Sätzen jagte er auf uns zu. Holmes, der vor mir in den Hof gelaufen war, wollte ihn stoppen, schrie aber schmerzerfüllt auf, als der Werwolf mit seinen Pranken nach ihm hieb.
Auch nach mir schlug er, doch ich konnte einem Treffer entgehen. Ich schoss, aber die Kugel streifte ihn nur.
»Ihm nach!«, rief Holmes. Trotz der Verletzung nahm er die Verfolgung auf. Wir eilten die Straße entlang und bogen schließlich in jene Richtung ab, in der Lestrade auf uns wartete.
Davon ahnte der Bursche natürlich nichts. Umso überraschter war er, als er die Beamten vor sich auftauchen sah.
»Achtung, seine Krallen sind scharf!«, rief Holmes. Ihm antworteten die entsetzen Rufe der Männer, die nun glaubten, ein waschechter Werwolf käme auf sie zu. Einzig Lestrade behielt die Sinne beisammen.
»Das ist eine Verkleidung!«, rief er seinen Beamten zu. »Fasst ihn!«
Und so geschah es.
Beruhigt durch diesen Ruf warfen sich die wackeren Constabler auf den Fliehenden, rangen ihn zu Boden und legten ihm die Eisen an.
Als wir die Polizisten erreichten, hatten sie dem Mann bereits das Kostüm abgenommen. Nun, aus der Nähe betrachtet, erkannten wir, dass es sich tatsächlich um ein Wolfsfell handelte. Obwohl – der Richtigkeit halber muss erwähnt werden, dass es mehrere Wolfsfelle waren, zusammengenäht zu einem großen Kostüm. Der Kopf eines Tiers war ausgehöhlt worden, sodass man ihn wie eine Maske überstreifen konnte. An den Pfoten befanden sich zudem nicht die natürlichen Krallen eines Wolfs, sondern scharfe Messer aus Metall.
Trotzig blickte uns der Täter an.
»So!«, sagte Holmes, eine Hand auf die Wunde an seinem Arm gepresst. »Sind Sie uns in die Falle gegangen. Guten Abend, Mister Watkins!«
»Sie kennen meinen Namen?«, fragte der Verhaftete.
»Oh, nicht nur das! Ich weiß, was Sie getan haben und was Sie tun wollten! Möchten Sie ein Geständnis ablegen?«
Watkins wandte den Kopf zur Seite. »Sie werden mich ohnehin hängen. Ich sage kein Wort!«
»Wie Sie meinen!« Holmes blickte zu Lestrade, während wir schnelle Schritte hörten. Kurz darauf erschien die Blonde. Sie war außer Atem, wollte zu einem der Constables gehen und hielt inne, als sie Watkins erblickte. Ihr Blick fiel auf das Fell, ihre Augen weiteten sich. »Du? Aber warum …?«
»Es ging die ganze Zeit um Sie, Miss Watkins. Ich fürchte, Ihr Mann war schon eine Weile Ihrer überdrüssig!«
»Ich verstehe nicht …«, wisperte Mrs Watkins.
»Nun, ich werde es Ihnen allen erklären. Und dies recht schnell, denn die Kälte ist alles andere als gemütlich!«
Holmes lächelte, während er die Hände in die Taschen seines Mantels steckte. Dann aber verzog er das Gesicht, denn die Wunde schmerzte.
»Um eines vorwegzuschicken – ich habe nie an die Existenz legendenhafter Werwölfe geglaubt. Ich bin überzeugt, dass alles eine rational zu erklärende Ursache hat! Daher suchte ich stets einen Menschen als Täter. Wenn aber alle Zeugen aussagten, sie hätten einen riesigen Wolf auf zwei Beinen gesehen, so konnte dies nur eines bedeuten – ein Kostüm!«
Er legte eine kurze Pause ein, in der wir zu besagtem Wolfskostüm schauten, das nun einer der Beamten in Händen hielt.
Bei der zweiten Tat beging der Täter einen Fehler, wohl ohne es zu merken. Blut tropfte von seiner Verkleidung zu Boden. Eine dünne Spur entstand, die sich bis zum Wohnhaus von Mister Watkins verfolgen ließ. Leider konnten wir nicht feststellen, in welche der vier Türen der Täter eingetreten war. Ich las jedoch die Namensschilder und fand dabei jenes von Mister Watkins – Schmied und Scherenschleifer. Dies war der erste Anhaltspunkt, denn ein Kostüm benötigt scharfe Krallen, will man damit töten.«
Wieder legte er eine Pause ein. Der Beamte hob die Tatzen des Wolfspelzes und wir sahen die metallenen Krallen.
»Ich begann, Erkundigungen einzuziehen. Zuerst observierte ich Mister Watkins, um mir ein Bild von ihm und seiner Lebenssituation zu machen. Anschließend fragte ich telegrafisch jeden Kürschner, ob er in letzter Zeit ein Wolfsfell verkauft habe. Einer der von mir angeschriebenen Geschäftsleute bestätigte den Verkauf von drei Fellen. Ich suchte ihn auf, beschrieb ihm Mister Watkins und erhielt die Bestätigung, die mir fehlte!«
Er lächelte in sich hinein, während der Täter einen grimmigen Blick in unsere Richtung warf. Auch jetzt, mit dem schlimmsten aller Schicksale konfrontiert, ging von ihm purer Hass aus.
»Blieb noch das Motiv. Ich konnte nicht ausschließen, dass der Täter aus einem inneren Trieb heraus handelte, wollte aber sicher sein. So verkleidete ich mich als Arbeiter und kam mit ihm, aber auch mit anderen aus der Umgebung ins Gespräch. Nach und nach zeigte sich, dass Mister Watkins eine Geliebte hatte und seine Frau gerne losgeworden wäre. Diese aber hatte eine kleine Summe geerbt, von der ihr monatlich etwa zwei Pfund zustanden. Das war nicht genug, um beide sorgenfrei leben zu lassen; er arbeitete als Handwerker, sie reinigte nach Sperrstunde in einem Pub. Aber aufgeben wollte er das Geld auch nicht. Also glaubte er, als Witwer ein Anrecht auf das Erbe seiner Frau zu haben. Ob dem so ist, sei dahingestellt – aber dies war die Triebfeder seiner Taten!«
Mrs Watkins hatte schweigend zugehört. Nun aber neigte sie den Kopf zur Seite. »Aber warum sollte er zwei Prostituierte töten, wenn er eigentlich nur mich umbringen wollte?«
»Ablenkung, meine Dame«, sagte Holmes mit einem traurigen Lächeln. »Ihr Mann wollte nicht einfach töten. Er ersann einen teuflischen Plan, um die Polizei und die Presse zu verwirren. Ich sprach wiederholt mit dem Betreiber der rumänischen Tiershow. Dort erinnerte man sich an einen Mann, der nach dem Besuch einer Show noch eine Weile blieb und die zuvor angesprochene Legende der rumänischen Werwölfe mit großem Interesse vertiefte. Offenbar reifte schon während der Vorstellung die Idee in Mister Watkins, diese Sage zu nutzen.«
»Also bastelte er sich ein Werwolfkostüm und tötete zwei Frauen!«, rief Lestrade voll Abscheu.
»So ist es. Ich nehme an, bei dem ersten Opfer übte er. Der Polizeiarzt fand Abdrücke von den Reißern des Wolfs, die aber nicht tief eindrangen. Er muss die Zähne in den Körper seines Opfers gepresst haben. Aber dies zeigte wohl keine Wirkung, sodass er sich schließlich auf die Krallen allein verließ.«
»Barbarisch!«, rief Lestrade. Dann schaute er zu Watkins. »Haben Sie noch etwas zu sagen?«