Der neue Sonnenwinkel Box 9 – Familienroman. Michaela Dornberg
zu können. Und eine Bemerkung käme ihr jetzt auch nicht recht. Sie waren nicht verabredet gewesen, Hulda würde also nicht auf sie warten. Auch Claire drehte sich um und ging nach nebenan.
Die Begegnung mit Achim hatte sie schon aufgewühlt, und sie fragte sich, warum eigentlich. Weil er ein so Netter war? Weil sie ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie seine Erwartungen nicht erfüllen konnte? Sie wusste es nicht, und sie wollte auch nicht darüber nachdenken.
In ihrer Wohnung angekommen, zog sie ihre Sportbekleidung aus, dann stellte sie sich nicht, wie gewohnt, unter die Dusche, sondern ließ Wasser in ihre Badewanne laufen. Und in das Wasser kippte sie reichlich von einer verführerisch duftenden Lavendelessenz, das sollte bekanntlich ja beruhigen, und eine Beruhigung hatte sie nötig. Und sie hoffte, von Gedanken davongetragen zu werden, die nichts mit Achim Hellenbrink zu tun hatten, aber auch nicht mit der Spende, die für sie augenblicklich noch Segen und Fluch zugleich war.
Es konnte nicht schaden, sich auch noch von Musik berieseln zu lassen, und ehe sie in die Wanne stieg, zündete Claire auch noch ein paar Kerzen an.
Ob es helfen würde?
Ganz sicher war sie sich nicht.
*
Ihre Freundin Trixi rief an, und so, wie die sich anhörte, wusste Roberta, dass Trixi positive Nachrichten hatte. Ohne dass ein Wort gesprochen worden war, rief Roberta: »Du hast den Job bekommen.«
»Ja, hab ich, Roberta, und ich könnte die ganze Welt umarmen, so gut wie augenblicklich ist es für mich noch nie gelaufen. Und stell dir vor, ich habe sogar meine männlichen Bewerber hinter mir gelassen. Und so was ist ja wohl die Ausnahme, Männer werden in der Regel doch immer bevorzugt.«
»Diesmal nicht, Trixi, ich gratuliere dir. Und es hat nichts damit zu tun, ob du eine Frau oder ein Mann bist, du bist einfach so gut, dass man dich nicht übergehen kann. Und wann fängst du an?«
Trixi lachte, gelöst und erleichtert.
»Am liebsten schon gestern. Erst haben sie sich alle Zeit der Welt gelassen, und nun ist Eile geboten.«
»Aber du wolltest mit Philip zu uns kommen«, erinnerte Roberta sie. »Das hast du versprochen.«
»Und mein Versprechen halte ich auch, deswegen rufe ich auch an. Passt es dir am Wochenende? Wir würden am Sonnabend in aller Frühe kommen, und am Sonntag gegen Abend abfahren.«
»So kurz nur?«, konnte Roberta sich nicht verkneifen zu fragen.
»Liebe Freundin, sei froh, dass wir überhaupt kommen. Wenn ich es nicht versprochen hätte, dann kämen wir erst einmal überhaupt nicht.«
»Ist ja schon gut, danke, Trixi, auch Alma wird Freudensprünge machen, sie liebt den Kleinen über alles. Doch ich glaube, jetzt muss Philip die Liebe teilen.«
»Und wieso das?«
Roberta gehörte nicht zu den Menschen, die Neuigkeiten mit Vergnügen verbreiteten. Doch sie wusste, dass sie Trixi vertrauen konnte.
Außerdem hatte die eine psychotherapeutische Ausbildung. Sie erzählte von Pia, deren erschütternden Lebensumständen und wie das Mädchen zuletzt gelebt hatte.
Als sie aufhörte zu sprechen, sagte Trixi zunächst nichts, dann kam ein leises: »Das ist eine ganz schöne Herausforderung, Roberta, das weißt du schon, oder?«
Roberta bestätigte es.
»Gut, ich wäre nicht darauf gekommen, doch als Alma damit kam, erschien es mir auf einmal eine Selbstverständlichkeit zu sein, diesem Mädchen zu helfen. Es ist alles noch sehr frisch, und wir umschleichen uns im Moment noch wie Katzen das begehrte Futter. Aber ich glaube, dass es sich lohnen wird, zumindest ist es einen Versuch wert. Und es wäre natürlich großartig, wenn du einen Blick auf Pia werfen könntest. Und vielleicht kannst du uns auch einen Rat geben, wie wir am besten mit ihr umgehen sollen. Sie wie ein rohes Ei zu behandeln, kann es nicht sein, und verschrecken darf man sie ebenfalls nicht. Pia hat ein sehr dünnes Fell, was bei all den Verletzungen, die sie sowohl in körperlicher als auch seelischer Hinsicht davongetragen hat, auch nicht verwunderlich ist.«
»Roberta, bitte verstehe mich nicht falsch. Ich finde es großartig, was ihr da macht. Nur einfach wird es nicht sein. Aber ja, ich werde mir, wenn es irgendwie unauffällig klappt, Pia ansehen. Sie mit einer Therapeutin zu konfrontieren, das wäre nicht hilfreich. Sollte es sich ergeben, können wir darüber sprechen, aber nur dann. Ich freue mich auf jeden Fall.«
»Und ich werde dafür sorgen, dass ich keinen Notdienst habe, seit Claire Müller hier arbeitet, ist für mich alles viel leichter.«
»Es ist eine Win-Win-Situation für beide, für Claire noch mehr als für dich. Ich hätte dich auch gern als Chefin.« Roberta lachte.
»Das glaube ich dir nicht. Ich hab dir eine Zusammenarbeit angeboten, schon vergessen? Und da wärst du nicht mal eine Angestellte gewesen, sondern hättest auf eigene Rechnung arbeiten können.«
Natürlich erinnerte Trixi sich.
»Das war großzügig von dir, und ich danke dir noch immer. Doch glaub mir, so ist es besser, ich arbeite halt viel lieber wissenschaftlich in der Forschung. Bei dir ist es umgekehrt, du willst die Patientennähe, dabei wäre aus dir eine ganz hervorragende Wissenschaftlerin geworden, du mit deinem analytischen Verstand.«
»Trixi, nun ist es aber gut, sonst hebe ich noch ab.«
»Das will ich natürlich nicht.«
Trixi erzählte ihr in epischer Breite, wie es mit der Bewerbung abgelaufen war und wann sie die Zusage erhalten hatte, und das hörte sich wirklich sehr gut an. Doch dann war Roberta mehr daran interessiert, etwas über den kleinen Philip zu hören, den sie so sehr in ihr Herz geschlossen hatte, auch wenn es mit Lars zu einem Eklat gekommen war, weil der Kleine ihn genervt hatte. Und sie hatte sich künstlich aufgeregt, aber daran wollte sie sich nicht mehr erinnern, weil es eh nicht zu ändern war und sie sich keine Schuldgefühle machen wollte.
Was vorbei war, das war vorbei. Und hinterher war es zwischen ihr und Lars ja auch wieder gut gewesen, und auch wenn sie sich später nicht mehr gesehen hatte, so hatte sie viele Beweise seiner großen Liebe zu ihr in Händen, all ihre Träume hätten sich erfüllt. Lars hatte sie heiraten wollen, er wäre bei ihr eingezogen, und sie hätten gemeinsame Kinder bekommen. All das hatte sie erst später erfahren, wie Botschaften aus dem Jenseits. Und dass es jetzt am Himmel einen Stern gab, der für alle Ewigkeiten ihrer beider Namen trug, dafür hatte Lars ebenfalls gesorgt.
Alles waren tröstliche Botschaften gewesen, doch keine von ihnen, auch nicht der Stern, konnten ihn ersetzen und ihr die innere Leere, die Einsamkeit, den Schmerz nehmen. Sie bemühte sich ja, doch es half nichts, sie wurde immer wieder übermannt von ihren Erinnerungen, und das drohte sie dann beinahe zu zerreißen.
Roberta war sehr froh, dass Trixi irgendwann das Telefonat beendete, vielleicht, weil sie feinfühlig genug war, um zu erkennen, dass Roberta längst schon nicht mehr bei der Sache war oder weil irgendwo im Hintergrund bei Trixi ein Handy klingelte.
Es lohnte sich nicht, darüber nachzudenken, darüber nicht, aber über Lars schon, der auf einmal wieder so präsent war, als befände er sich im Raum. Sie glaubte sogar, ihn nicht nur zu spüren, sondern auch zu riechen.
War sie dabei, ihren Verstand zu verlieren?
Roberta sprang auf, rannte hinüber in ihr Schlafzimmer, ließ sich auf die Bettkante sinken, dann starrte sie auf das Gemälde, auf dem er so unglaublich lebendig wirkte. Sie vertiefte sich in sein geliebtes Gesicht. Selbstbewusst sah er aus, er lächelte, und seine unglaublich blauen Augen, in die sie sich bei ihrem ersten Zusammentreffen verliebt hatte, faszinierten sie noch immer. Und in diese Augen verlor sie sich jetzt, sie verlor das Gefühl dafür, wo sie sich befand, sie spürte nur noch seine Nähe, fühlte sich getragen von einer weichen Wolke. Das verursachte Freude und Schmerz zugleich, und weil man aus Träumen immer erwachte, fand sie sich sehr schnell wieder in der Realität zurück. Sie begann zu weinen, als sie an sein ungeklärtes Schicksal dachte.
Im ewigen Eis verschollen