10 SHERLOCK HOLMES – Die neuen Fälle Box 4. divers
»Wie kannst du an deinem eigenen Fleisch und Blut zweifeln?«
»Nun ja, der junge McDermott wäre nicht der Einzige, den plötzlich die Angst vor der Ehe packt«, sagte Holmes milde. »Auch die edelsten und mutigsten Männer sind hiervor nicht gefeit! Zudem sind die Umstände ungewöhnlich, nicht wahr?«
»So ist es!«, gab der Hausherr zu. »Kein Brief meines Sohnes, kein Wort an das Personal, dass er etwas zu erledigen habe. Keine Lösegeldforderung, die auf eine Entführung hindeuten würde, keine Erpressung. Es ist, als habe sich mein Sohn in Luft ausgelöst!«
»Das ist in der Tat seltsam!« Holmes schaute sich kurz um. »Nun, ich denke, ich beginne im Zimmer Ihres Sohnes. Hat er eine persönliche Zofe?«
»Lydia!«, bestätigte Sir McDermott. »Soll ich sie rufen lassen?«
»Das wäre freundlich. Sie kann uns sicherlich durch das Haus führen?«
»Gewiss. Was immer Sie brauchen, es steht zu Ihrer Verfügung. Und bitte – seien Sie heute unsere Gäste zum Dinner!«
*
»Hat der junge McDermott in den letzten Tagen vor seinem Verschwinden verstört gewirkt? War er schweigsam, wirkte er ängstlich?«, fragte Holmes die junge Zofe, während wir durch das große Haus gingen, hin zum Zimmer des Verschwundenen.
»Nein, Sir!« Die Augen der Zofe flackerten.
»Sie können die Wahrheit sagen«, erklärte ich darum sanft. »Keine Angst, Ihre Ladyschaft wird es nicht erfahren!«
Lydia senkte den Blick. »Andrew … Sir McDermott … war mir gegenüber stets sehr offen. Er … vertraute mir an, dass ihn Zweifel beschlichen ob der Heirat. Er fragte sich, ob Lady Sandrine Finnigan wirklich die richtige Partnerin für ihn sei!«
Lydia seufzte, ohne den Blick zu heben. »Nun, ich war wohl die falsche Person, die er da fragte. Er merkte es und brachte das Thema nicht wieder auf.«
Eine Träne rann über das Gesicht der jungen Frau, die aber mein Freund nicht bemerkte, denn wir hatten die Räume des jungen McDermott erreicht.
Sofort öffnete Holmes den großen, begehbaren Schrank und trat ein. Sein kühler, analytischer Blick glitt über die Anzüge, Hemden, Uniformen und Socken. »Warum waren Sie die falsche Person? Sie kennen Andrew McDermott doch sehr gut«, sagte er dabei geistesabwesend.
»Sie ist selbst verliebt in den jungen Lord«, sagte ich leise. Dann blickte ich zu Lydia. »So ist es doch, oder?«
Sie nickte.
»Und er?«, hakte ich nach. »Erwidert er Ihre Gefühle?«
»Ein wenig …« Noch immer blickte die Zofe zu Boden. »Sehen Sie, Doktor Watson – ich weiß, dass es ein unmöglicher Traum ist. Und doch war mir unwohl, wenn er über seine Liebe zu Lady Finnigan sprach.«
Holmes betrachtete das junge Ding nun doch mit Interesse. Seine scharfen Augen ruhten auf ihr, ohne dass er etwas sagte.
Dann wandte er sich wieder ab; so, als habe er einen kurzen Verdacht gehegt, diesen aber wieder verworfen. »Ist Andrew McDermott häufig verreist?«
»Hin und wieder«, sagte Lydia, froh, dass Holmes ein anderes Thema anschnitt.
»Haben Sie für ihn gepackt?«
»Gewiss!«
»Wo werden die Koffer aufbewahrt?«, hakte Holmes nach.
»Auf dem Boden!« Lydia lächelte schwach. »Sie sind alle vorhanden. Auch sind seine Kleidungsstücke vollzählig. Lord McDermott ließ mich dies gleich nach dem Verschwinden kontrollieren. Erst gab es Aufregung, weil Unterwäsche, Socken und auch Hemden sowie Hosen verschwunden zu sein schienen, aber es stellte sich heraus, dass sie lediglich in den falschen Schrank geräumt worden waren. Anne, Lord McDermotts Zofe, verwechselt hin und wieder die Kleidung!«
Holmes nickte. »Ja, das dachte ich bereits. Hier fehlt nichts … Der Schrank ist überaus ordentlich, Lydia!«
»Danke!« Die junge frau errötete.
»Sprach Andrew davon, das Haus zu verlassen?«, fragte ich, während sich Holmes nun dem restlichen Zimmer widmete.
Er besah sich die Post, hob einige Bücher auf, die auf dem Nachttisch lagen, und schnupperte an einem halb vollen Glas auf dem Schreibtisch.
»Nein. Als ich das letzte Mal mit ihm sprach, erwähnte er nichts davon.«
»Worüber haben Sie gesprochen?«, wollte Holmes wissen, während er den Papierkorb durchsuchte. Er fand ein Stück Papier und besah es sich. Dann steckte er es ein, obwohl es völlig leer zu sein schien.
»Über … Nun, es war privat!« Lydia wurde rot. »Er deutete jedoch nicht an, sich seiner Verantwortung entziehen zu wollen!«
Holmes musterte sie wieder aufmerksam. Dann schaute er zu einem Porträt, das über dem Schreibtisch hing. Eine hübsche, aber gestrenge Dame blickte den Betrachter an. Sie war bereits im fortgeschrittenen Alter, als sie sich hatte porträtieren lassen. In ihrem grauen Haar steckte ein Diadem, um ihre Schultern lag eine Stola aus Pelz.
»Lady Annabella McDermott, Countess of Livington. Sie war die erste weibliche Trägerin des Titels; das Bild entstand 1790!« Lydia lächelte versonnen. »Manche sagen, nach ihrem Tod erreichte kein McDermott jemals wieder den Glanz, den das Haus zu ihrer Zeit verströmte.«
»Ein hübsches Diadem!«, merkte ich an. »Und auch die Stola … Rotfuchs?«
»So ist es. Beides befindet sich nicht mehr im Besitz der Familie. Obgleich Andrew … Sir McDermott … davon sprach, seine Braut gerne mit diesem Schmuck zu sehen, um den alten Glanz zurückzuholen.«
Unwillkürlich strich sich Lydia durch das Haar. So, als könne sie das Diadem darin spüren.
»Wurde es verkauft?«, fragte Holmes, der das Porträt nun ebenfalls musterte.
»Es verschwand. Manche sagen, die Countess habe sich damit bestatten lassen. Andere vermuten, es sei gestohlen worden. Die Familie wurde vor etwa sechzig Jahren von einem Skandal heimgesucht, als mehrere Mitarbeiter bei Nacht und Nebel mit einigen sehr wertvollen Besitztümern verschwanden. Obwohl hohe Belohnungen ausgesetzt wurden, fasste man weder die Täter, noch konnte die Habe beschafft werden.«
»Sie wissen erstaunlich viel«, stellte Holmes fest.
»Andrew … Sir McDermott … erzählte mir all das. Ich bin … wissbegierig, wie er es ausdrückte. Nicht so, wie …«
Ihr Gesicht verfinsterte sich.
»Hm?«, fragte ich. »Sprechen Sie ganz frei! Keine Angst, niemand wird es erfahren!«
»Es schickt sich nicht!«, wiegelte sie ab.
»Seien Sie unschicklich!«, flüsterte Holmes verschwörerisch und bewies damit, wie gut er sich in andere hineinversetzen konnte. Ihm gelang es, Menschen zum Sprechen zu bringen, die bei jedem anderen schwiegen.
»Lady Sandrine Finnigan ist eine hohle Nuss!«, wisperte Lydia. »Es heißt, sie sei auf einem Internat für Mädchen gewesen, aber ich frage mich, ob man sie dort aus Versehen zu den Pferden stellte, statt sie zu unterrichten. Andrew ist ein gebildeter, weit gereister Mann, der seine größte Freude darin findet, sich neues Wissen anzueignen. Und sie … redet nur von ihren Kleidern, von unschicklichen Bediensteten und davon, wie gerne sie doch ausreitet!«
Lydia klang verzweifelt, schien aber gleichzeitig froh, all das endlich einmal sagen zu können.
»Wie denkt das restliche Personal über sie?«, fragte Holmes sanft, während ich mir ein herzhaftes Lachen verkneifen musste.
»Jeder hier denkt das Gleiche. Niemand ist glücklich über diese Verbindung. Nun ja, abgesehen von Lord und Lady McDermott, aber denen geht es eher um die Vergrößerung von Reichtum und Einfluss. Das Personal sähe es gerne, würde die Heirat abgesagt. Andrew hat Besseres verdient!«
»Sie zum Beispiel!«,