Über uns die Sterne, zwischen uns die Liebe. N.R. Walker
Hütte immer von Norden genähert. Ich hatte keine Ahnung, wo ich hinlief, aber ich entfernte mich vom Feuer – und von Anton – und das war alles, worauf es ankam.
Mein Wasser war aufgebraucht, auch wenn ich noch etwas Essen hatte, und ich war dankbar für den Vollmond. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, wo ich ohne den Mond gelandet wäre. Verloren und orientierungslos legte ich eine kurze Pause ein.
Was habe ich nur getan? In den Wald zu laufen, war eine dumme, dumme Idee.
So sehr ich mir auch gewünscht hatte, dass dieses Leben endete, wollte ich nicht wirklich sterben. Ich wollte nur, dass mein altes Leben starb. Ich wollte, dass mein Leben mit Anton zu Ende ging. Aber ich wollte leben und etwas jenseits von Panik zerquetschte meine Lungen, als mir bewusst wurde, dass ich in diesem Wald wirklich sterben könnte.
Ich wollte weinen. Ich wollte auf dem Boden zusammenbrechen und in Tränen ausbrechen. Ich zog in Erwägung, aufzugeben. Der Wall orangefarbenen Feuers näherte sich, der Gestank des Rauchs war ätzend und trocken.
Ich versuchte mir vorzustellen, was Opa tun würde. Er würde sich eine Sekunde Zeit nehmen, um sich zu sammeln und Atem zu schöpfen, das würde er tun. Er würde seine Gedanken sortieren und sich einen Plan zurechtlegen. Also tat ich dasselbe.
Der Wald war dunkel und gespenstisch still, als ob die Tiere vom nahenden Feuer gewusst hätten und geflohen wären. Ich sah hinauf zum Himmel und da sah ich es. Wie ein Zeichen meines Großvaters. Er hatte mir die Sterne gezeigt.
Ich erinnerte mich an das, was er mich über ihre Konstellationen gelehrt hatte, und seine Worte kamen mir in den Sinn. »Wenn du dich je verlaufen solltest, such nach dem Kreuz des Südens. Sein Schweif zeigt immer nach Süden.«
Natürlich!
»Danke, Großvater«, flüsterte ich mit frischer Entschlossenheit.
Mit dem Sternbild als Kompass ging ich nach Süden und irgendwann später – ich wusste nicht, wie viel später – stieß ich auf eine Staubstraße. So, wie sie aussah, handelte es sich um eine Feuerschneise, und danach kam ich leichter voran.
Ich hielt mich am Straßenrand und nach einem halben Kilometer entdeckte ich einen kleinen Viehtransporter. Er stand nach Süden gerichtet auf einer alten Zufahrt. Der Motor lief und die Scheinwerfer waren an. Ein Mann – schon älter, mit grauem Haar – stieg aus. Er schloss rasch das Tor, das er eben passiert hatte, und warf einen letzten Blick auf die Schafe in seinem Transporter.
»Einen Moment, Mädels. Ich brauche nur einen schnellen Boxenstopp, dann schaffen wir euch alle in Sicherheit«, sagte er, während er den Lastwagen umrundete, zur gegenüberliegenden Baumreihe schritt und pinkelte.
Ich erkannte meine einzige Chance auf eine Mitfahrgelegenheit aus dem Wald heraus. Ich schlich mich so leise wie möglich an den Wagen heran und kletterte auf die Ladefläche. Die Schafe blökten und der Mann antwortete mit: »Schon gut, schon gut, ich bin fertig.«
Ich glitt zwischen die Herde, duckte mich und hielt den Atem an, gerade rechtzeitig, bevor der Mann wieder in die Fahrerkabine stieg. Der alte Motor erwachte hustend zum Leben und ich lachte beinahe auf, als wir losfuhren. Ich lag in Schafscheiße, wurde getreten, geschubst und angeblökt, aber ich war in Sicherheit.
Der Ausblick nach hinten zeigte glühenden Bernstein in der Dunkelheit und erst da begriff ich, wie nah das Feuer war. Ich drückte meinen Rucksack an meine Brust, ignorierte den Gestank und die Schubserei der Schafe und konnte kaum glauben, dass ich es geschafft hatte. Eine frische Woge der Tränen überfiel mich, dieses Mal vor Erleichterung.
Ich war frei.
***
Ich versuchte, mir mein Zeitgefühl zu bewahren, aber ich hatte Schwierigkeiten, die Augen offen zu halten. Der laute Motor und das Wanken des Wagens wiegten mich in den Schlaf, doch jedes Mal, wenn ich einnickte, schreckte mich ein Schlagloch wieder auf, und dafür war ich dankbar. Ich konnte es mir nicht leisten, einzuschlafen und entdeckt zu werden. Irgendwann bogen wir auf den Snowy Highway ein und anhand der Verkehrsschilder, die wir passierten, schloss ich, dass wir uns Cooma näherten.
Gut. Kleinstädte kamen mir entgegen.
Sobald wir die Stadt erreichten, steuerte der Transporter die erste Tankstelle an. Es handelte sich um eine kleine Tankstelle mit nur zwei Zapfsäulen, und sobald der Fahrer drinnen verschwunden war, kletterte ich raus, nahm mir meinen Rucksack und ging den Bürgersteig entlang. Zum Glück kamen keine Autos an mir vorbei und Straßenlaternen gab es nur an jeder zweiten Ecke.
Ich fand einen kleinen Kiosk und kaufte frisches Wasser und eine Schere. Der Mann hinter dem Tresen war zu sehr damit beschäftigt, einem Jugendlichen zuzuschreien, wie man die Regale richtig auffüllte, sodass er nicht auf meinen Zustand achtete. Mein nächster Halt waren die öffentlichen Toiletten im Park, wo ich mich an dem kleinen Waschbecken und im mageren Deckenlicht so gut wie möglich zurechtmachte. Ich wusch mir wegen meines Auges vorsichtig das Gesicht. Meine Hände brannten und erst jetzt bemerkte ich die Kratzer und die Schnitte.
Doch ich musste Ethan richtig verschwinden lassen. Also öffnete ich meinen Pferdeschwanz und verpasste mir selbst einen Haarschnitt. Ich hatte es in Filmen immer für albern gehalten, wenn sich jemand die Haare abschnitt, um nicht erkannt zu werden, aber ich war für meine langen Haare bekannt. Auf allen öffentlichen Fotos mit Anton war mein langes, lockiges Haar das Erste, was den Leuten ins Auge fiel. Also setzte ich die Schere an und säbelte es kaum einen Zentimeter über der Kopfhaut ab. Es war absurd und surreal, gleich alles abzuschneiden, und ich erkannte mich im Spiegel kaum wieder.
Natürlich konnte ich meinen Hinterkopf nicht sehen und musste mich auf mein Gefühl verlassen. Es war bestenfalls ein ziemliches Gehäcksel, aber letztendlich war mir das egal.
Ich wickelte meine abgeschnittenen Haare in eine Plastiktüte und entsorgte sie in einem öffentlichen Mülleimer, versteckt unter Fastfood-Verpackungen, dann betrat ich das kleinste und elendste Motel, das ich finden konnte. Alles, was ich wollte, war, zu duschen und zu schlafen. Der Empfang war abgesehen von einem kleinen Fernseher an der Wand leer und natürlich liefen die Nachrichten.
»Der Buschbrand westlich von Canberra, bestehend aus einer Feuerwalze von fünfzig Kilometern Breite und mit einer Höhe von sechzig Metern, hat sich durch den Brindabella Nationalpark gefressen und nichts als Zerstörung zurückgelassen. Laut offiziellen Zahlen gibt es bisher siebzehn Tote, aber da noch Dutzende Personen vermisst werden, gehen Experten davon aus, dass die Opferzahlen noch steigen werden. Ein kürzlich erfolgter Windwechsel hat den Snowy Mountains National Park verschont und der für morgen vorhergesagte Regen wird einiges an Erleichterung bringen. Erst dann werden die Rettungskräfte in der Lage sein, das Gebiet zu betreten, und mit der grausigen Aufgabe beginnen können, die Opfer zu bergen.«
Wenn das Feuer bis zum Snowy Mountains National Park gelangt war, war Antons Hütte mit großer Sicherheit Geschichte. Ich erwartete meinen Namen, Ethan Hosking, unter den Vermissten zu hören, gefolgt von einem aufgebracht tuenden Anton, Canberras einzigem offen schwulen Politiker, der den Verlust seines langjährigen Freundes beklagte… Aber glücklicherweise kam es nicht dazu.
Eine Dame mit hartem, tief gefurchtem Gesicht erschien in der Mitarbeitertür. Sie warf keinen zweiten Blick auf mein blaues Auge. »Was kann ich für dich tun?«
»Ich brauche ein Zimmer.«
»Klar. Das macht vierzig Dollar, egal, ob du eine Stunde oder über Nacht bleibst. Karte oder bar?«
»Ehm. Bar.« Ich zog die gefalteten Scheine aus meiner Tasche und reichte ihr einen Fünfziger.
»Wie ist dein Name, Süßer?«
Mein Name.
Himmel. Wie lautete mein Name? Ethan Hosking lag mir auf der Zunge, aber er war im Grunde genommen tot. Ich beäugte den Fernseher, auf dem die Zahl der Toten auf dem Banner unter dem prasselnden Feuern angezeigt wurde.
Mein nächster Gedanke galt dem einzigen Menschen, für den ich getötet hätte, damit er weiterhin Teil meines Lebens blieb. Mein Großvater. Und irgendwie erschien es mir passend.
»Mein