Skyle. Esther Bertram
es also wirklich, der Winterprinz. Was tat er hier? Eines war offensichtlich: Die Winterrebellen waren zu risikofreudig geworden. Nun zahlten sie den Preis für ihren Leichtmut.
Yamis Schnurrhaare zuckten nervös, als das Gewehrfeuer sich verstärkte. Der Lunar bleckte die langen Säbelzähne. Mit gerunzelter Stirn sah Astral dabei zu, wie eines der Marineschiffe langsam abdriftete. Seine Besatzung war so sehr auf die Rebellen fokussiert, dass sie es zu spät bemerkten. Vielleicht konnten sie auch nichts tun, ihr Ruder schien unverändert nutzlos. Von einer tückischen Strömung erfasst, stellte das Schiff sich vor dem Bug seines Schwesternschiffs beinahe quer. Grimmiger Jubel ertönte aus den Reihen der Rebellen, die ihre Möwengleiter zu immer riskanteren Manövern zwangen. Gewehrschüsse pfiffen als Antwort auf die donnernden Kanonen. Sie konnten einen kleinen Etappensieg erringen, ehe die Hauptflotte sie erreichte.
Astral schüttelte den Kopf und steckte den Stift unverrichteter Dinge wieder ein. Seine Finger waren einfach zu klamm. Er pustete in die behandschuhten Hände, um sie zu wärmen. Wieder einmal war er froh, nicht Partei ergreifen zu müssen. Er wusste, dass beide Seiten unbedingt gewinnen wollten. Wenn die Rebellen es schafften, diese beiden Kriegsschiffe hinab ins Wolkenmeer zu schicken, hätten sie die Atempause erkämpft, die sie so dringend benötigten. Doch auch die Marinesoldaten taten ihr Möglichstes, um ihre Schiffe wieder flottzumachen, während sie die Reihen der Rebellen stetig ausdünnten.
Erneut hob der Blauschwalbenflieger das Fernglas an die Augen. Wieder trudelte eine Möwe abwärts, diesmal von einer Kanonenkugel getroffen. Auf einem Schiffsdeck explodierte eine Handgranate, von einem Rebellen geworfen. Beide, Winterrebellen und Marine, waren fest entschlossen, dem Gegner keine Fingerbreite mehr Raum zu geben. Dieser Kampf würde von nun an noch härter werden.
Astrals Mundwinkel wanderten nach unten. So viele verlorene Leben.
• 2 •
Raven öffnete die Eingangstür der Spelunke und trat in einem Schwall aus stickiger Luft, Grölen und Gelächter auf die Gasse hinaus. Er mochte Orte wie diesen. Sie waren jederzeit laut und voll, und mit der richtigen Anzahl Münzen bekam man nicht nur ein Glas Hochprozentigen, sondern auch Informationen. Er wusste jetzt sicher, dass sich seine Beute in der Stadt aufhielt und heute Abend eine Verabredung in genau dieser Kneipe hatte. Nun musste er nur noch warten.
An der nächsten Hausecke blieb er stehen und zündete sich eine Zigarette an. Von hier aus hatte er die Tür und die Einmündung zur Gasse gut im Blick. Das Gebäude besaß keinen Hinterausgang, wie er zu seiner Zufriedenheit festgestellt hatte. Der Wirt hatte in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit Zechprellern gemacht und deswegen die Tür zum Innenhof fest verrammelt.
Raven rauchte fertig und schnippte den glimmenden Stummel seiner Zigarette in die stinkende Brühe, die in Pfützen auf der Gasse stand. Beim Gähnen entblößte er sein mächtiges Raubtiergebiss. Sein Blick glitt an den Häuserwänden nach oben. Wolkenfetzen jagten über den Himmel und verdeckten den Mond. Die aufziehende Nacht vertrieb die letzten Reste der spätsommerlichen Wärme aus den Straßen von Song Thrush.
Genervt schaute Raven sich um. Er hasste es, zu warten. Er hatte ein Black Board aufgesucht, bevor er hierhergekommen war. Seit dem Morgen hingen die neuen Steckbriefe aus, aber im Grunde war sein Besuch vergeudete Zeit gewesen. Die aktuellen Kopfgeldprämien waren so niedrig, dass sich nur bei zweien oder dreien das Jagen lohnte. Er hatte die Steckbriefe mit seinem Siegel versehen und damit Anspruch auf sie erhoben, weil er wusste, wo sich die Gesuchten befanden. Morgen würde er ihnen einen Besuch abstatten.
Eine Gruppe dunkel gewandeter Gestalten erschien an der Einmündung der Gasse. Sie bewegten sich vorsichtig auf den Kneipeneingang zu und sprachen mit gedämpften Stimmen. Auffällig, viel zu auffällig. Selbst ihre Waffen hielten sie versteckt, was sie viel verdächtiger erschienen ließ, als wenn sie sie offen getragen hätten.
Ravens Hände wanderten zu den Griffen der Loumepistolen an seinem Gürtel. Verdammte Amateure. Er trat zwei Schritte vor und bleckte seine Reißzähne.
Zwei der Gestalten erstarrten bei seinem Anblick. Die anderen drei blieben irritiert stehen, bis sie ihn ebenfalls entdeckt hatten.
Raven schlenderte auf die Gruppe zu. Die Headhunter wichen einige Schritte zurück.
»Ihr jagt in meinem Revier«, stellte er fest und wog die Loumepistolen in seinen Händen.
Der Mann, der ihm am nächsten war, schluckte hörbar. Sein Blick wanderte von den Pistolen über Ravens eisblaues Haar zu seinen blutroten Augen.
»Du … du bist Raven, nicht wahr?«
»Richtig.«
Wieder schluckte der Mann. Der stechende Geruch seiner Angst schlug Raven selbst über den Gestank der Gosse hinweg entgegen.
»Wir wussten nicht, dass du hier jagst. Wir … Song Thrush gehört zu unserem Gebiet, deshalb …« Der Mann brach ab.
»Heute Nacht gehört Song Thrush mir«, entgegnete Raven kalt.
Der Mann nickte heftig. »Natürlich! Wir werden dir nicht in die Quere kommen«, beteuerte er.
Raven hob demonstrativ eine seiner geliebten Loumepistolen hoch. »Das ist eine weise Entscheidung.«
Aus der Querstraße erklang ein gedämpfter Fluch, gleich darauf die Geräusche von Stiefeln, die auf die Pflastersteine hämmerten. Das Warten hatte ein Ende. Raven schritt an den fünf Männern vorbei, die weiter vor ihm zurückwichen. Der Mond schien für einen Moment zwischen den Wolken hervor. Sein Licht glänzte auf Ravens Haar, verfing sich in seinen klimpernden Ohrringen und verwandelte sein Gesicht in eine reißzahnbewehrte Fratze. Die Jagd hatte begonnen.
• 3 •
Das Klirren der Fensterscheiben ließ ihn hochschrecken. Unten auf der Straße rumpelte eine Panzerkolonne vorbei, ihre eisernen Gleisketten knirschten gefährlich auf den Pflastersteinen. Verwirrt blickte Wolf sich um. Die Öllampe neben ihm war verloschen. Das Zwielicht des frühen Morgens erfüllte sein Zimmer, wo er die ganze Nacht über den Berechnungen für den Rumpf des neuen Schiffes gebrütet hatte. Er sah sich seine vollgekritzelten, mit Tinte verschmierten Notizen an. Wie immer würde er der Einzige sein, der sie entziffern konnte. Ihm war es egal, solange die Zeichnungen und Zahlen stimmten.
Gähnend streckte Wolf sich auf dem harten Holzstuhl und rieb sich müde die Augen. Es war zu spät, um noch etwas Neues anzufangen. Am besten, er machte sich auf den Weg zur Werft. So hätte er genug Zeit, um bei den Werkstätten im Tiegel vorbeizuschauen.
Die Aussicht darauf, das Schiff bald fertiggebaut zu haben, entlockte Wolf ein fröhliches Lächeln. Gut gelaunt sammelte er aus der verstreuten Kleidung in seinem Zimmer halbwegs frische zusammen und zog sich um. Er warf einen prüfenden Blick auf eine Strähne seines langen Haares, ehe er es im Nacken zu einem losen Zopf zusammenfasste. Das Braungrau würde nicht mehr lange so dunkel bleiben, an einigen Stellen sah man bereits das natürliche Sonnengelb durchscheinen. Er würde es bald nachfärben müssen.
Gedankenverloren ging er in die Küche und suchte nach der Kaffeedose. Sie war leer. Nach einem Frühstück brauchte er gar nicht erst zu schauen, er war seit Tagen nicht mehr einkaufen gewesen. Zurück in seinem Arbeitszimmer sammelte er seine Papiere und sein Werkzeug zusammen. Wenige Minuten später verließ er die Wohnung.
Die schmale Stiege, die zum Hof hinunterführte, knarzte vertraut. Wolf durchquerte den kleinen Innenhof und trat durch die Durchfahrt auf die Straße. Die Straßenlaterne davor flackerte und verlosch mit einem leisen Zischen, als er sich auf den Weg durch die noch schlafende Stadt machte. Gerade verfärbte sich der Himmel über den schieferblauen Dächern rosa und gelb, doch hier unten war es noch dunkel und still. Die Dämmerung hielt sich lange zwischen den Häusern.
Während er durch die Straßen lief, erwachte die Stadt allmählich zum Leben.
»Guten Morgen«, begrüßte ihn die Bäckerin fröhlich, als er ihren Laden betrat.
»Guten Morgen«, erwiderte Wolf lächelnd.
»Was darf es sein?«