Der neue Sonnenwinkel Box 9 – Familienroman. Michaela Dornberg
Maßstäben messen können. Doch für die Menschen, die ihn liebten, war es ein unerträglicher Gedanke, über seinen Verbleib so überhaupt nichts zu wissen, nur auf Vermutungen angewiesen zu sein. Man hatte nach ihm und seinem Begleiter gesucht, lange und intensiv, und die Suche war erst eingestellt worden, als es keine Hoffnung mehr gab, die beiden Verschollenen noch lebend zu finden. Das waren die grausamen Fakten, mit denen man sich abfinden musste. Ihr Verstand sagte ihr längst, dass Lars nicht mehr unter den Lebenden weilte, doch ihr Herz wollte es einfach nicht glauben, wehrte sich beinahe verzweifelt dagegen.
Verschollen …
Das klang besser als tot. Der Tod war endgültig, und so, da konnte man sich noch etwas vormachen.
Manchmal konnte Roberta besser damit umgehen, manchmal brach es über ihr zusammen, und der Schmerz würde wohl für immer ihr ständiger Begleiter sein.
Warum hatte das Schicksal so grausam zugeschlagen?
Diese Frage würde ihr niemand beantworten, und deswegen quälte es sie auch so. Eine Lebensliebe hatte man nur einmal, und sie hatte ihre verloren!
Sie zuckte zusammen, spürte, dass sie nicht mehr allein im Zimmer war, blickte hoch, wischte sich die Tränen weg.
Pia stand an der Tür, wirkte verunsichert, wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie konnte nicht gut mit Tränen umgehen, denn davon hatte sie genügend vergossen, und dass die Frau Doktor jetzt weinte …
Sie blickte Pia an, und murmelte: »Entschuldigung, ich …, ich wollte Sie nicht stören, aber Alma schickt mich …, ich soll Ihnen sagen, dass wir …, gleich …, nun, dass wir gleich essen werden.«
Sie wollte beinahe fluchtartig den Raum wieder verlassen, doch Roberta hielt sie zurück, bat sie, sich neben sie zu setzen. Das tat Pia, doch an ihrer Körperhaltung war deutlich zu spüren, wie unwohl sie sich gerade fühlte.
Pia rutschte hin und her, Roberta überlegte, wie sie das Gespräch beginnen sollte, doch da kam Pia ihr zuvor: »Ich wollte nicht sehen, wie Sie …«
»Weinen?«, ergänzte Roberta.
Dann ergriff sie Pias Hand, hielt sie fest und versuchte, ihr zu erklären, dass Tränen zu jedem Leben gehörten, dass man sich nicht schämen durfte, weil Tränen auch Gefühl bedeuteten, und dass es wichtig war, es herauszulassen, ehe sich irgendwo im Körper etwas manifestierte. Dann sprach sie über Lars, sein Schicksal.
Pia sagte nichts, doch Roberta spürte, dass es sie einander näher brachte, weil sie beide jemanden verloren hatten, der wichtig für sie gewesen war. So etwas schaffte eine Verbindung.
»Pia, jetzt wissen wir ein wenig voneinander, doch ich wünsche mir, dass es mehr wird. Vor allem wünsche ich mir, dass du dich hier bei uns einleben wirst. Du bist herzlich willkommen.«
Pia begann am ganzen Körper zu zittern, und Roberta legte fürsorglich einen Arm um sie, drückte sie.
»Ich … ich weiß überhaupt nicht, womit ich das verdient habe. Sie und die Alma, Sie sind so gut zu mir.«
»Pia, du musst dir nichts verdienen. Das Schicksal geht manchmal ganz seltsame Wege. Es hat uns zusammengeführt, und ich denke, wir sollen die Herausforderung annehmen.«
Pia blickte sie an, und zum ersten Mal sah Roberta in dem hübschen Mädchengesicht nicht mehr das Erloschene, sondern einen Hoffnungsschimmer, und das war gut, sehr gut sogar.
Roberta lächelte aufmunternd, dann sagte sie: »Ich glaube, jetzt sollten wir gehen, Alma ist ein überaus gütiger Mensch mit sehr viel Herz, aber sie kann es nicht leiden, wenn man zu spät zum Essen kommt.«
Sofort sprang Pia auf, wollte losrennen, Roberta hielt sie zurück, nahm sie bei der Hand, und gemeinsam gingen sie in die Wohnküche, in der Alma tatsächlich bereits auf sie wartete, doch als sie die beiden Menschen, die ihr am meisten am Herzen lagen, Hand in Hand den Raum betreten sahen, glitt ein glückliches Lächeln über ihr Gesicht.
Wie hatte die Frau Doktor es bloß geschafft, Pia etwas von ihrer Verlorenheit zu nehmen?
*
Für heute hatte Hulda Lingen sich vorgenommen, mit dem Bus nach Hohenborn zu fahren, um dort einen Einkaufsbummel zu machen. Das war etwas, was sie selbst überraschte, denn noch vor kurzer Zeit hätte sie es nicht für möglich gehalten, dass sie an so etwas überhaupt noch einmal Spaß haben könnte. Es hatte sich alles auf ganz wunderbare Weise verändert. Sie fuhr mit dem Bus, kannte die Fahrzeiten.
Sie war unabhängig, und sie hatte unglaublich viel Spaß mit den Leuten ihrer Theatergruppe, die ja gleichzeitig auch im Italienischkurs waren. Es machte großen Spaß mit Franz, Tekla und Gertrud, und man nannte sie nicht umsonst das vierblättrige Kleeblatt, weil sie immer gemeinsam auftragen, sich unterhielten, miteinander lachten, weil zwischen ihnen die Chemie stimmte. Und sie hatten sich auch immer etwas zu sagen, wenn sie einander besuchten. Bei Franz, Tekla und Gertrud waren sie schon gewesen, nun war sie an der Reihe, und da wollte sie sich auch gleich mal in der Buchhandlung nach einem besonderen Kochbuch umsehen.
Sie konnte kochen, und das auch gut, aber es sollte etwas Besonderes sein. Außerdem sah sie sich gern Kochbücher an. Und ein paar bequeme Schuhe wollte sie sich ebenfalls kaufen. Tekla hatte beim letzten Treffen welche von diesen Sneakern an, die jetzt alle trugen. Ehrlich gesagt, hätte sie sich nicht getraut, weil sie der Meinung war, dass das nur für junge Menschen was war, aber Tekla war älter als sie und trug diese Sneaker mit einer unglaublichen Selbstverständlichkeit. Nun, als ehemalige Lehrerin hatte sie immer mit jungen Leuten zu tun gehabt, da fühlte man sich wahrscheinlich selber jung. Wie auch immer, sie würde sich Sneaker kaufen, denn sie hatte sich auch vorgenommen, den See zu erkunden, da brauchte man passendes Schuhwerk.
Hulda blickte auf ihre Armbanduhr.
Ein bisschen Zeit hatte sie noch, doch für einen Kaffee würde es nicht mehr reichen, es sei denn, sie nahm den nächsten Bus. Sie entschied sich dagegen, Kaffee trinken konnte sie auch in Hohenborn, das war viel spannender.
Hulda spürte, wie Freude sich in ihr breitmachte, doch da war auch viel Dankbarkeit. Achim hatte ihr zu dieser herrlichen Wohnung verholfen, und sie war sich sicher, dass er ihr ganz gewiss nicht die Miete abnahm, die er hätte erzielen können. Und dass Claire in ihrem Leben war, die großartige Frau Doktor, ja, das war ein tolles Geschenk, denn Claire hatte sie alles zu verdanken, auch, dass sie jetzt so gut drauf war.
Hulda kämmte sich flüchtig ihre Haare, lächelte ihrem Spiegelbild zu, dann griff sie nach ihrer Handtasche, ging in die Diele, um sich eine Jacke anzuziehen, als es klingelte.
Achim konnte es nicht sein, der hatte einen Auswärtstermin, Claire war in der Praxis, und Franz, Tekla und Gertrud kannte sie noch nicht so gut, dass die einfach vorbeikommen würden.
Sie seufzte, vermutlich ein Vertreter, der ihr was verkaufen wollte, obwohl die sich im Sonnenwinkel kaum sehen ließen. Es war einfacher in einer Großstadt an den Türen zu klingeln, denn da waren die Chancen größer für einen Abschluss, weil viel mehr Menschen dicht beieinander wohnten.
Wie auch immer, sie würde sich durch niemanden aufhalten lassen. Mit diesem Vorsatz öffnete sie die Tür und staunte nicht schlecht, als sie ihre Tochter Doris sah. Sie hätte mit allem gerechnet, mit Doris nicht. Und die war erst einmal im Sonnenwinkel gewesen, um sie zu besuchen. Nein, korrigierte Hulda sich sofort, das war kein Besuch gewesen, Doris hatte Geld haben wollen, wie immer, dabei hatte Hulda ihr doch beinahe schon alles gegeben, weil sie der Meinung war, dass es sich mit einer warmen Hand besser schenkte. Freilich, gedankt hatte Doris ihr das nicht, und sie hatte sogar ihr Elternhaus, kaum dass es überschrieben war, verkauft.
»Hallo, Mama«, rief Doris und umarmte ihre Mutter flüchtig.
»Hallo, Doris«, antwortete Hulda recht reserviert, was Doris erstaunte, sie warf ihrer Mutter einen Blick zu, so kannte sie sie nicht.
»Willst du mich nicht reinbitten?«
Hulda zögerte, sie hatte plötzlich ein ungutes Gefühl, und ahnte instinktiv, dass es mit ihrer guten Laune rasch vorbei sein würde, wenn sie den Wunsch ihrer Tochter